Hellsichtige Zeitzeugenschaft

„Der Mann, der sich selbst besuchte“: Hans Sahls Erzählungen und Glossen als Abschluss der Werkausgabe

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berlin 1926: Im Künstlerlokal „Schwannecke“ erweisen Persönlichkeiten wie Leonhard Frank oder Egon Erwin Kisch einem 24-jährigen Nachwuchskritiker ihre Reverenz. Der Name des Gefeierten ist Hans Sahl, der Anlass seine Glossenserie „Klassiker der Leihbibliothek“ – eine Tiefenbohrung in die Abgründe des Lesemarktes, zu jenen millionenfach gelesenen Bestsellern rechter Autoren, über die damals niemand gerne spricht. Hellsichtig erkennt der aus großbürgerlich-jüdischem Elternhaus Stammende in diesen frühen Blut- und Boden-Romanen die Vorboten kommenden Unheils.

Wie Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer diente auch dem jungen Hans Sahl das Medium der Kritik als Seismograf für den schwankenden Untergrund der neuen Demokratie. „Klassiker der Leihbibliothek“ ist der umfangreichste Text in einer neuen Sammlung seiner Erzählungen und Glossen aus sechs Jahrzehnten literarischer Zeitzeugenschaft. Schon der Autor selbst hat in seinen späten Sammlungen wie „Der Tod des Akrobaten“ seine fiktive Prosa mit jenen seiner journalistischen Arbeiten kombiniert, die einen erzählerischen Kern aufweisen.

So mancher wird freilich in dem von Nils Kern und Klaus Siblewski besorgten Abschlussband der vierbändigen Werkausgabe eine ergänzende Auswahl von Sahls Buchbesprechungen vermissen: Immerhin entdeckte Sahl als einer der ersten in den zwanziger Jahren Franz Kafka, Anna Seghers oder Ernest Hemingway. Und seine Filmkritiken waren, frei nach Siegfried Kracauer, ‚Attentate gegen die Gemütsruhe des bürgerlichen Lesers‘. An der marxistischen Gesellschaftstheorie geschult, erschienen sie ausgerechnet im Berliner Börsen-Courier. Erst 1937 im Pariser Exil kam es zum Bruch mit den Genossen und zu Sahls geistiger wie moralischer Unabhängigkeitserklärung. Der stalintreue „rasende Reporter“ Kisch beschimpfte ihn daraufhin als „Wahrheitsfanatiker“ – dabei war Sahl gerade der Glaube an die „eine“ Wahrheit hochverdächtig geworden, er sei „allergisch geworden gegen Alternativen, die keine sind“, heißt es in einem seiner Essays.

Beeindruckend ist die Zeitlosigkeit von Sahls Sprache. Selbst seine frühe Prosa erscheint dem heutigen Leser schlackenlos und frei von Patina. Geschult an Brecht, bedient sie sich gern der Mittel von Satire, Groteske und illusionsdurchbrechender Verfremdung. Fast alle frühen Erzählungen künden von der Gewalt, die jederzeit auch aus noch so zivilisierten Verhältnissen hervorbrechen kann. In Sahls Prosa aus den Exil-Jahren dominieren dagegen Fragen der Identität und Kommunikation. In der Titelgeschichte aus dem Jahr 1964 will sich ein Herr P. selbst besuchen – nur um prompt in der eigenen Wohnung von einem unbekannten Besucher nach dem abwesenden Herrn P. befragt zu werden. Nach seiner Flucht vor den Nazis 1941 über den Atlantik lebte Hans Sahl in New York; eine Rückkehr kam für ihn lange Zeit nicht in Frage.

Sahl sollte besser als viele andere Emigranten in den USA zurechtkommen: Mit seinen journalistischen Arbeiten konnte er sich über Wasser halten, während er seine große Exil-Lyrik ohne Verbitterung nur noch für die Schublade schrieb. Auch sein 1953 erschienener Roman „Die Wenigen und die Vielen“, nach einem Urteil Fritz Martinis der „Roman des Exils überhaupt“, geriet bald wieder in Vergessenheit.

Als Kulturjournalist aber kam Sahl sein anti-elitäres Kunstverständnis zugute: Mit seiner Faszination für den Film und die amerikanische Populärkultur wurde Sahl in den fünfziger und sechziger Jahren zu einem wichtigen Korrespondenten aus Übersee. In seinen Glossen für deutsche Zeitungen berichtete er über eine Theaterkommune für Millionäre in New York oder über die Premiere des ersten Riech-Films der Kinogeschichte am Times Square. Und beschrieb sich selbst als „exterritorialen Menschen“, als „Reisender zwischen Abfahrtszeiten“, der nicht mehr ohne das Gefühl, „nicht ganz zu Hause zu sein“, leben könne. Erst 1989, vier Jahre vor seinem Tod und endlich berühmt, kehrte Hans Sahl nach Deutschland zurück – und hoffte nach der Wiedervereinigung auf eine neue Stunde null: jenen historischen Augenblick, „in dem keine neue Ideologie darauf wartet, ausprobiert zu werden“.

Titelbild

Hans Sahl: Der Mann, der sich selbst besuchte. Die Erzählungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
416 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630872933

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