Die Realität ist nur eine umgekehrte Funktion der Fiktion

Valeria Luiselli sucht in ihrem Roman „Die Schwerelosen“ einen dritten Zustand

Von Matthias HennigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Hennig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Romane sind nur schwer verdaulich; sei es, weil Sprache und Duktus so umständlich sind, dass sie die Gedankengänge, die sie transportieren, ihr Verständnis eher verstellen als ermöglichen, sei es weil ihr Inhalt mangels Plausibilität zu verstörend, abstrus oder vertrackt ist. Auch Valeria Luisellis „Die Schwerelosen“ könnte man vorhalten, dass die verschiedenen Geschichten, die in dem Roman erzählt werden, nicht ausreichend in sich geschlossen, rund oder transparent genug sind. Dennoch ist es eine große Stärke des Romans, dass seine Satzfolgen so flüchtig, leicht und locker ineinander komponiert sind, dass sie ohne große Widerstände die Hirnschwelle passieren können, um von der Fantasie aufgesogen zu werden.

Auf einer vordergründigen, ersten Plot-Ebene führt der Roman zwei Geschichten gegeneinander ins literarische Feld: zum einen die einer anonymen Erzählerin, die ein Buch über den mexikanischen Dichter Gilberto Owen (1904-1952) schreibt und mit ihrem Mann nebst zwei Kindern in Mexiko lebt. Zum anderen diejenige Gilberto Owens, der aus seiner eigenen Perspektive sein Leben in den USA Revue passieren lässt. Doch das wäre weniger als die halbe Wahrheit.

Denn die Erzählerin, die zugleich Autorin ist, spiegelt ihre Familiengeschichte (Erzählzeit im Roman: Präsens) in der Geschichte ihres vorherigen nomadisierenden Lebens in New York (Erzählzeit im Roman: Vergangenheit), in der sie die Mitarbeiterin eines kleinen Verlages war, der sich um die Vermittlung lateinamerikanischer Literatur in den USA bemüht. Und auch Gilberto Owens Autobiografie kehrt von seinem Lebensende aus (biografisch sind wir im Philadelphia der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts), immer wieder ins New York der 20er-Jahre zurück.

Die beiden Haupterzählstränge (junge Frau schreibt Roman über Gilberto Owen; Owen referiert sein eigenes Leben) haben also einen je doppelten Zeit- und Raumindex, indem sie immer durch eine kleine Brechung oder Verschiebung hindurch erzählt sind. Dies ist kein bloßes Spiel, sondern ein elementares Konstruktionsprinzip. Denn zwischen den verschiedenen doppelten Raumzeiten pendelt Luisellis Roman regelmäßig hin und her; das sprunghafte Erzählen bildet dabei das narrative Grundmuster des Romans. Der Plot wird nicht von A nach Z zu Ende erzählt, sondern nach und nach mit kurzen Episoden angereichert, die wie Schnappschüsse einzelne Szenen blitzartig beleuchten. Die Erzähleinheiten bestehen dabei oft aus nur wenigen Sätzen; manche haben Kolumnenlänge; selten gehen sie über zwei bis drei Seiten hinaus. Diese zunächst zufällig aneinander gereiht scheinenden episodischen Erzähleinheiten oder Mikronarrationen verbinden sich nach und nach zu einer motivisch und inhaltlich eng miteinander verflochtenen Textur.

Die erzählerische Matrix des Romans ließe sich mit einem Filmstreifen vergleichen: in den Zwischenräumen bleibt das Ungesagte und Unbelichtete, die schwarzen Streifen, die die einzelnen Bilder trennen und verbinden sowie die Löcher am Rand (der Filmstreifen), die mit ihrer rhythmischen Rasterung eine serielle Kontinuität der Mikronarrationen, Szenen und Bilder suggerieren. Die Zwischenräume und Löcher sind im Druckbild des Romans mit den nahezu jede Seite zierenden Sternchen und Weißräumen markiert, die Umschaltpunkte zwischen den einzelnen Episoden darstellen. Luisellis Prosa ist um die Lücken herum organisiert, die sie im schnellen Vorbeischreiben lässt. Die narrative Komposition ist auf flüchtige Sätze ausgelegt, die oft nicht ganz bei sich zu Hause zu sein scheinen, vielmehr ihre eigene Geschichte bloß durchstreifen, indem sie kurze Momente evozieren und benennen und zugleich bewusst einen Spielraum für das Ungesagte und Ungenaue lassen. Diese Lücken oder blinden Flecken muss der Leser in seiner Fantasie ergänzen und überbrücken. Wenn Schreiben, Literatur eine systematische Unterbrechung der Realität ist – dann ist Luisellis Roman ein literarisches Rein-Raus-Spiel, das permanent zwischen verschiedenen Fiktions-, Realitäts- und Erzählebenen rotiert. Er bezieht dabei keine eindeutige Position, vielmehr wechselt er ständig Räume, Seiten und Zeiten.

