Brasilianische Klassiker in Neuauflage I: Jorge Amado

Anlässlich des 100. Geburtstages von Brasiliens bekanntestem Autor Jorge Amado ist eine Neuauflage seines „Die Werkstatt der Wunder“ erschienen

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was haben Sie gesagt? Hundert Jahre? Wir werden ihn das ganze Jahr feiern!“

So und ähnlich tönt es in Amados Roman „Die Werkstatt der Wunder“ schon ziemlich zu Beginn aus den Mündern aller großen, einflussreichen Männer (eine Frau ist auch dabei, die ist aber eine Sekretärin ohne Einfluss und etwas schüchtern) in Salvador de Bahia im Nordosten Brasiliens, als entdeckt wird, dass jener große Sohn der Stadt, Pedro Archanjo, im Jahr der Handlung – irgendwann in den 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts – 100 Jahre alt geworden wäre.

Nun bedarf es zu dieser Feststellung aber der zufälligen Anwesenheit des Ethnologen und wahrhaften Wissenschafts-Stars James D. Levenson, der zu einer Vortragsreihe in Salvador de Bahia ist und bei dieser Gelegenheit Archanjo erwähnt. Der Nobelpreisträger, der vielfach geehrte und umfassend gelehrte Amerikaner, der Gringo, verführt nicht nur reihenweise die brasilianischen Frauen, nein, er kennt offenbar die hiesigen Berühmtheiten auch noch besser als die Einheimischen. Zugeben kann und will das keiner, eilends wird geforscht und recherchiert, tatsächlich findet man ein paar, die den größten aller Bahianer noch persönlich gekannt haben wollen, es gibt sogar einen Professor, der angeblich die vier kleinen Bücher, die, so sagt Levenson, Archanjo zu Lebzeiten geschrieben habe, gelesen haben will. Artikel erscheinen in Zeitungen und dann andere Artikel, die die vorherigen Artikel plagiieren und plötzlich ist das Festjahr zu ehren von Pedro Archanjo ausgerufen. Eilends wird ein Festprogramm auf die Beine gestellt, ein wissenschaftlicher Kongress soll stattfinden, alle Zeitungen drucken Sonderbeilagen, die größeren und kleineren Unternehmen der Umgebung werben ausnahmslos nur noch mit dem Namen Archanjos.

Wer sich hinter dem derart Gefeierten eigentlich verbirgt, weiß keiner so genau. Die Legende, wie sie die Schulkinder in Bahia lernen sollen, geht so: „Pedro Archanjo war ein sehr armes Waisenkind und ist als Matrose mit einer Ausländerin durchgebrannt und nach Amerika gegangen, aber er hat gesagt, ich bin Brasilianer, und dann ist er nach Bahia gekommen und hat Geschichten über Tiere und Menschen erzählt, und er war so klug, dass er keine Kinder unterrichtet hat, nur Ärzte und Professoren, und als er starb wurde er der Stolz von Brasilien und bekam einen Preis von der Zeitung, das war eine Tasche voller Schnapsflaschen.“

Die offizielle Version indes soll nun Fausto Pena erforschen, glückloser Dichter, Journalist und offenbar mit einem Abschluss in Soziologie gesegnet – er ist der Erzähler des Romans „Die Werkstatt der Wunder“ und versucht darin zum einen, das Leben des Pedro Archanjo, zum anderen die Vorkommnisse im Festjahr zu beschreiben. Jorge Amados Roman ist also im Grunde die Geschichte von Pedro Archanjo und es ist ein Glück, dass der S. Fischer Verlag ihn zur Feier des – zumindest bis Paulo Coelho kam – berühmtesten brasilianischen Schriftstellers in einer sehr guten Neuübersetzung von Karin von Schweder-Schreiner neu aufgelegt hat.

