Ins Buch geflucht

Andrzej Stasiuk inszeniert sich als verlorener Sohn, der nicht nur seinen Landsleuten die Leviten ins Tagebuch schreibt

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum er die ganze Zeit fährt, sich von Ort zu Ort bewegt, bestimmte Städte und Länder immer wieder aufsucht, weiß er nicht. „Und wozu kommst du hierher? Zum Vergnügen? Weil es so schön ist? Wegen der Exotik?“ – „Ich weiß selbst nicht, wozu ich hergekommen bin.“

Die Schönheit, die Exotik, das ist es nicht unbedingt; überall eher Zerfallendes, Zerstörtes, „Saustall total“. Alles, was er sieht, hört, riecht et cetera, das gibt es auch andernorts. Doch an den Orten, an denen er gerne ist, in Albanien, Serbien, Montenegro, Mazedonien oder Rumänien, da sei es „potenziert“. Potenz des Ostens, fernab des übersättigten Westens – manchmal jedoch bloß vorgespielt: verspiegelte Sonnenbrillen, kahlköpfige gigantische Mutanten mit Goldkettchen, aufgemotzte Karossen, Pluderhosen, MG-Salven als Handy-Klingeltöne. Nichts dahinter. War er deshalb hergekommen?

„Wieder beschlich mich das Gefühl, ich triebe mich seit Jahren ohne Plan und Idee einfach so durch die Welt. Ich hatte einen Kater und mir war heiß. […] Ich trieb mich herum in der Hoffnung, Idee und Plan würden sich auf ganz natürliche Weise ergeben. Der Sinn würde sich am Ende offenbaren, weil ein Sinn existiert. Deshalb ging ich jedes Jahr auf Reisen, immer weiter und weiter. Bis ans Ende des Kontinents, damit mir nichts anderes mehr übrigbleibt, als umzukehren.“ Existiert also doch kein Sinn? Doch keine Potenz? Löst kein Finden das ewige Suchen ab? Muss der Reisende mit jedem neuen Buch immer weiter ins Auto steigen und ruhelos umherfahren?

Am Ende dieser Reise, bei ihrer Rekonstruktion am Schreibtisch verschwimmt nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit. Das „danach“ geschriebene Tagebuch kann die Tage nicht mehr genau rekonstruieren, das Lesen verliert sich im Dschungel der ungefähren Zeitangaben: „zwei Tage später“, „vor einem Jahr“, „drei Tage später“, „sieben Monate zuvor“, „vor einem Jahr“, „zwei Jahre später“, „sieben Monate später“,  „eines Winters“, „sieben Monate zuvor“,  „zehn Tage später“ – was wo wann war, keine Ahnung, ist vielleicht auch egal.

Der Schriftsteller hat generell ein Problem mit der Zeit. Sie bedroht die Orte in ihrem Bestand, und der Schriftsteller kommt nicht nach, den Ostortsbestand, bevor er verfällt, wenigstens aufs Papier zu bannen, ins Buch, in die Bibliothek zu retten. „Alles dort ist zerbrechlich. Es kann jeden Augenblick zerfallen. Denn selbst wenn kein Krieg ist, keine erneute Teilung, keine Abspaltung, keine neue Freiheit und Unabhängigkeit, dann ist da doch die Zeit, die Paranoia der Veränderungen und der Wahn, es möge so sein wie überall – sie legen Dynamit und jagen ihre ganze Vergangenheit und Gegenwart in die Luft.“

Wie die Westler in Stasiuks Textuniversum haben auch die Ost-Stiernackenmutanten keinen Sinn für Überlieferung und das womöglich Bewahrenswerte des Bestehenden. Sie sind ebenso gedankenlose Zerstörer. „Die Vergangenheit, ein Fluch für alle Zeiten, vor der alle flohen“. Die Veränderung kann ihnen gar nicht schnell genug gehen. Waren die Väter noch einfache Bauern und Hirten, die auf Eseln ritten und barfuß durch den Sand wateten, fährt die neue Generation in ihren aus Deutschland importierten schwarzen Zuhälterschlitten rasend ins Nichts. Der in Armut aufgewachsene Dichter kommt da nicht mehr mit, fühlt sich wie Homer: als ein Blinder. „Das Volk war bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse gnadenlos“: statt des (vielbeschworenen) Ostgraus endlich Glitzertand, Stöckelschuhe, Tätowierungen und fette deutsche Killer-Karossen. „Die Welt sollte eine Verheißung sein.“ Der sehende Tagebuchschreiber fügt an: „Die übrigens nie in Erfüllung gehen würde.“ Resignation des Sehers – und verlorenen Sohns. „Was würde bleiben? dachte ich auf dieser meditativen Reise durchs Vaterland wie der verlorene Sohn, der kleinlaut aus der Ferne zurückkehrt. Was? Nichts.“