So wie der Mann der Erzählerin heimlich den im Entstehen begriffenen Roman liest und dessen Realitätsgehalt infrage stellt, erweitert und durchkreuzt jedes Schreiben das bereits Geschriebene. Die Wirklichkeit tritt nicht unverstellt in die Sprache; sie kann nur durch etwas anderes hindurch erzählt werden (das können auch Vergangenheit oder Gegenwart sein), das sie im selben Atemzug bekräftigt und fantasmatisch aufhebt. Der Text ist nicht etwas Fertiges und Abgeschlossenes, sondern etwas, das im Entstehen begriffen ist, sich ereignet, in die Wirklichkeit eingreift. Es ist ein unfertiger Essay über das Verfassen und Lesen von Romanen, Drehbüchern (der Mann arbeitet seinerseits an einem Filmskript) und Texten, der sich bewusst in eine offene Konfiguration hineinschreibt. Auf Inhaltsebene wird dies in den ständigen Wohnungs- und Beziehungswechseln der Erzählerin sowie in den sich verändernden Figurenkonstellationen deutlich – was vor allem die zahlreichen New York-Episoden prägt.

Dass Luisellis Roman wie ein Filmstreifen, oder besser: wie mehrere sich überlagernde Filmstreifen erzählt ist, wird auch an einem wiederkehrenden Bildkomplex des Romans aufgegriffen, nämlich der New-Yorker U-Bahn, in deren erleuchteten Fenstern Figuren als kurze Epiphanien auftauchen und im Vorbeifahren wieder verschwinden. Luisellis Roman ist nicht nur ein Großstadt-, sondern auch ein Metro-Roman, dessen eigene szenografische Mikronarration sich wiederum als poetische Allegorie des Textes inszeniert: „Die Metro mit ihren vielen Haltestellen, ihren Havarien, den plötzlichen Beschleunigungen, ihren dunklen Zonen könnte in jenem anderen Roman als Zeitschema dienen.“ – Nur dass mit jenem anderen Roman eben genau dieser Roman gemeint ist, den man gerade in den Händen hält und liest. Die Metro bahnt sich einen Tunnel in die Zeit und den porösen Untergrund der Geschichte. In ihrem künstlichen Zwielicht taucht die Epiphanie Gilberto Owens auf, hier fängt die literarische Fantasmagorie an, auf unwirkliche Weise wirklich zu werden. Aber nicht nur die Erzählerin begegnet dem längst verstorbenen Autor in der Halbwelt der Metro, auch Owen sieht in einem parallel fahrenden Züge die Autorin – in einer vorausgreifenden Erinnerung an die Zukunft.

Wenn die Erzählerin des Buches durch ihr Romanprojekt aus der historischen Person Gilberto Owens eine literarische Figur zu konstruieren versucht, so revanchiert sich Gilberto Owen damit, dass er die Autorin des Buches seinerseits entdeckt ,erfindet‘ und auf diese Weise nur zu einem weiteren Spielball des Geschriebenen macht. Je weiter sich die Erzählerin in den Kosmos Owens hineinbegibt, um so mehr wird sie von ihm ergriffen und besessen, um so mehr schreibt die Vergangenheit, schreiben die literarischen Fantasmagorien und Gespenster ,zurück‘. Der erzählerische Kosmos beginnt sich dadurch umzustülpen und erscheint plötzlich aus der Perspektive Gilberto Owens. Das Beschreiben konstruiert das Beschriebene so wie der Umweg des Schreibens überhaupt erst die Figur des Erzählers, das scheinbar ungreifbare Phantasma des Autors hervorbringen kann.