Ähnlich wie sein Protagonist war Amado zumindest im deutschsprachigen Raum lange vergessen. 1912 in Bahia geboren und als Sohn eines Kakaopflanzers aufgewachsen, hat er ein bewegtes Leben geführt und sich als regimekritischer, kommunistischer Journalist in Brasilien mehr als einmal Feinde gemacht, was dazu geführt hat, dass er große Teile seines Lebens im Exil verbrachte. Diese stark sozial- und politkritische Grundhaltung spiegelt sich genauso wie die starke Verbundenheit zu seiner Heimat Bahia in seinem Gesamtwerk wider, überformt durch zahlreiche Einflüsse der europäischen und brasilianischen literarischen Tradition, die er zeitlebens in seinen Romanen zu verbinden suchte. Jorge Amado ist, nicht nur aufgrund seiner großen Popularität und der damit einhergehenden Wahrnehmung als Unterhaltungsschriftsteller, sondern auch wegen der offensichtlichen Schwächen vieler seiner Romane, von Kritik und Wissenschaft zeitlebens etwas stiefmütterlich behandelt worden.

Über 20 Romane hat er veröffentlicht und es lässt sich nicht leugnen, dass vor allem im Frühwerk die literarische Klasse und ästhetische Qualität deutlich unter der ideologischen Überfrachtung leidet. Sein fünfbändiger „Bahia“-Zyklus (Im Süden, 1931; Das Mietshaus, 1934; Jubiabá, 1935; Tote See, 1936 und Herren des Strandes, 1937), am bekanntesten hieraus vielleicht der Abschluss-Roman, versucht das Alltagsleben der Menschen in Bahia sowohl in den Städten wie auf dem Land in neorealistischer Erzählhaltung einzufangen. Der Zyklus sorgte für den Durchbruch des jungen Amado, offenbart aber schon die großen Probleme seiner engagierten Literatur: Eine arg plakative Sozialkritik, die zeitweise dem Kitsch anheimfällt, trifft auf konstruiert wirkende Plots und eine zu moralisierende Erzählhaltung. Der ideologische Anspruch überfrachtet die Romane, lässt sie platt wirken und rückt sie in die Nähe von Agitprop-Literatur.

Zugleich jedoch lassen diese frühen Texte schon zentrale Aspekte von Amados Poetik erkennen: eine deutliche Beeinflussung durch den brasilianischen modernismo der 1920er-Jahre und seiner Forderung nach einer literarischen Erkundung der brasilidade, des Brasilianismus, also dem ‚typisch Brasilianischen‘ in Literatur und Kultur. Gleichzeitig vollzieht Amado jedoch eine Abwendung von den Modernisten und eine Überwindung ihrer, in Amados Vorstellung, zu homogenisierenden Nationalvorstellung, der er sein Konzept einer brasilianischen Kultur, die vor allem von ihrer Heterogenität und Vermischung charakterisiert sei, gegenüberstellt. Zudem entfernt er sich von den ästhetischen Mitteln und den literarischen Techniken der Modernisten, indem er den experimentellen und europäisch inspirierten, aber schwer zugänglichen Avantgardismus zurückweist. Amado ist ein Geschichtenerzähler im besten Wortsinne und eine elitäre Literatur, von formaler und inhaltlicher Hermetik geprägt, lehnt er ab – genauso wie ihre hauptsächlichen Vertreter in den großen literarischen Zentren des Landes: Rio de Janeiro und São Paulo.

Er setzte dem seine stark regionalistisch geprägte Literatur entgegen, die dem ländlich dominierten Nordosten des Landes, vor allem Bahia, zu einer Stimme verhelfen sollte. Stimme war ganz wörtlich zu verstehen: im „Bahia“-Zyklus versucht Amado erstmals, den bahianischen Dialekt literarisch umzusetzen, am prägnantesten vielleicht im Roman „Im Süden“. Hinzu kommt der Versuch, die Sprache der sozialen Unterschichten möglichst getreu abzubilden, was ihm zunächst Kritik, aber gleichzeitig viele Leser einbrachte. Das Interesse an der bahianischen Volkskultur äußerte sich nicht zuletzt darin, dass Amado in dem Zyklus – vor allem im Roman „Jubiabá“ – erstmals eine Auseinandersetzung mit jener brasilianischen Besonderheit erkennen lässt, die einen großen Teil der Faszination für das Land ausmacht: die sich durch die besondere Historie ergebende hybride Mischkultur aus indigener Bevölkerung, afrikanischen Sklaven und portugiesischen Einwanderern, deren berühmtestes Element vielleicht der Candomblé, die berühmte afro-brasilianische Religion mit ihren exotischen Riten und Tänzen ist. Amado, obwohl streng jesuitisch erzogen, wurde Anhänger des Candomblé und all dessen, was er repräsentierte: eine animistische Weltsicht, radikale Offenheit und Toleranz sowie Anerkennung sämtlicher Elemente der brasilianischen Kultur. Brasilien war für ihn eine einzige große Mischlingsnation – und genau darin lag für ihn die Stärke des Landes.

