Entmythologisierung und Entpolitisierung

Hermann Kurzkes Biografie Georg Büchners setzt Maßstäbe in der quellennahen Lebensbeschreibung

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wort „Genie“ stammt etymologisch aus dem Französischen, es bedeutet unter anderem Erzeuger außergewöhnlicher Leistungen. Wenn ein Biograf zu dem Ergebnis kommt, seinem Gegenstand das Attribut Genie zuzuschreiben, verdient dies Aufmerksamkeit. Gesteigert wird diese, wenn das so bezeichnete Genie nicht einmal 24 Jahre alt geworden ist und als Autor lediglich ein schmales Werk hinterlassen hat. Aber gerade 2013 liegt eine solche Attribuierung nahe, gilt sie doch einem der wichtigsten Wegbereiter der literarischen Moderne: Georg Büchner (1813-1837) hat inzwischen kanonischen Rang erreicht, er genießt aktuell eine große Aufmerksamkeit in Schule und Hochschule sowie in der literarischen Öffentlichkeit. Anlässlich des 200. Geburtstages des Darmstädter Autors finden sich zahlreiche Gedenkfeiern, wissenschaftliche Tagungen und neue Publikationen. In diesem Kontext zu lesen ist die relativ umfang- und materialreiche Biografie über den produktiven Schriftsteller, Anhänger der bürgerlichen Opposition des sogenannten Jungen Deutschland und strebsamen Wissenschaftler.

Bereits in der Titelwahl seiner Studie hat der emeritierte Mainzer Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke signalisiert, wie er Büchner verstanden haben möchte. Kurzke negiert keineswegs das politische Engagement Büchners, er grenzt ihn aber von tradierten Etikettierungen wie „Frühsozialist, Frühnaturalist, Frühexpressionist“ ab. Mehrfach kritisiert er das etablierte, jedoch vereinfachende Etikett, Büchner sei ein „frühkommunistischer Sozialrevolutionär“ und Anhänger einer frühen französischen Strömung, des „Neobabouvismus“. Wenngleich vor allem die ersten beiden Kapitel seiner 10 Kapitel umfassenden Studie der Rolle des Politischen in Leben und Werk nachspüren, zeigt bereits Kapitel 1 („Steckbrief“), wie Kurzke Büchners Aktivitäten einordnet: „Büchner gehörte insofern nicht zu irgendeinem linksradikalen Frühsozialismus, sondern zur bürgerlichen Opposition der Jahre vor der 1848er Revolution.“

Wichtiger als Politik und Revolution scheinen Einordnungsversuche in die Bereiche Romantik, Klassik und Antike sowie Aufklärung und Christentum. Damit eröffnet der Biograf einen ungewohnten Zugang zu einem Autor, den man oftmals in der einschlägigen Forschungsliteratur unter anderen Prämissen betrachtet hat. Prägnant bringt es der Mainzer Gelehrte auf den Punkt: „Büchner ist gewiß eine ,Feuerseele’“. Daraus leitet er seine zentrale, das Buch durchziehende Leitthese ab, die durch eine imposante Materialfülle gestützt und konkretisiert wird: „Grundsätzlich schreibt Büchner autobiographisch. Das Netz, das die Ideen aus dem Leben fischte, fand er in sich vor. […] Dichtend fand er Zugang zu den überfluteten Gebieten seines Selbst, die für andere Erkenntnisarten unzugänglich waren.“

Insofern steht „Der Hessische Landbote“ am Beginn von Büchners Schaffen. Zusammen mit Ludwig Weidig herausgegeben, enthält die Flugschrift eine scharfe Kritik an den Zuständen in Hessen. Verraten und verkauft musste sich Büchner angesichts des Haftbefehls gefühlt haben, der ihn zur Flucht nach Frankreich motivierte. En passant setzt sich Kurzke in diesem Zusammenhang mit der Bedeutung des sogenannten Fatalismusbriefs auseinander, den er als „Ausweis seiner (Büchners) anhaltenden Verdüsterung“ bewertet.

