Vom Entflammen und Verglühen

Ein soziologischer Sammelband macht das Reden über Burnout zum Modus von Gesellschaftskritik

Von Antje GéraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Géra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

“Warum die Arbeiterklasse den Kampf verloren hat“, lautet der Titel eines Aufsatzes des französischen Soziologen Robert Castel. Der Begriff ‚Arbeiterklasse‘ mag allerdings für heutige Ohren so antiquiert klingen, dass diese Frage kaum mehr als ein desinteressiertes Schulterzucken hervorrufen dürfte. Castel selbst versichert demgemäß, dass es sich hier nicht um Provokation handle, sondern eben einfach nur um eine Feststellung. Die Arbeiterklasse fungiere „nicht mehr als hegemonialer Bezugspunkt des politischen Kampfes und der soziologischen Gesellschaftsanalyse“. Das, was diesen Begriff noch bis in die 1970er-Jahre hinein zu einem relevanten machte, scheint in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen zu sein.

Diesen nicht nur von Castel hervorgehobenen „gesellschaftlichen und politischen Bedeutungsverlust“ der Arbeiterklasse sowie die „Stilllegung des von ihr verkörperten subversiven Potentials“ müssen wir jedoch nicht als Einträge auf einem Totenschein lesen. Machen wir aus dem desinteressierten Schulterzucken doch eines, das zunächst unser Unwissen ausdrückt und aus dem Totenschein eine Vermisstenmeldung, die einen gesellschaftlichen Wandel anzeigt.

In zeitdiagnostischen Auseinandersetzungen mit dem sich aktuell vollziehenden gesellschaftlichen Wandel haben an dem Ort des Verschwindens der Arbeiterklasse andere ‚dramatis personae‘ ihren Auftritt, vereinzelte Einzelne, die jeweils eine ganze Bühne für sich allein beanspruchen, und wenn sie kämpfen, so vornehmlich mit sich selbst: So verrichtet das  ‚unternehmerische Selbst‘, der ‚Arbeitskraftunternehmer‘ nicht einfach nur seine Lohnarbeitstätigkeiten, indem er seine Arbeitskraft nach einem vorgegebenen Maß verausgabt, sondern maßlos stellt er sich mit allen seinen Fähigkeiten und Eigenschaften den Forderungen des Marktes zur Verfügung, die er als eigene Anforderungen an sich selbst begreift. Lohnarbeit ist ihm nicht notwendiges Übel, sondern sein Leben; was er tut, tut er nicht auf Sparflamme, nein, er brennt darauf, sich aufregenden ‚Projekten‘ und ‚neuen Herausforderungen‘ selbstverwirklichend hinzugeben: Erfinde dich jeden Tag neu. Sei stets der Erste, der Schnellste, der Kreativste, der Beste, und abends der Letzte – denn immer wartet schon einer, dich zu ersetzen: „Burn Baby Burn“ – bis du nicht mehr weißt, ob du dies Lied singst oder es  dir gesungen wird.

Doch lass uns nicht von Burnout reden! – Doch, lasst uns über Burnout reden, fordern Krankenkassenstatistiken und Rentabilitätsstatistiker, fordert die Wellness-, Psychopharmaka- und Ratgeberkulturindustrie. Nein, wir müssen angesichts all dessen über das Gerede von Burnout reden, insistiert eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern und Sozialwissenschaftlerinnen der Frankfurter Goethe-Universität. – Wirft es doch ein Licht gerade auf die Schattenseiten der Subjektivierungsform ‚Arbeitskraftunternehmer‘.

So legen denn die Herausgeber Sighard Neckel und Greta Wagner und die von ihnen versammelten Autorinnen und Autoren mit dem Aufsatzband “Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft“ eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Problematik von Erschöpfungserscheinungen und den Formen ihrer Thematisierung vor, die endlich eine wissenschaftliche Diskussion anstößt und fundierte Grundlagen bereitet. Sie setzen damit der effekthascherischen medialen Geschwätzigkeit um eine „neue Volkskrankheit“ ein konzises Werk der Aufklärung entgegen, indem sie in gesellschaftskritischer Absicht offenlegen, was durch aktuelle diskursive Inszenierungen der Burnout-Thematik verdeckt wird und wie die Mechanismen dieser Verdeckungen wirken.