Eine solche politische Haltung blieb nicht ungestraft, unter Getúlio Vargas und seinem sogenannten Neuen Staat (Estado Novo) wurden seine Bücher verbrannt, Amado selbst musste ins Gefängnis und später ins Exil. Die Texte jener Jahre – Biografien von Castro Alvares (ABC des Castro Alvares, 1941) und Luis Carlo Prestes (O Cavaleiro da Esperança, 1942), ein Reisetagebuch über Russland (O Mundo da Paz, 1951) und ein Roman über die Vargas-Diktatur (Katakomben der Freiheit, 1954) – sind zuerst als politisch-propagandistische Pamphlete zu lesen, vor allem die beiden letztgenannten mit einem deutlich pro-kommunistischen, ja teilweise stalinistischen Impetus, von dem sich Amado selbst später distanzierte.

Gleichwohl bleibt der Kern seines Werkes ein anderer: das Eintreten für die Außenseiter und Minderheiten und die literarische Gestaltung der Volkskultur. Die afro-brasilianischen, karnevalistischen Elemente sind in seinen Romanen genauso wenig zu übersehen wie sein Eintreten für die „Mischlinge“, die „Mulatten“ und sein Aufbegehren gegen die immer wieder aufwallenden rassistischen Tendenzen in Brasilien. Das Volk hat keine einheitliche Farbe: „Es gibt auf der Welt keine besseren Menschen als das Mulattenvolk von Bahia“, heißt es in der „Werkstatt der Wunder“. Genau in diesem Sinne sind dann seine späteren Romane weniger von einer sozialistischen, also politischen Ideologie überladen, als vielmehr angelegt als Erkundung des Volks von Bahia, der ‚einfachen Menschen‘ also, als Panoramen des Alltagslebens, der Riten und Bräuche. Die Erfahrungen des Stalinismus und der Selbstmord von Vargas waren Schlüsselereignisse gewesen, die Amado hatten Abstand nehmen lassen von einer allzu dogmatischen politischen Einstellung, hin zu einer positiveren demokratischen, von Hoffnung auf Besserung getragenen Grundeinstellung. Ins Zentrum seiner Romane rückte damit nicht mehr die drückende, sozial-realistische Darstellung der ausgebeuteten Opfer des Kapitalismus, sondern die Vorstellung und Zeichnung des überbordenden Lebens in Bahia. Kennzeichnend für die späteren Romane Amados ist also die Hinwendung zum Humor, zur Ironie und zu einem leicht spöttischen Vulgarismus: seine Schauplätze sind Bars und Bordelle, seine Figuren Lebemänner, Prostituierte, Obdachlose, Trinker, die sich schlagen, sich hemmungslos besaufen und genauso hemmungslos lieben – und hassen.

Gern gelesen werden in Brasilien nach wie vor die ‚Frauenromane‘ Amados, die nun in einer Jubiläums-Box in Neuauflage wieder zugänglich gemacht wurden: „Dona Flor e seus dois maridos“ (1966, deutsch: Dona Flor und ihre zwei Ehemänner), „Teresa Batista cansada de guerra“ (1972), „Tieta do Agreste“ (1977) und „Gabriela, Cravo e Canela“ (1958, deutsch: Gabriela wie Zimt und Nelken) sind Liebesgeschichten, die eine Frauenfigur ins Zentrum stellen und trotz allem Charme, Witz und aller Leichtigkeit immer mit sehr ernsten Untertönen aufwarten. In „Gabriela, Cravo e Canela“ ist es das schwierige Leben in einer brasilianischen Kleinstadt in Abhängigkeit von den großen Kakaopflanzern und der daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Kontrolle. Kontrastiert wird das mit der sehr aktuellen Frage der Fremdenfeindlichkeit, die verhandelt wird in der Liebesbeziehung zwischen dem syrischen Exilanten Nacib Saad und seiner Köchin Gabriela. Amados Romane sind für ihre Frauendarstellungen oft kritisiert worden und es ist leicht, Stereotype und Klischees zu finden: die dem sexuell potenten Mann verfallene Frau, die zwar ihren Weg abseits der trunk- und spielsüchtigen Ehemänner und Geliebten sucht, aber ihr Glück erst findet, wenn sie mit ihnen vereint ist.

