Herrscher und Beherrschte im ‚Dazwischen’

Benjamin Bühler analysiert politische und literarische Texte der Frühen Neuzeit im Blick auf Grenzfiguren zwischen Mensch und Tier

Von Vera ZimmermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vera Zimmermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Mensch ist ein zoon politikon, ein „soziales, politisches Wesen”; das lehrt – mit dem Hinweis auf Aristoteles’ Politika – sogar der Duden. Die neueren Animal Studies, Human-Animal Studies oder (in den USA) auch die Anthrozoology – die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Beziehungen zwischen Menschen und Tieren hat viele Namen – verschiebt die Bedeutung des griechischen Wortes zoon um eine Nuance und macht sie zur „Politischen Zoologie”. So lautet jedenfalls der Titel eines 2007 von Anne von der Heiden und Joseph Vogl herausgegebenen Bandes sowie der diesjährigen Summer School des Nachwuchsnetzwerkes „Cultural and Literary Animal Studies” an der Universität Würzburg.

Benjamin Bühler hat seine Arbeit „Zwischen Tier und Mensch. Grenzfiguren des Politischen in der Frühen Neuzeit” nicht in die Tradition der Animal Studies gestellt – und diesen Forschungsansatz in seinem Buch auch nicht erwähnt. Ein möglicher Grund dafür wäre, dass er dem dieser Forschungsrichtung anhaftenden Ideologieverdacht ausweichen wollte. Offensichtlicher jedoch sind inhaltliche bzw. methodische Gründe. Der zweite Teil des Titels verrät es: Bühler geht es um Grenz-Figuren, also um zwischen Mensch und Tier angesiedelte Zeichenträger theoretischer und fiktionaler Texte. Er untersucht Literatur und politische Theorie der Frühen Neuzeit ausschließlich im Blick auf deren Funktionalisierung tierischer Eigenschaften, reale Tiere kommen nicht vor. Zentral ist bei Bühler der Begriff der Grenze, nicht das Tier.

Dem Berliner Literaturwissenschaftler geht es auch nicht um eine Darlegung der Argumente, anhand derer man in der Frühen Neuzeit Menschen von Tieren unterschied. Stattdessen stellt er fest, dass ebenjene Unterscheidung einen Grenzbereich markiert, in dem politische Fragen verhandelt wurden. Es ist dieses ‚Dazwischen’, das Bühler interessiert. So lautet denn auch seine zentrale These, „dass Grenzräume in Perioden des Umbruchs Unterscheidungen destabilisieren und damit deren Neufassung ermöglichen, dagegen in Perioden der Konsolidierung Unterscheidungen und damit Machtverhältnisse stabilisieren.“ Da also die Grenze bzw. der Grenzraum der zentrale Begriff der Studie ist, beginnt Bühler seine Untersuchung mit einem Überblick über die Etymologie und weitere Begriffsgeschichte dieser Termini. Dabei steht zum einen die politische Bedeutung von Grenzen, zum anderen deren Unbestimmtheit und Gemachtheit im Vordergrund. Insofern ist auf den ersten Blick der Titel „Zwischen Mensch und Tier“ irreführend. Über weite Strecken des Buches geht es überhaupt nicht um diesen Aspekt. Bühler kommt jedoch immer wieder darauf zurück, wenn es darum geht, Grenzfiguren zu benennen. Als solche macht er Tiergestalten wie den Reineke Fuchs und den Gestiefelten Kater aus, aber auch mythische Mischwesen, Monster, Hermaphrodite, Spione oder Migranten.

Im Anschluss an die damit geleistete Klärung des Untersuchungsgegenstands widmet sich Benjamin Bühler im zweiten Kapitel der Grenzfigur des Hirten. Wie ein solcher habe nach Thomas von Aquin ein König zu wirken. Mit Foucault kritisiert Bühler dieses Bild als eines, das die Untertanen zum reinen Gehorsam anleite, eine Steuerung ihres Verhaltens und sogar ihres Gewissens impliziere und somit das Abhängigkeitsverhältnis verstärke. Über Foucault hinaus geht die Analyse des Literaturwissenschaftlers, wenn er „die spezifische Rhetorizität” des Herde-Hirte-Modells untersucht. Dabei zeigt er eine Parallelität zwischen Herde und Hirte auf: Sei es nämlich Aufgabe des Hirten – in diesem Fall des Priesters –, die verirrten Schafe von den tugendhaften zu unterscheiden, bewege sich dieser selbst auf einer Grenze: der zwischen gutem und schlechtem Hirten und damit zwischen Mensch und Tier. Die Analyse von Thomas von Aquins Fürstenspiegel „De regimine Principium“ ergibt, dass darin die Tiere – und damit auch die nicht zu bekehrenden menschlichen Sünder – aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen sind. In der Metapher der stummen und abhängigen Herde werden sie wieder eingeschlossen, jedoch nur zu dem Zweck, mithilfe dieses Bildes die Machtverhältnisse zu stabilisieren.