Neckel und Wagner intendieren, „die subjektive Erfahrung von Burnout ebenso [zu] verhandeln wie dessen Hintergrund im Kontext gesellschaftlichen Wandels, die diskursive Aufladung des Phänomens nicht weniger wie die Wissensformen, die sich heute auf eine Krankheit wie Burnout richten“. Dies wird durchaus auf differenzierte Art und Weise eingelöst – davon zeugt bereits die vielversprechende Gliederung der Aufsatzsammlung in vier Abteilungen, in denen das Phänomen „Burnout“ ausgehend von den Problembereichen seiner Pathologisierung, Diagnostizierung, Metaphorik und möglichen innovatorischen Kraft untersucht wird.

Die Beiträge der Publikation ergründen aus soziologischer Perspektive, was denn ‚Burnout‘ nun überhaupt sei, welche „gesellschaftliche Funktion und Bedeutung“ ihm zukommt und was es bedeutet, dass Burnout-Diagnosen wie auch die öffentliche Aufmerksamkeit dafür zunehmen. Sie arbeiten heraus, was den diskursiven Darstellungsformen an Erkenntnissen über den gesellschaftlichen Umgang mit Burnout ablesbar ist, welche moralischen, gar moralisierenden Ansprüche und widersprüchlichen Forderungen in ihnen transportiert werden – und welche Aufschlüsse dies wiederum über die gegenwärtige gesellschaftliche Verfasstheit bietet.

Burnout ist aus medizinischer Sicht nach wie vor keine anerkannte Diagnose, aber doch mehr als eine diskursive Hysterie. Was Burnout für zeitdiagnostische Reflexionen so spannend macht, ist gerade diese Umstrittenheit: Daran, ob, wann und unter welchen Kriterien ‚Burnout‘ als Klassifikation anerkannt wird, und unter welchen argumentativen Voraussetzungen es als individuelle Krankheit negiert wird, lassen sich die politischen Implikationen dieses Klassifizierens, seiner Maßstäbe und Effekte aufzeigen, wie Frieder Vogelmann in seinem philosophischen Beitrag “Eine erfundene Krankheit? Zur Politik der Nichtexistenz“ ausführt.

Im Zusammenhang damit weisen Linda V. Heinemann und Thorsten Heinemann die Defizite der Burnout-Forschung aus, überhaupt allgemeinverbindliche und wissenschaftliche Kriterien für eine Diagnostizierung zu erstellen und legen dar, wie sich diese Unbestimmtheit in den Thematisierungen und Untersuchungen von Burnout in den „modernen Lebenswissenschaften“ widerspiegelt. Die lebenswissenschaftliche Burnout-Forschung drehe sich „im Kreis“, sitze „Zirkelschlüssen“ auf, da sie nach Ursachen und Präventionsmöglichkeiten forsche, ohne überhaupt über „einheitliche Kriterien“ und „allgemeingültige psychische und physische Indikatoren“ für das Syndrom zu verfügen. Es stelle sich daher die Frage, ob es nicht zielführender sei, an „der gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung von Burnout“ anzusetzen.

Hier offenbare sich, dass es „gerade die Ambivalenz von echter und vermeintlicher Krankheit“ ist, welche die „Attraktivität dieses Syndroms in der Gegenwartsgesellschaft“ ausmache. Denn im Gegensatz zur Depression kann Burnout ermöglichen, „ohne Stigmatisierung durch den Makel einer psychischen Störung“ sich zu psychischen Problemen „zu bekennen“. Ein öffentliches Bekenntnis des eigenen Burnouts lässt sich sogar als Steigerung des Wertes seiner Ware Arbeitskraft einsetzen, wie Monica Titton in ihrer Fallstudie zur Inszenierung des Burnout-Coming-Outs prominenter Personen aufzeigt.

Patrick Kury führt die Untersuchungen der „gesellschaftliche Funktion“ von Burnout als „Krankheitskonzept“ und „Krankheitsdiskurs“ in seinem Beitrag weiter, indem er mittels einer geschichtlichen Kontextualisierung von „Burnout“ Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Neurasthenie des späten neunzehnten Jahrhunderts wie zur sogenannten „Managerkrankheit“ der 1950er-Jahre herausstellt. Burnout reiht sich ein in eine Genealogie „wiederkehrende[r] Manifestationen psychischer und physischer Störungen in Phasen raschen gesellschaftlichen, technischen, ökonomischen Wandels“.

Allen Beiträgen ist das Plädoyer gemein, Burnout als Ausdruck dafür lesen, dass irgendetwas nicht stimmt. Spezifischer: Dass irgendetwas mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfasstheit nicht stimmt. Eine Gesellschaft, in der Individuen zunehmend durch erschöpfungsbedingte psychische Erkrankungen aus den Fugen geraten, ist selbst aus den Fugen geraten, befindet sich in einem Umbruch.