In „Dona Flor e seus dois maridos“ ist dieses Motiv vielleicht am prominentesten gestaltet: Im dritten Teil des Romans kehrt der eigentlich schon verstorbene Geliebte Vadinho, der zeitlebens ein Säufer und Spieler war, seine Frau Flor aber sexuell unzufrieden hinterlassen hat, als Geist nackt zu Flor zurück und wird nun integraler Bestandteil ihrer neuen Ehe mit dem langweiligen Apotheker Teodoro, so dass sich in den nun für Flor wieder erhebenden Liebesakten beide Männer in magischer Manier verbinden und sie endlich glücklich ist. Solche oftmals auf alte bahianische Legenden zurückgehenden Geschichten nicht vor dem Hintergrund der bahianischen Volkskultur zu sehen hieße, Amados Ansinnen zu verfehlen und seine sozialkritischen Romane misszuverstehen: tatsächlich geht es hier nicht um die Abhängigkeit der Frau, sondern um die ganz in der Tradition des Candomblé stehende Aufwertung der erotisch-körperlichen und triebgesteuerten Seite, die von der sozialen Oberschicht in Bahia gefürchtet und unterdrückt wurde. Alle diese Frauengeschichten sind ein Plädoyer für die Körperlichkeit und das bewusste Ausleben der eigenen Lust, eng verbunden mit einer karnevalistischen Volkskultur, die Sexualität, kulinarischen Genuss sowie Tanz und Musik als Einheit sieht. 

In aller Regel ist das, bei allem durchweg positivem Impetus, tatsächlich keine sehr anspruchsvolle Literatur: Amados Romane sind gute Unterhaltungsromane, die, wenn auch mit ernsten Untertönen, in der Regel gut enden, und, wie im Falle von „A Morte e a Morte de Quincas Berro Dágua“ (deutsch: Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller, 1961), amüsante Vorlagen für leicht groteske, fröhliche und makabre Komödien abgeben und damit noch immer aktuell sind (verfilmt 2010 unter dem Titel „Zweimal Sterben ist einmal zuviel“).

Als solche sind sie im besten Wortsinne Volksliteratur, was auch ihre große Verbreitung erklärt. Sie sind jedoch selten ‚große‘ Literatur in einem emphatischen Wortsinne – als eine Ausnahme muss nun (neben „Tocaia Grande“ – Der große Hinterhalt, deutsch 1987), ganz sicher „Die Werkstatt der Wunder“ von 1969 gelten.     

Der Roman zählt zu den besten Amados, und man findet in ihm alle Elemente, die das bisherige literarische Schaffen Amados bestimmt haben, verdichtet wieder, jedoch befreit von den engen ideologisch-politischen Fesseln der frühen Jahre. Jener oben schon vorgestellte Pedro Archanjo ist ein Mischling und er kommt direkt aus dem Volk, aus einem Viertel in Salvador, wo die Niederen der Gesellschaft, aber eben auch der Candomblé zuhause sind. Mit einer wirklichen Lust am Storytelling, mit Fürsorge für seine Figuren und großer Sympathie für das Leben in den Straßen erzählt Amado Pedros Geschichte, seinen eher zufälligen Aufstieg vom Pedell an der Medizinischen Fakultät zum Buchautor und schließlich zum in höheren Kreisen gefürchteten Mulatten, der die bahianischen Oberen bloßstellt und ihren Rassismus offenlegt. In der Biografie Pedros spiegelt sich der lange Weg Bahias zur Gleichstellung aller Volksgruppen: Amados Darstellung der schlimmen rassistischen Tendenzen an den juristischen und medizinischen Fakultäten Bahias entspricht historischen Tatsachen, auch die brutale Verfolgung Pedros und seiner Freunde durch den Polizeichef Pedrito Gordilho (1885-1955), einem der gewalttätigsten und erbarmungslosesten Verfolger des Candomblé und der afro-brasilianischen Kultur in Bahia in den 1920er-Jahren. Immer wieder tauchen historische Figuren im Roman auf, und auch Pedro ist nach einem historischen Vorbild gestaltet, dem Schwarzen Manuel Querino, der vor allem mit einem kleinen Büchlein über die wirkliche Herkunft der bahianischen Elite auf sich aufmerksam gemacht hatte. Genau wie Pedro im Roman gelang es Manuel nachzuweisen, dass Bahia seit zahllosen Generationen eine wahre Mischkultur war – selbst die sich als reine ‚weiße‘ Familien gebarenden elitären Familien hatten zahlreiche Schwarze, Weiße und Mischlinge in ihrem Stammbaum.

