Hybridation

Die Gedichte von Cees Nooteboom kreuzen Sprache und Malerei

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Licht überall“ vereint Gedichte der letzten zehn Jahre von Cees Nooteboom zwischen zwei Buchdeckeln. Sein Arsenal der Worte lässt sich kaum mit wenigen Worten würdigen. Welcher Zugang zu den Versen auch gewählt wird, es eröffnen sich immer wieder neue Perspektiven. Der „Zugang zu jener anderen/ bestehenden Welt,/ der Poesie“, schreibt Nooteboom, sei der Zugang zu einer Welt der Gedanken, Worte und „Paragraphen des Windes“.

Der Ausgangspunkt von Nootebooms Gedichten ist häufig ein Gemälde, ein Foto, eine Karte, ein Spiegelbild. Ein dunkler Wald, immer wieder aufkommender, gezeichneter Nebel und ein Wildbach oder eine Bastei, ein Gemüsegarten und ein im Dunst verschleierter Friedhof schaffen ohne detaillierte Beschreibungen sofort Atmosphären. Ein Mann wird gesehen, wie er auf einer Bank sitzend von einem Gedicht „träumt“. Seine Beobachterin wirft nur einen scheuen Blick auf ihn. Er sieht wiederum gegen das blendende Sonnenlicht nur eine Silhouette, der Augenblick ist die Inspiration.

Fehlt ein solches Bild als Nukleus, erscheinen die Wörter als eine „Erbschaft von Unbekannt“. Sogleich muss eine neue Form entstehen, heißt es im Gedicht „ohne Bild“, dessen Überschrift mit der absurden Negation die Bedeutung des Bildes für die Dichtung nur noch einmal unterstreicht. Eine Existenz ohne Bild ist schließlich nicht möglich, erfährt der Leser in einem anderen Gedicht; indem die bildlose Existenz aber angenommen wird, verneint die Überschrift die These des Bildes als Grundlage der poetischen Inspiration. Das Ergebnis ist kraftvoll und dynamisch: Die Sprache wird in jenem Gedicht „geschliffen“ und „geknetet“, nichts soll dem Zufall überlassen werden. Jedes Wort ist schicksalshaft. In Träumen und einsamen Zimmern wird sich da gewälzt und gequält, um einen Weg durch die verschlungenen Rätsel der Verse zu finden. Doch die „Schrift als die Tochter des Sprechens“ droht resignierend zum Erinnerungsmedium degradiert zu werden. „Sprachlos“ bleibt der Gequälte, dem die Rätsel scheinbar verschlossen sind. Der Autor verlässt den zweifelnden Leser nicht. Sofort stellt Nooteboom dem Gedicht eine Klarstellung gegenüber. Denn einige Zeilen weiter heißt es: „Alles aus Worten ist echt“.

Non dubito, die Echtheit der Worte wird betont; Worte dienen aber nicht nur der Beschreibung des Gesehenen, sondern der Beschreibung der allen Dingen innewohnenden Dynamik. Nooteboom widmet sich der Kraft hinter den Bildern: „Eine Spur im weißen Sand“ ist ein Gedichtzyklus in Nootebooms Band überschrieben, der als Reaktion auf Bilder und Holzschnitte von Cees Andriessen entstanden ist. Klare Formen und strenge Linien bestimmen die Zeichenwelt des niederländischen Malers. Nootebooms Verse verschaffen ihnen einen Austausch mit der Welt der Worte. Er begibt sich auf die Spur der „Worte ohne hörbare/ Stimmen“. Flammen, Fliegen, Spinnen und Störche werden gesehen. Blicke sind wie Blitze. Ein Erinnerungsgewebe entsteht. Geometrisch werden Eindrücke neu geordnet, scheinbar einer geheimen Logik folgend. Und auch wenn die Eindrücke Vergangenes beschwören, bleibt das Wort stets in der Gegenwart: „der Text ist geblieben,/ die Lehre/ der Langsamkeit,/ das Wort.“ Nooteboom erklärt vieles mit emotionaler Strenge, versteht sich auf die Geometrie der „Vertikalen Poesie“ von Roberto Juarroz, „für die es keine Instrumente gab,/ um sie zu messen.“ „Licht überall“ beschwört die Korrespondenz von Malerei und Dichtung.

Für Romantik ist zugleich wenig Platz. Percy Bysshe Shelleys „wohlkingendes, strömendes, reimendes, erlaubtes Klagen“ aus dem frühen 19. Jahrhundert kann Nooteboom nicht nachempfinden, auch wenn er die Augen schließt und an das aquarellartige Gedicht „Stanzas written in Dejection, near Naples“ denkt, denn „unten/ rast der Verkehr, suizidal, eine gemeine Welt aus Jagd/ und Schwerkraft, dein niemals gesehener Alptraum“. Nooteboom ehrt den Romantiker durch ironische Imitation. Die Ewigkeit habe dieser sich verdient. Ein Schelm, wer den Autor lächeln sieht.

Ebenso haben sich die Aufnahme in den Gedichtband „Licht überall“ Descartes, Vergil oder auch Wallace Stevens verdient. Mal sind es Verbeugungen, mal ironische Anspielungen, aber immer wieder tritt Nooteboom in ein Zwiegespräch mit verstorbenen Dichtern. „Sie gehören zu meinem Leben, weil sie dieses Leben auf die unterschiedlichste Weise und in den unterschiedlichsten Augenblicken begleitet haben“, sagte der Autor selbst 2006. Ihn leitet sein eigenes kulturelles Interesse. Missionarische Ambitionen hege er nicht, behauptete Nooteboom im „Rheinischen Merkur“ (13.01.2011). Doch hernach betonte er: „Wenn wir nicht mehr wissen, wer solche Gestalten waren und was sie bewirkten, dann ist unsere kulturelle Erbfolge abgeschlossen.“ Das wäre ein schönes Schlusswort des leidenschaftlichen Humanisten für den vorliegenden Gedichtband gewesen. Seine Gedichte sollten kulturelle Neugierde wecken. Nooteboom präsentiert sich mit „Licht überall“ zugleich als Dichter und Kommentator des Gedichteten. „Weißt du, wie ein Gedicht/ aussehen soll?“ Dass es nicht jeder verstehen muss, schränkt der Autor im Anschluss an diese Frage im Gedicht „Gedicht“ ein. Es ist eine Herausforderung, sich seiner Sprachakrobatik zu stellen und sich mit ihm vertikal in die Tiefe der Sprache zu bohren. Aber es lohnt sich.

Titelbild

Cees Nooteboom: Licht überall. Gedichte.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Ard Posthuma.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
106 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423912

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