In auffälliger Diskrepanz zu einer Perspektive auf die gesellschaftlichen Dimensionen stehen die von Rolf Haubl und  Ulrich Bröckling untersuchten Sprachbilder und Bildsprachen des Burnout-Diskurses. Ob vom „leeren Akku“ und „leerem Tank“ als Folge eines „Lebens auf der Überholspur“ oder im „Hamsterrad“ die Rede ist, begleitet von Bildern eines abgebrannten Streichholzes oder einer niedergebrannten Kerze – in maschinistischer, energieregulatorischer und pyromaner Metaphorik deutet sich an, was in Selbsthilfebüchern und Therapieempfehlungen offen zum Ausdruck gebraucht wird: Angesprochen ist hier der Einzelne: „als verbrauchte Anzündhilfe“, dessen „individuelle Leistungsflamme“ erloschen ist, bisweilen als „Opfer der Verhältnisse“, aber mehr noch als für sein Leiden wie auch für die Aufhebung desselben in der Selbstverantwortung Stehender. Sie wenden sich an den sich und die Ressourcen seiner Arbeitskraft verwaltenden „Humankapitalisten“, der angehalten ist, „seine Energiebilanz zu überprüfen und Selbstfürsorgestrategien zu entwickeln, die diese Bilanz verbessern“.

Um den individualistischen Tenor (vulgär)psychologischer Ratgeberliteratur und medialer Darstellungen – Burnout sei eine Krankheit individuellen Versagens und Heilungs- wie auch Vorsorgemaßnahmen liegen im Bereich individueller Verantwortung – als ideologischen zu kennzeichnen, muss Burnout im Sinne einer gesellschaftlichen Symptomatik verstanden werden, als sozialpathologisches Phänomen, welches in Bezug zu setzen ist zu den sich vollziehenden Neugestaltungen der Art und Weise gesellschaftlicher Produktion im Übergang von einer ‚fordistischen‘ zur ‚postfordistischen‘ Produktionsweise.

Diesen Übergang analysierend, diskutieren G. Günter Voss und Cornelia Weiss Depression und Burnout als „Leiterkrankungen der entgrenzten und subjektivierten Arbeitswelt“. Ihre prägnante Darlegung der aktuellen arbeitssoziologischen Diskussion um den „umfassenden Strukturwandel“ in der „Erwerbslandschaft“ und dessen Verhältnis zu den sich vollziehenden Veränderungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene stellt auch den anderen Beiträgen der Aufsatzsammlung einen zeitdiagnostischen Horizont, vor dem allererst „Burnout“ als ein gesellschaftliches Symptom in den Blick zu bekommen ist.

Was sich in den Tendenzen einer „Entgrenzung“ und „Subjektivierung von Arbeit“ ausmachen lässt, sind neuartige Einwirkungsformen auf die Leistungspotentiale der Lohnarbeitenden, mit denen diese Potentiale intensiver und weitreichender der ökonomischen Verwertung zugeführt werden. Arbeitsorganisatorische Menschenführungstechniken wie jene der ‚indirekten Steuerung‘  wirken hierbei höchst ambivalent: Was sich als eine erstrebenswerte Zunahme von Eigenverantwortlichkeit und von Möglichkeiten der Einbringung subjektiver Qualitäten darstellt, und damit den Anschein eines größeren Freiheitsrahmens der Lohnarbeitenden vermittelt, erweist sich als „tiefer gehende betriebliche Nutzung der ‚Subjektivität‘ der Arbeitenden“.

Für den Typus, der gehalten ist, seine Ware Arbeitskraft gemäß dieser Bedingungen zu ‚verwalten‘, prägte Voss zusammen mit Hans J. Pongratz den Terminus „Arbeitskraftunternehmer“. Dieser ist weniger „passiver Befehlsempfänger“ – wie einst der frühindustrielle „proletarische Lohnarbeiter“ und der auf ihn folgende „verberuflichte Arbeitnehmer“ – als vielmehr „proaktiver Auftragnehmer mit unternehmerähnlichen Eigenschaften“. Er zeichnet sich durch ein Höchstmaß an Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung aus und ist stets mit dem Anspruch konfrontiert, in Arbeitsprozessen selbstorganisatorisch zu wirken. Im Zusammenspiel der Tendenzen einer „Entgrenzung von Arbeit“ mit jenen der „Subjektivierung von Arbeit“ zeigt sich, dass die Beschaffenheit der strukturellen Bedingungen des Lohnarbeitslebens sich höchst widersprüchlich zu den individuellen (Selbst-)Anforderungen verhalten.