Dieser faktischen Historie mit ihrem sehr ernsten, teilweise tragischen Grundtenor, stellt Amado in „Die Werkstatt der Wunder“ eine mythische und magische Realität an die Seite, die innerhalb der Fiktion genauso viel Wahrhaftigkeit für sich beanspruchen kann, wie die Faktizität. Es ist die Welt des Candomblé, mit ihren Orixás (Göttern), Geistern, Riten, Tänzen und Gesängen, die in den Straßen Bahias allgegenwärtig ist. Diese Welt ist eine dem europäischen Leser sehr fremde Welt, mit fremden Gestalten und einer fremden Sprache – die Übersetzerin hat gut daran getan, die Passagen in Yoruba in ihrem Wortlaut zu belassen. Ein Glossar erklärt die wichtigsten Begriffe des Candomblé, was gerade zum Einstieg sehr hilfreich ist. Es ist diese mythische und spirituelle Sphäre, die dafür gesorgt hat, dass Amados Roman gern dem Magischen Realismus zugeordnet wird, eine Kategorisierung, die sicher nicht ganz falsch, aber eben auch nicht völlig zutreffend ist. Richtiger wäre es, von einem zutiefst religiösen Roman zu sprechen, der allerdings ganz und gar nicht missionarisch, sondern im Gegenteil, leichtfüßig daherkommt. Die spirituelle Sphäre ist durchaus handlungstragend, die Götter und ihre Macht ebenso wirklich innerhalb der Romanwelt wie die politische Macht. Amado inszeniert diesen Volksglauben mit seinen Riten durchaus als Spektakel, aber eben nicht als Folklore, sondern mit aller Ernsthaftigkeit, die ihm zusteht. Der Candomblé ist daher genauso selbstverständlich Teil des Romans wie er Teil der bahianischen Lebenswirklichkeit ist.

Es ist diese Doppelbödigkeit, die den Roman durchgehend strukturiert und ihm seine besondere Wirkung verleiht. Pedro ist genauso der arme Pedell, der am Ende seines Lebens betrunken in einer schmutzigen Gasse liegend stirbt, wie er der gefeierte und von den Göttern beschützte Weise ist, der für die Armen seines Viertels Vertrauter und Bewunderter ist. Seine eigentliche Leistung liegt darin, diesem armen Volk und seinen Riten eine Stimme zu geben, indem er ihre Traditionen und ihre Herkunft, auch ihre Rezepte aufschreibt (eines seiner vier Bücher handelt von der bahianischen Küche). Dass es ausgerechnet ein amerikanischer Professor von einer Elite-Universität, Nobelpreisträger, „eines der fünf Genies unseres Jahrhunderts“ ist, der Archanjo wiederentdeckt und seine Werke in den USA veröffentlichen will, ist Amados ironischer Kommentar zur westlichen Arroganz, mit der die dortigen weltoffenen, toleranten Lehrstuhlinhaber und Forscher regelmäßig das ursprüngliche, natürliche, so erdverbundene Genie der vermeintlich rückständigen exotischen Völker entdecken und sich einverleiben. Levenson ist der Prototyp des Wissenschafts-Imperialisten: in einem Land, das noch stark militärisch diktiert ist und einem Polizeistaat ähnelt, bringt er die Massen mit markigen Sprüchen zum Jubeln: „Die Welt wird erst dann wirklich zivilisiert sein, wenn es Uniformen nur noch im Museum gibt“. Daraufhin zieht sich Levenson einen Badeslip an und versucht am Strand, brasilianische Schönheiten zu verführen. Zurück in den USA schwärmt er von der unverbrauchten Ursprünglichkeit des Landes und der verborgenen Weisheit der Volkskultur, mahnt die Unterdrückung der nicht-Weißen an und fliegt dann weiter nach China.