Im dritten Kapitel bringt der Autor drei sehr unterschiedliche Bücher unter der Überschrift „Politische Theorie im Umbruch” zusammen: Erasmus von Rotterdams Fürstenspiegel „Institutio principis christiani“, Thomas Morus’ Roman „Utopia“ und Niccolò Machiavellis Buch „Il Principe“. Ihnen gemeinsam sei, dass sie ihre Zeit als Krise beschreiben, sie fänden aber unterschiedliche Strategien, mit dieser Krise umzugehen. Während Erasmus’ Fürstenspiegel die Grenze zwischen Mensch und Tier stabilisiere, pluralisiere Morus diese und verlagere sie mit der Erfindung der Gattung ‚Utopie’ auf das Verhältnis von Realität und Fiktion. Beiden gemein sei jedoch die Absicht, die Menschen mithilfe argumentativer und narrativer Strategien über die Schwelle des Tierischen hinaus zu bringen. Machiavelli allerdings kehrt diese Bewegung um: Seiner Forderung nach soll der Fürst zum Tier werden, zu einer Mischung aus Fuchs und Löwe, um seine Gegner zu überlisten und zu überwältigen.

Den Neustoizismus des Justus Lipsius charakterisiert Bühler als eine Abkehr vom christlichen Pastorat und Hinwendung zu einer Herrschaftsform, die auf Disziplinierung, Standhaftigkeit und Betonung der inneren Abhärtung – mit Foucault: auf „Technologien des Selbst” – basiert. Diese politische Theorie entfalte Lipsius in seiner „Politica“ in der literarischen Form des cento. Mit dieser Technik der Zusammenstellung eines Werks aus Versatzstücken bereits existierender Texte werde der im cento enthaltene politische Normbruch geschickt verdeckt. So legitimiere Lipsius beispielsweise den Betrug, jedenfalls den ‚leichten’ und den ‚mittleren’, also etwa Misstrauen, Verstellung, Bestechung und Täuschung. Wenn jedoch der Bruch mit der Moral dem Gemeinwohl diene, dann sei sogar der ‚schwere’ Betrug, also die Treulosigkeit oder Ungerechtigkeit, erlaubt. Der Fürst bewege sich somit im Grenzbereich zwischen Recht und Unrecht. Insofern könne der Fürst die Grenze zum ‚Tierischen’ überschreiten, das Volk müsse er jedoch aus dem Tierzustand in den des Menschen bringen und somit ‚zähmen’.

Im fünften und sechsten Kapitel nennt Bühler konkrete Grenzfiguren des sozialen Raums: den Reineke Fuchs im Tierepos sowie Picaro und Picara – also den Narr, aber auch die Hure oder Zigeunerin. Im Gegensatz zum listig im Grenzbereich agierenden Fuchs werde der Picaro traditionellerweise bekehrt und schreibe somit christliche Schemata fest. Werde der Fuchs in eine soziale Ordnung integriert, verweise das auf eine Wandlung innerhalb der politischen Sphäre, während dies im Falle des Picaro bei dessen Desintegration der Fall sei.

Hobbes’ Leviathan deutet Bühler im siebten Kapitel als eine Grenzfigur, deren Unbestimmtheit – er verkörpere „zugleich Ungeheuer, Tier, Maschine, Gott, Souverän und de[n] Staat selbst” – eine Flexibilität ermögliche, die es dem Herrscher erlaubt, zwischen legitimer und willkürlicher Macht zu wechseln. Der Leviathan müsse allein zur Selbstverteidigung „nach außen Tier, nach innen Mensch” sein, schließlich verhielten sich Staaten zueinander „wie Menschen im Naturzustand”.

Im achten und letzten Kapitel geht es um eine abstrakte Figur, die der Bevölkerung nämlich. Zahlen und Tabellen erzeugten ein neues, ein ‚erweitertes Regierungswissen’, wie es beispielsweise in Daniel Defoes „A Journal of the Plague Year“ vorgeführt werde. Indem die in einem Staat lebenden Individuen nur noch in Bezug auf deren Todes- und Geburtenzahlen oder die für sie benötigte Agrarfläche relevant seien, würden Menschen reduziert auf ihre ‚tierischen’ Eigenschaften. Dem widerspreche Johann Peter Süßmilch in seiner Abhandlung Die göttliche Ordnung. Doch obwohl er den Menschen aufgrund seiner Vernunft und Sprache sowie dessen Befähigung zum Ackerbau eindeutig vom Tier abgrenze, behandele er menschliche Populationen doch wie tierische. Die wichtigste Aufgabe des Regenten sei für ihn die Regulierung der Bevölkerung. So werde im 18. Jahrhundert der Mensch als Teil der Bevölkerung zum zentralen Objekt der politischen Ökonomie.

Im Schlussteil leitet Bühler zum 19. Jahrhundert über, das ein neues zentrales Thema habe: die politische Ökologie, also die Sorge um die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen. Ganz am Ende seiner Studie deutet der Literaturwissenschaftler an, was seine Ausführungen für die Gegenwart bedeuten könnten: „Figuren des Tiers haben […] Anteil an der Formierung und auch Störung politischer Wissensordnungen, was nicht nur für die Frühe Neuzeit gilt.” Wer darüber mehr erfahren will, muss zu dem bereits erwähnten Sammelband mit dem Titel „Politische Zoologie” greifen. Was die literarische Repräsentation von Tieren in Bezug auf politische Zusammenhänge in der Frühen Neuzeit angeht, informiert Bühler kenntnisreich und detailliert.

Titelbild

Benjamin Bühler: Zwischen Tier und Mensch. Grenzfiguren des Politischen in der Frühen Neuzeit.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2013.
252 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783770554522

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