Perfiderweise aber präsentieren sich diese „widersprüchlichen Konstellationen“ nicht als Folgeerscheinungen „externer struktureller Bedingungen“, sondern wirken „psychodynamisch als prekäre Selbstverstrickung“. Dies prädestiniert den Arbeitskraftunternehmer zu einem selbstüberfordernden und selbstausbeutenden Verhalten und plausibilisiert, warum es angemessen sein kann, depressive Erschöpfungssymptome und Burnout als Folgeerscheinungen dieser Ambivalenzen zu rekonstruieren.

Wenn Voss und Weiss eine „psychosoziale Verelendung großer gesellschaftlicher Gruppen“ prognostizieren, zeigt sich, dass uns die Begriffsschöpfungen des „Arbeitskraftunternehmers“ oder des Bröckling’schen „unternehmerischen Selbst“ nicht vorgaukeln müssen, dass wir es hier nur mit den Problemen des männlichen Vollzeitarbeiters in Festanstellung zu tun hätten. Auch sollten wir gerade in einer Diskussion des Phänomens Burnout nicht einer unhinterfragten gesellschaftlichen Norm von Lohnarbeit aufsitzen. Es ist durchaus möglich, wenn nicht gar geboten, hier Untersuchungen zu Burnout und häuslicher Reproduktionsarbeit wie auch Erwerbslosigkeit anzuschließen, Erschöpfungserscheinungen und ihre Ursachen auch geschlechterperspektivisch zu betrachten sowie Verbindungen zu aktuellen Debatten um Sorgearbeit und „gouvernementaler Prekarisierung“ (Isabell Lorey) herzustellen.

Dies möge bitte ohne den Versuch einer Fruchtbarmachung des Begriffes „Lebenskraft“ erfolgen. Denn auch wenn dieser hier nur vereinzelt auftaucht, scheint es bisweilen, als seien Michel Foucaults kritische Reflexionen biopolitischer Herrschaftstechniken nicht zur Kenntnis genommen worden. Anders wäre nicht zu erklären, wie Voss und Weiss ihre minutiösen Darlegungen gerade der Ausweitungen eines verwertungsbasierten Zugriffs auf alles, was Individuen als Subjekte konstituiert und worüber sie sich als Subjekte konstituieren, mit der Frage schließen, wie „angesichts des beschriebenen Wandels ein zukunftsfähiger Umgang mit den Menschen und mit ihrer Lebendigkeit in der Gesellschaft aussehen“ muss. Verbleibt diese Frage nicht gerade innerhalb einer Perspektive einer Beherrschung und Nutzbarmachung von Menschen?

Auch Neckel und Wagners Sichtweise kippt bisweilen in eine biopolitische im unkritischen Sinne, wenn sie in der „Burnout-Krise“ trotz „subjektivem Leid“ die Chance sehen, „einer neuen Art des Ressourcenmanagements zum Durchbruch zu verhelfen“: „den Selbsttechniken nachhaltigen Ressourcenmanagements“. Burnout also als Krise, die „eine Transformation des modernen Arbeitssubjekts“ einläutet, „das in Zeiten begrenzter Ressourcen haushälterischer mit seinen Kräften umgeht und sich möglicherweise gerade dadurch als gut angepasst an einen neuen Typus von ökonomischer Modernisierung erweist“? Deutlicher kann man die zynischen Komponenten des Schumpeter’schen Konzepts der ‚schöpferischen Zerstörung‘ wohl nicht herausstellen, wie dies – wenngleich unfreiwillig – im abschließenden Beitrag des Sammelbandes von den Herausgebern selbst vollzogen wird.

Dies als Quintessenz einer soziologischen Reflexion von Burnout zu nehmen, hieße darauf zu verzichten, nach der Möglichkeit von Widerständen und Kämpfen gerade jener zu fragen, die den ambivalenten Zumutungen postfordistischen Produzierens ausgesetzt sind. Und zwar so zu fragen, dass es gerade nicht um Anpassungsleistungen und Selbstoptimierungsstrategien der Betroffenen geht, sondern um die Anknüpfungspunkte einer Veränderung jener Bedingungen, die diese Zumutungen erzeugen.