In diesem Sinne lässt sich „Die Werkstatt der Wunder“ also wunderbar als eine Satire auf die Postcolonal Studies amerikanischer Provenienz lesen, lange bevor sie richtig in Mode kamen. Den Gender Studies mag dieser Roman erst recht sauer aufstoßen mit seinem Mulatten Pedro im Mittelpunkt, der als mystisch verklärter Halbgott fast alle Kinder des Viertels gezeugt und bei allen Frauen gelegen hat; mit seinen schwarzen, sehr körperlichen Schönheiten, die für ihre überbordende erotische Ausstrahlung berühmt sind. Man darf all diese Rollen aber nicht als tatsächliche Repräsentationen von Geschlechtern lesen, denn ganz im Gegenteil sind sie Teil der Praxis des Candomblé, in dem es genau darum geht, bestimmte traditionelle Rollen anzunehmen und sie performativ darzustellen: er ist ein Maskenspiel par excellence – und damit die genaue Analogie zu jenem Maskenspiel, was in der anderen Sphäre, der vermeintlich realen, gespielt wird: das Spiel um die propagandistische Vereinnahmung des Mulatten Pedro für all jene Zwecke, die gerade dienlich sind. Zeitungen und Konzerne kümmern sich genauso wenig wie Levenson darum, wer Pedro wirklich war. Sie alle konstruieren sich den Pedro, den sie brauchen und der ihnen dienlich erscheint. Somit ist Amados Roman schließlich auch eine beißende Medien- und Politiksatire, in der Archanjo mal als Leitfigur der Linken gegen einen US-Imperialismus dienen darf, mal als Marionette der Rechten, um wahrhafte Demokratie und Toleranz allen Hautfarben gegenüber zu inszenieren. Es sind diese Grabenkämpfe um das Erbe Pedros und die erzählerische Kontrastierung mit seinem ‚wirklichen‘ Leben, die den Roman so spannend, unterhaltsam und wichtig machen. Er führt auf zugleich komische und sehr ernste Art die afro-brasilianische Volkskultur und ihren stetigen Kampf um Anerkennung durch einen noch immer vornehmlich ‚weißen‘ oder sich als ‚weiß‘ inszenierenden Staatsapparat vor Augen, im Zentrum ein sympathischer Held, der nicht von ungefähr die großen Helden europäischer Schelmenromane des 18. Jahrhunderts erinnert.

Meisterhaft gelingt es Jorge Amado, in der „Werkstatt der Wunder“ seine wichtigsten politischen und poetologischen Anliegen literarisch zu gestalten – so gut, wie es ihm vielleicht sonst in kaum einem anderen Roman gelungen ist. Der Roman macht nachvollziehbar, wieso Amado, 2001 verstorben, zu den populärsten lateinamerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gezählt werden muss, aber er begründet auch, wieso Amado zumindest mit einigen Texten zu den wichtigsten von ihnen gezählt werden sollte. Auch wenn Amados Gesamtwerk sicher nicht in eine Reihe mit den großen lateinamerikanischen Romanciers gestellt werden kann, was seinen literarischen Rang oder Wirkung betrifft – einzelne Texte verdienen es durchaus, wieder gelesen und immer wieder neu gelesen zu werden. „Die Werkstatt der Wunder“ bietet in der vorliegenden Neuauflage des S. Fischer Verlags einen wunderbaren Einstieg in den etwas zu Unrecht vergessenen Kosmos des Brasilianers. Pünktlich zur Buchmesse wird der Verlag mit einer Neuauflage von „A Morte e a Morte de Quincas Berro Dágua“ und „Os Velhos Marinheiros“ (deutsch: Zwei Geschichten von der See. Der Tod und der Tod des Quincas Wasserschrei. Die Abenteuer des Kapitäns Vasco Moscoso) diese Wiederentdeckung von Amado fortsetzen, in Brasilien ist sie dank der Companhia das Letras, die fast alle großen Romane in Neuauflagen auf den Markt gebracht hat, schon ein Stück weiter – ein sehr zu begrüßendes Unternehmen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Jorge Amado: Die Werkstatt der Wunder. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
432 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100015440

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Jorge Amado: Zwei Geschichten von der See. Der Tod und der Tod des Quincas Wasserschrei. Die Abenteuer des Kapitäns Vasco Moscoso.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby und Curt Meyer- Clason.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
400 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100015433

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