Die Veränderung, die den West/Ost-Unterschied zu kassieren und alles gleich zu machen, zu nichten droht, ist das Schlimmste, was dem dichtenden Topografen passieren kann: „Ich wünschte an Orte zurückzukehren, die unverändert waren. Alles sollte wie erstarrt auf mich warten.“

Dieser Wunsch ist jedoch nicht nur der Aufgabe des fahrenden Archivars, Chronisten, Archäologen geschuldet, sondern auch der Suche nach der eigenen verlorenen Zeit. „Ich wollte zurück zu meinen ersten Gefühlen, so wie man auf seine erste Liebe zurückkommt.“ Es ist die Suche nach Orten, die sich nicht verändern, wo etwas, das einmal war und in Erinnerung geblieben ist, wieder aufgefunden werden kann, immer; und für immer. Diese Suche nach Dauer, nach einem Stück Ewigkeit ist allerdings hoffnungslos. „Gelungen ist mir das nie“. Doch das ist egal: „versucht habe ich es immer.“ Daher werden dieselben Orte stur wieder aufgesucht. „Ich fuhr das vierte Mal in Richtung Albanien. Ich gab nicht auf.“ – eines Unbelehrbaren unendliches Reisen, dessen Sinn letztlich darin zu bestehen scheint, bestimmte Szenen, Orte, Bilder wiederzufinden, um sie endlich in Ruhe wiedersehen, beschreiben und überliefern zu können.

Diesem Sinn steht jedoch die Zeit entgegen. Kontemplativer Lebensstil und die „Neigung zu beobachten […] waren ein Dorn im Auge der Zukunft, die da heraufzog und sowohl Vergangenheit wie Gegenwart gründlich wegbrennen sollte.“ Dem Sinn stehen die dicken Schlitten entgegen, die infernalisch hupen, sobald der verlorene Sohn auch nur ein wenig seine Geschwindigkeit verringert. Dem Sinn steht aber auch das ewige Problem des zuschauenden, mit den Orten mitschreibenden Poeten entgegen. „Ein Polizist, der mit vier kahlköpfigen Typen zusammenstand, schaute mir lange nach. Es ließ sich nicht verbergen, man konnte nicht so tun. Mein Gang verriet mich, mein Blick. Alles verriet mich. Sie dagegen ähnelten ihrer Heimat. […] Ich wollte mir das alles so ansehen, als wäre ich nicht da, aber es ging nicht.“ Vor Ort lässt sich selten so ungestört beobachten wie etwa eine Fotographie auf dem Schreibtisch. Der Fremdkörper, der die sehenden Augen trägt, lässt sich nicht verbergen; er geht nicht auf in seiner Umgebung, ist seinerseits beobachtbar – und verdächtig.

Zuhause in Polen ist es da schon einfacher, zumal, wenn man reines Ohrenwesen sein kann: „Ich lag auf dem Bett und lauschte den Geräuschen der Nacht. Die Motorradfahrer fuhren von Ampel zu Ampel. Sie hielten an, drehten das Gas voll auf und traten dann wieder auf die Bremsen. Vermutlich war es das, was sie sich unter Freiheit vorstellten. Ganz so wie die Jungs an irgendeinem albanischen Arsch der Welt. Dieses Geräusch in der Stille der Nacht ähnelte den Lauten, die im Netz gefangene Fliegen von sich geben. Es war nur lauter und widerlicher. Dreihundert Meter. Monotoner Todeskampf, in einer Endlosschleife.“

Das Amüsement der Masse findet vor den Ohren und Augen des vielgereisten „kosmopolitischen Schlaubergers aus Nordostmasowien“ keine Gnade. Was sich nach 1989 Freiheit nennt, ist die Freiheit von Mammonsknechten. In der unersättlichen Gier nach sofortiger Befriedigung aller kurzfristigen Gelüste schaufelt sich nach dem Westen nun auch der Osten sein Grab.

So steigt der verlorene Tagebuchschreiber frustriert, desillusioniert wieder ins Auto und fährt weiter. „Zum Glück habe ich keinen Einfluss auf die Wirklichkeit. Ich kann nur Auto fahren, Red Bull trinken und mir etwas in den Bart fluchen.“ Diesem zweifelhaften Glück steht nun wiederum ein anderes Glück entgegen: dass das danach geschriebene Tagebuch diese Flüche aus dem Bart, aus der Unverständlichkeit des Genuschels wieder herausgeholt und vernehmbar gemacht hat.

Titelbild

Andrzej Stasiuk: Tagebuch, danach geschrieben.
Übersetzt aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
175 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126547

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