Die Frage von Linda und Thorsten Heinemann, warum „es in der Gegenwartsgesellschaft kaum eine Option [ist], Überforderung einzugestehen und kürzer zu treten“, kann in Konfrontation mit Ulrich Bröcklings Anmerkung, dass Burnout eine „Zeitkrankheit“ sei, hier eine Reflexionsrichtung vorgeben. Auch wenn Zeitkrankheit von ihm eher im Sinne einer Zeitgeistkrankheit verstanden wird, ist Burnout doch auch und gerade eine Krankheit an der Zeit: Der Ausdruck einer grenzenlosen und intensivierten Verwertung der Zeit von Individuen, die sich keineswegs auf deren Lohnarbeitszeit erstreckt. Auch die sogenannte Freizeit wird in höherem Maße als je zuvor der Kapitalverwertung zugeführt.

Man könnte hier für einen „achtsameren Umgang mit dieser Ressource“ plädieren, wie Patrick Kury in Bezugnahme auf Paul Virilios Idee der Schaffung eines „Ministeriums für Zeit“. Man könnte gleichwohl die Marx’schen Überlegungen zu einer „wahrhaft disponiblen Zeit“ heranziehen, die sich auf die Mittel zur Freisetzung von Zeit und die Möglichkeiten einer aktiven Aneignung freigesetzter Zeit richten. Es ginge hier im Kern um die Reaktualisierung eines Moments, das lange Zeit unter dem Titel ‚Arbeitszeitverkürzung‘ ein Kampfziel ebendessen gewesen ist, was einst als ‚Arbeiterklasse‘ ein Begriff war. Doch obwohl Arbeitszeitverkürzung wieder im Zentrum von gewerkschaftlichen Kampagnen steht, befinden wir uns vor der Herausforderung, den Kampf um freie Zeit nicht nur als quantitative Aneignung von Zeit zu verstehen, sondern – qualitativ – einen anderen Umgang hiermit zu reflektieren: Nicht Betriebsamkeit auf regulierter Flamme, sondern Muße muss das Antidot zu Burnout sein.

Vor dem Hintergrund einer Gesamtschau aller Beiträge des Aufsatzbandes zeigt sich, dass eine Auseinandersetzung mit Burnout angemessen nur möglich ist, wenn das Phänomen Burnout als gesellschaftliche Pathologie – in Axel Honneths Worten als „Pathologie des Sozialen“ – verstanden und dennoch als individuelles Leiden ernstgenommen wird. Es ist zu reflektieren, inwiefern Burnout als Erschöpfungserscheinung nicht lediglich zu verstehen ist als individuelle Überforderung von Subjekten, die in ihrem Anpassungsvermögen dem gesellschaftlichen Wandel nicht hinterherkommen, sondern dass es gerade Charakteristikum dieses Wandels ist, gesellschaftliche Individuen zu überfordern. Es ist zu bedenken, dass physische und psychische Erschöpfungserscheinungen allgemeiner Ausdruck der Zumutungen der kapitalistischen Produktionsweise sind, und dass Burnout zugleich als leib-seelische Erschöpfung spezifisch ist für die besonderen geschichtlichen Veränderungen der Arbeitsorganisation in den letzten Jahrzehnten.

Wenn wir uns bisweilen eine sorgsamere Reflexion des kritischen Anspruches der jeweiligen Analysen wünschen, so sollten wir die gegenwärtige Verfasstheit akademischer Institutionen bedenken, die – auch und gerade im Zuge der Umstrukturierungen der letzten Jahre – schließlich selbst keineswegs frei sind von den neuartigen arbeitsorganisatorischen Zumutungen. Nicht ohne Grund gibt die Einleitung preis, dass die Idee zu dieser Publikation an einem Abend aufkam, an welchem in einer Bar auf den Einstand einer soziologischen Professur angestoßen wurde.

Treffen sich Soziologen in einer Bar und reden über Burnout? Die Zeiten stehen leider anders, als dass dies lediglich der Beginn eines schlechten Witzes wäre. Dass genau hierin der Beginn einer kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung liegen kann, gibt Anlass zur Hoffnung, dass die ‚Arbeiterklasse‘ mit ihren nach wie vor proletarisierten Erben noch nicht ganz verloren gegeben ist. Gegen Robert Castels Lakonie wäre so der provokatorische Impetus von André Gorz anzubringen, der sich zu Beginn der 1980er-Jahre mit seinem Buch “Adieu au Prolétariat“ ebenso von der Arbeiterklasse verabschiedete: Jedoch in der Absicht, eine Belebung der Kritik der Lohnarbeit einzuleiten.

Titelbild

Sighard Neckel / Greta Wagner (Hg.): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
220 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126660

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