Wohltuend anachronistische Biografie

Über Masha Gessens Buch „Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman“

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Typus des geisteskranken Mathematikers“, schreibt David Foster Wallace in seiner Darstellung Georg Cantors, „scheint in gewisser Weise das zu sein, was der fahrende Ritter, der verstorbene Heilige, der gequälte Künstler und der verrückte Wissenschaftler für andere Epochen gewesen sind: so etwas wie unser Prometheus, der sich an verbotene Orte begibt und mit Gaben zurückkehrt, die wir alle brauchen können, während er allein dafür bezahlt.“ Wenn dies der Mythos ist, dann ist Perelman wohl der Übermythos: erdichteter jedenfalls kann es wohl nicht mehr zugehen.

Grigori Perelman hat im Jahre 2002 in Form einiger unprätentiös daherkommender Paper Poincarés Vermutung bewiesen und damit eines der berühmt-berüchtigten sieben Rätsel der Mathematik gelöst, welche im Jahre 2000 vom Clay Institut verlautbart und mit einem Preisgeld von jeweils einer Million US-Dollar dotiert wurden: Über Nacht wird aus dem zurückgezogen agierenden Mathematiker eine Art Genie, obgleich oder weil ja kaum jemand begreift, was da überhaupt passiert ist.

Anti-Pop

Drei Jahre lang prüfen Kollegen den Beweis, und wie immer geht dies nicht ohne Querellen vor sich, doch 2006 dann wird Perelman die Fields-Medaille zugesprochen, der Nobelpreis der Mathematik, was man als offizielle Anerkennung des Beweis werten kann. Perelman wiederum lehnt ohne Begründung ab und verzichtet auch auf das ausgeschriebene Preisgeld. Kurz darauf kündigt er sein altes Leben und zieht ins Haus seiner Mutter zurück, wo er seitdem lebt und sich ostentativ aus allem heraushält.

Doch der Mythos um den bockigen Perelman wächst in eben dem Maße, in welchem dieser die Mechanismen der Öffentlichkeitsarbeit bewusst meidet und durchbricht: Er habe, so erklärte er einer Reporterin, nichts zu berichten – was natürlich berichtet wird. Im Internet geistern wacklige, letztlich einfach nur beschämende Filmaufnahmen eines Perelman, der ein wenig heruntergekommen aussehend vor den Reportern in einen Supermarkt flieht und sich dort an der Kasse – verrechnet. T-Shirts mit einem Aufdruck seines einprägsamen Gesichtes gibt es auch schon: Perelman ist Pop, eben weil er – Ironie! – so Anti-Pop ist.

Kein Held, eine Heldin

Und damit lohnendes Objekt eines biografischen Versuches, wie auch riskantes, da die Leere, die Perelman um sich aufschüttet, schwache Geister dazu verführen kann, das Nichts mit Spekulationen und Fantastereien zu füllen: Die Null-Information ist immerhin tödlich für ein biografisches Vorhaben und nichts wäre einfacher und auch verständlicher, als den Versuch der Empathie zu wagen. Dies vor allem in einer Zeit, in welcher derart angelegte Biografien der Weisheit letzter Schluss zu sein scheinen: Man denke etwa an Reiner Stachs durchweg misslungenem Versuch, das Genietum (ohja!) Kafkas zu wiederholen, ja, Kafka zu sein. Was natürlich nicht funktionieren kann.

Masha Gessen, die zuvor mit einer Putin-Biografie für einiges Aufsehen sorgte und sich nun einer weiteren Leerstelle im russischen Betrieb angenommen hat, vermeidet glücklicherweise diesen Königsweg der empathischen Auffüllung enervierender Leerstellen und Lücken. Stattdessen geht sie wohltuend klassisch, ganz im Sinne altmodischer Biografik vor: Sie befragt Kollegen, Freunde, Mitschüler, sie beschäftigt sich mit der Geschichte der russischen Mathematik, ihrer Stellung in der Gesellschaft unter Stalin beispielsweise, ihrer Didaktik und ihrer Motive. Und schreibt auf diese Weise eine Biografie um den Helden herum, kreist ihn in immer enger werdenden Bewegungen gleich einem Planeten ein, ohne der Gefahr zu erliegen, ins Massezentrum zu stürzen.

Natürlich, die Poincaré-Vermutung versteht man auch nach der Lektüre nicht und auch Perelman ist man kaum einen Schritt näher gekommen, aber man erhält mannigfaltige Informationen über Mathematik und Ausbildung der mit ihr (gegen sie?) Kämpfenden. Über die Arbeit des forschenden Mathematikers erfährt man mehr in der zur ergänzenden Lektüre empfohlenen Darstellung „Das lebendige Theorem“ von Cédric Villani, dem Fields-Preisträger 2010: Villani gibt, nicht uneitel, die Informationen, die Perelman für sich bewahrt, nämlich wie diese kreative Denkarbeit in Form von Assoziationen, Netzwerken und Entspannungstechniken vor sich geht.

Titelbild

Masha Gessen: Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigorij Perelman.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
300 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423707

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