Wenn es nicht mehr wichtig ist

Carlos María Domínguez’ Roman „Der verlorene Freund“

Von Holger WackerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Wacker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, lernt in Montevideo den Notar Waldemar Hansen kennen. Die Männer treffen sich an Donnerstagen in Hansens Wohnung, unterhalten sich über Themen wie Malerei, Musik, trinken Alkohol, hören Jazz. Überraschend stürzt sich Hansen an einem Donnerstag aus dem Fenster und stirbt kurz darauf im Krankenhaus.

Der Erzähler will die Hintergründe der Tat aufklären. Er kontaktiert Familienmitglieder Hansens, die Tochter Eva in Italien und die Schwester Wanda. Eva gibt ihm den Computer des Vaters mit, auf dem er wenig brauchbares Material findet. Eine ehemalige Geliebte Hansens liefert dem Erzähler eine Spur in das alte Bergwerksdorf Minas de Corrales. Dort hatte Hansen ein Kreuz von einem Grab gestohlen, es über seinen Kamin gehängt und später wieder zurückgebracht, war von der Polizei verhaftet und verhört worden. Dieses Verhör hatte, so erfährt der Erzähler von Wanda, Erinnerungen an ein Jugenderlebnis Hansens wachgerufen, die schließlich zu seinem Suizid führten.

Folgen wir diesem Kurzinhalt, ist „Der verlorene Freund“ eine Detektivgeschichte, in der es darum geht, das Motiv für eine Tat herauszufinden. Damit wäre die Genrezuweisung erledigt und der Angabe hinzugefügt, das Buch, ein Kammerstück mit einer Handvoll wichtiger Figuren, rund 160 großzügig bedruckte Seiten, sei ein Roman.

A Tale of Two Men: Der Erzähler und Waldemar Hansen lernen sich in der Kanzlei eines Scheidungsanwaltes kennen. Danach treffen sie sich mehr oder weniger regelmäßig, immer aber bei Hansen, der beim Physiotherapeuten des Erzählers um die Ecke wohnt, und immer am Donnerstag, dem Wochentag, an dem sich Hansen schließlich aus dem Fenster fallen lässt. Eingeführt als „Er“, abgeleitet von seinem deutschen Großvater, der als Kosmopolit vorgestellt wird und überall auf der Welt an Großprojekten mitgewirkt hat, vielleicht aus Abenteuerlust, aber immerhin: als friedlicher Deutscher. Als der Name dieses Enkels genannt wird, erfahren wir zugleich, dass Hansen notgedrungen oder aus Schwäche Notar wurde. Wird der Erzähler zum Detektiv, weil er Waldemar Hansen besser verstehen will, aus einer Irritation heraus, oder weil er nichts Besseres zu tun hat? Jede Erklärung scheint so gut wie eine andere.

Von Juan Carlos Onetti („La vida breve“) wissen wir, dass das Leben kurz ist. Domínguez transformiert Onettis Titel in „La breve muerte…“, stellt fest, dass das Leben dumm ist, und liefert einige Belege dafür. Umso wichtiger ist es, dem Leben Struktur, Ordnung und darüber Sinn zu geben. Dies macht Domínguez, indem er in erheblicher Häufung Zahlenangaben, Gegensatzpaare (links-rechts, jung-alt, tot-lebendig) und Abbildungen (Person-Spiegel, Bewusstsein-Festplatte) verwendet. Damit konstruiert er eine Welt, die seine Figuren an der Oberfläche als „glänzend“ und, implizit über charakteristische Eigenschaften, wohldefiniert wahrnehmen können. Darunter jedoch ist diese Welt nur „gewöhnlich“ und mit Geschwüren durchsetzt.

Für die Vermessung eines menschlichen Lebens liefert Domínguez reichlich Informationen: „Unter einer feinen Linie schienen sich Voluten zu sammeln, seitlich einer Achse, die zur Basis hin breiter wurde und dann abbrach.“ Oder: „Der Stock wiederholte senkrecht neben dem Sessel die gerade Linie von ihrem Rücken, Hals und Willen.“ Diese Informationen stehen gegen die Inhalte der direkten Kommunikation, die verhandelbar sind. Man spricht über Themen und glaubt, einander näher zu kommen. Gegen Ende des Textes wird der Erzähler sagen: „Ja, obwohl wir nach seinem Tod noch bessere Freunde wurden.“

Domínguez erzeugt einen den gesamten Text oder das gesamte Leben übergreifenden Spannungsbogen. In der Phase als Baby und im Alter funktioniert der Schließmuskel nicht. In der Zeit dazwischen gibt es Beziehungen, deren Möglichkeit gebunden ist an „Worte und Erektionen“.

Für den Großvater und den Vater und Waldemar Hansen gab es als Ziel nicht die große Liebe, die Frau fürs Leben. Frauen waren bei ihnen immer nur Zwischenstationen auf dem Weg in den Tod. Der Weg war nie das Ziel, sondern beschrieb den Pfad des Alterns. Ein Mann lässt sich auf eine Beziehung mit einer Frau ein, verlässt die Frau bald darauf für eine mit zwei Kindern, die ihn bald darauf verlässt für einen anderen Mann, während der erste Mann zurück zur ersten Frau geht oder zu einer anderen. So oder ähnlich sieht es im Beziehungsfeld zwischen Mann und Frau bei Domínguez aus. Was am Ende bleibt, ist, außer dem Tod, die Einsicht in die Unmöglichkeit der Nähe.

Titelbild

Carlos Maria Dominguez: Der verlorene Freund. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Susanne Lange.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
166 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423615

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