Literatur entsteht dabei nicht wie bei Borges als ein gelenkter Traum, sondern eher als Epiphanie, Fantasmagorie, Gespensterkunde – als abgewandeltes Ghostwriting. Diese Gespensterkunde hat nichts mit althergebrachtem Horror oder Schrecken zu sind. Gespenster sind nach luisellischer Definition vielmehr alle literarischen Figuren, die – einmal erfunden – nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind. Luisellis Text handelt von diesen titelgebenden schwerelosen Gestalten der Fantasie, den „Ingrávidos“, die den literarischen Kosmos der Imagination bevölkern und symbolische Schnittstellen oder Kippfiguren zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Toten und Lebenden darstellen.

Aber umgekehrt wird auch der Realitätsstatus der Autorin prekär, gewinnt etwas Rollen- und Gespensterhaftes, kann sie doch mit dem toten Owen nur durch das Buch, das sie schreibt, Kontakt aufnehmen, erst durch das Medium der Sprache hindurch auf eine gemeinsame Wirklichkeitsebene mit ihm treten. Denn schwerelos sind nicht nur die literarischen Figuren, die Gespenster; schwerelos und fluide sind auch die Wörter, die sie evozieren, deren atmosphärische Prägnanz und Dichte gerade von ihrer kompositorischen Feinstofflichkeit getragen wird.

Luisellis Roman ist ein Roman der Spiegelungen und Reflexionen, der literarischen Mimikry, die Ähnlichkeiten und Echos nachhorcht. Sein Thema an der Oberfläche des Erzählten ist der literarische und ideelle Grenzverkehr zwischen den USA und Lateinamerika, die Übersetzung von einem Sprachsystem ins andere. Untergründig wird er noch viel stärker von der Vorstellung einer prinzipiellen Übersetz- und Austauschbarkeit verschiedener Realitäts- und Aussagesysteme beziehungsweise Fiktionsebenen getragen, die sich zwar schnell verwandeln können, gleichwohl nicht aufeinander reduzierbar sind. Er entfaltet eine Poetik der Unbeständigkeit und der Rastlosigkeit, der Unschärfe und der Durchlässigkeit, deren poröses literarisches Universum sich nicht nur literarisch artikuliert, sondern auch – um Lars Gustafsson zu Rate zu ziehen – erkenntnistheoretisch verstanden wissen will. „Sich im porösen Raum befinden, das war in gewisser Weise genauso, als sei man in einer Fiktion eingeschlossen und zugleich ihr Herr. Ich […] war der Dichter und zugleich eine erdichtete Figur in meiner eigenen Dichtung.“[1]

Luiselli treibt dieses von Gustafsson angedachte Spiel der Vertauschung von Autor und Figur noch weiter: die Fiktion erscheint nur als eine Übersetzung der Realität und umgekehrt; die Endgültigkeit implizierende Frage nach der einen ,Identität‘ oder ,Wahrheit‘ ist damit in der Spiegel- und Scheinwelt, in der dritten Dimension der ,Gespenster‘-Literatur aufgehoben.

Vergangenheit und Gegenwart, Fiktion und Wirklichkeit, Materielles und Fantasmatisches, Innen und Außen (die Fensterblicke im Roman!), Oben (Großstadt) und Unten (Metro) sind daher in den „Schwerelosen“ wie in einer Möbius’schen Schleife untrennbar miteinander verbunden, sie sind jeweils nur Um- und Ausstülpungen des jeweils Anderen – je nachdem, von welcher Seite man sie in Augenschein nimmt. Luiselli macht aus diesem Prinzip des sprunghaften Um- und Ausstülpens verschiedener literarischer Zeiten und Räume aber kein philosophisches Traktat, sondern ein kunstvolles und leichtes Spiel, dem kaum eine Spur Anstrengung mehr anzumerken ist. Spannend bleibt auf jeden Fall zu sehen, welchen Weg die Autorin in Zukunft einschlagen wird.

[1] Lars Gustafsson: Das seltsame Tier aus dem Norden, München: Hanser, 1989, S. 55.

Titelbild

Valeria Luiselli: Die Schwerelosen. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Verlag Antje Kunstmann, München 2013.
190 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783888978197

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