Während sich das 3. Kapitel („Was ihn prägte“) zielgerichtet darum bemüht, die Kontexte von Büchners Sozialisation und Enkulturation nachzuzeichnen, indem familiärer Hintergrund beleuchtet und schulischer Werdegang akribisch rekonstruiert werden, zeigt Kurzke seine herausragende fachliche Kompetenz und sein sprachliches Können in den Kapiteln zu „Danton‘s Tod“, „Liebesgeschichten“ und „Lenz“, ferner zu „Wissenschaft“. Es gelingt ihm jeweils durch detektivische Detailrecherche, Lebensdaten des Autors in Bezug zu Werkaspekten zu setzen und psychologisch respektive religiös zu deuten, wenn er beispielsweise zu „Lenz“ festhält: „Krankheiten sind Antworten der Seele, formuliert in der Sprache des Körpers.“

Bisweilen übertreibt es der Biograf jedoch mit seiner psychoanalytisch geschulten Interpretation, wenn er exemplarisch unter Bezug auf „Danton“ konstatiert: „Wie Georg Danton hatte auch Georg Büchner gewaltige Größenphantasien, denen Erniedrigungsphantasien auf dem Fuße folgten.“

Die zukünftige Büchner-Rezeption nachhaltig beeinflussen werden sicherlich die Kapitel zu „Leonce und Lena“ und zum „Woyzeck“. Entstehungsgeschichte, biografische Verortung, Leitmotive, Figurenkonzeption und -konstellation, des Weiteren Deutungsaspekte und Textimplikationen werden als Interdependenz von Leben und Werk destilliert, sodass jeweils die autobiografische Dimension evident wird: Exemplarisch kann man lesen: „Der ganze Woyzeck spielt in den Tiefen und Abgründen von Büchners Seele, spielt dort, wo es bürgerlich und aufgeräumt zugeht und das Verdrängte unter strenger Kontrolle steht.“

Zugleich kann gerade der „Woyzeck“ illustrieren, welche Irrwege und ideologiegeprägten Seitengassen die Rezeption des Werks genommen hat. Kurzke scheut auch nicht den Blick in die Schulbücher, um sein Ansinnen, Büchners Werk vom Kopf auf die Füße zu stellen, umzusetzen: Der „gymnasiale Kurz-Büchner“ wird bis dato verkürzt auf den Typus eines Sozialrevolutionärs, wohingegen Kurzke vehement für eine Perspektive auf den „Melancholiker, den Metaphysiker, den Christen und den Künstler“ plädiert.

Chronologisch angelegt ist die Betrachtung von Büchners „Sterben und Unendlichkeit“, wobei der Biograf abschließend teils bewundert, teils überwältigt festhält: „Mit Büchner wird man nicht fertig. Er hält es aus, daß man sich Jahre und Jahrzehnte mit ihm beschäftigt.“

Gesteigert wird der Mehrwert des Buches durch einen umfangreichen Anmerkungsapparat mit 1702 Fußnoten und ein zwölf Seiten umfassendes Literaturverzeichnis. Süffisant notiert Kurzke in letzterem einführend: „Dieses Buch sucht ein neues Gespräch mit den Quellen, nicht mit der Forschungsliteratur. […] Es geht um sein Leben und Schreiben, Lieben und Leiden, nicht um die seinetwegen geführten Papierkriege.“ Der Gebrauchswert der Biografie als Referenz für ein vertieftes Büchner-Studium wird durch 48 Abbildungen und ein hilfreiches Namensregister erweitert.

Abschließend muss man dem Werk des Mainzer Literaturwissenschaftlers hohen Respekt zollen. Hier findet sich eine Summe wissenschaftlicher Akribie, gekoppelt mit methodischem Geschick und einer glasklaren Formulierungskunst. Inhaltlich hat Kurzke die Intention seiner Studie bereits einleitend hervorgehoben: „das Hineinstellen der einmaligen, unwiederholbaren und deshalb ewigen Person Georg Büchners in einen unvernebelten metaphysischen Raum, einen Horizont von ungelösten, gleichwohl vorhandenen Fragen, in dem schlichtweg jedes Leben steht“.

Dieser Ansatz trägt und macht Lust auf eine intensive Auseinandersetzung mit dem vermeintlich so umfassend erforschten, vice versa katalogisierten Georg Büchner. Kurzkes Leistung liegt einerseits in der Neu-Konzeptionalisierung eines bisweilen einseitigen Autor-Bildes, andererseits in dem Geschick, die Leistungsfähigkeit der Biografie als ernstzunehmendes wissenschaftliches Genres dokumentiert zu haben. Es entsteht ein facettenreiches Bild Büchners, das dessen explizite Aktualität gerade im Jubiläumsjahr zurecht hervorhebt.

Titelbild

Hermann Kurzke: Georg Büchner. Geschichte eines Genies.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
591 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406644931

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