Ein hartgesottener Nazi

Günter J. Trittel analysiert „NS-Ideologie und politische Praxis in der frühen Bundesrepublik“

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Aktion traf den Personenkreis, dem sie galt, völlig unvorbereitet. Am 14. und am 15. Januar 1953 verhafteten Mitarbeiter britischer Dienste sieben Männer, allesamt Figuren aus den mittleren Führungsebenen des NS-Regimes: darunter der Mediziner Gustav Adolf Scheel, ehemals Reichsstudentenführer und Gauleiter in Salzburg, den Hitler 1945 in seinem Testament als Kultusminister vorgesehen hatte; der frühere Hamburger Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann; der Arzt und Eugeniker, zeitweilig auch Führer des NS-Studentenbundes in Hamburg Heinrich Haselmeyer; der Journalist und stellvertretende Chef der Rundfunkabteilung im Propagandaministerium Karl Scharping. Als intellektueller Kopf und Netzwerker, auf den sich alsbald die Ermittlungen und das öffentliche Interesse konzentrierten, fungierte Werner Naumann, ein Protegé des Berliner Gauleiters und Propagandaministers Joseph Goebbels. Als dessen letzter Staatssekretär war er derjenige, der es von den Beteiligten in der Hierarchie der braunen Diktatur am weitesten gebracht hatte. Veranlasst hatte den Zugriff der britische Hohe Kommissar Kirkpatrick. Die Begründung lautete: Eine „Gruppe ehemaliger führender Nazis“ habe sich mit „Plänen zur Wiederergreifung der Macht in Westdeutschland“ befasst. Sie seien in Gewahrsam genommen worden, um herausfinden zu können, ob und inwieweit von deren Tätigkeit eine aktuelle oder potentielle Bedrohung für „die Sicherheit der alliierten Streitkräfte“ ausgehe.

Tatsächlich war der Protagonist, wie Trittel anhand detailliert ausgebreiteten Archivmaterials zeigt, der Kristallisationspunkt für weitläufige politische Ambitionen ehemaliger NS-Funktionäre. Geboren 1909, gehörte Naumann der ‚Kriegsjugendgeneration‘ an: zu jung, um in den Krieg zu ziehen, aber bemüht, sich danach – gleichsam kompensatorisch – durch besondere Radikalität und Gewaltbereitschaft hervorzutun. Er kam aus einer wohlsituierten Familie in Görlitz, die über städtischen und ländlichen Grundbesitz verfügte. Aus dem deutschnationalen Herkunftsmilieu strebte er früh hinaus, um sich dem Nationalsozialismus zuzuwenden. Noch als Primaner schloss er sich 1928 zunächst der SA und dann der Partei an. Als Günstling des schlesischen Gauleiters Helmuth Brückner und des SA-Generals Edmund Heines stieg er rasch auf, wurde 1933, gerade 24 Jahre alt, an die Spitze der SA-Brigade 9 in Stettin berufen. Die ‚Nacht der langen Messer‘, die Ermordung der SA-Führung Ende Juni 1934, überstand er zwar, aber nur um den Preis eines Karriereknicks. Parallel zur Fortsetzung des zuvor abgebrochenen Studiums der Nationalökonomie, das er in Breslau mit dem Erwerb des Doktorgrads abschloss, betrieb er seine Rehabilitierung, die er 1936 erreichte. Danach ging es erneut steil aufwärts. Von Goebbels ins Propagandaministerium geholt, rückte er dort in den Kriegsjahren zum Staatssekretär auf, unterbrochen jeweils von kürzeren Fronteinsätzen in der Uniform eines SS-Offiziers. Bis zum bitteren Ende agitierte er – ebenso unbeirrt wie sein Chef – für den Endsieg, kam unbeschadet aus dem Bunker unter der Reichskanzlei und dem eingeschlossenen Berlin heraus, tauchte ab in die Anonymität und trat erst 1950 wieder in das Licht der Öffentlichkeit.

Damit begann, so eine der Kapitelüberschriften, die „Suche nach einer postnationalsozialistischen Identität“ in der noch jungen Bundesrepublik. Das lief nicht auf Ab- oder Umkehr hinaus, sondern auf Beibehaltung und Revitalisierung nationalsozialistischer Kernüberzeugungen. Im Angesicht des Kalten Krieges glaubte Naumann an die Chance, politisch noch einmal eine Rolle spielen zu können. Gewiss, hier und da machte er zumindest rhetorisch leichte Abstriche, stempelte in verharmlosender Absicht die Konzentrationslager zu „Kinderkrankheiten“ ab, stilisierte sich und seinesgleichen wie schon vor 1945 neuerlich zur Speerspitze im Kampf gegen den Bolschewismus. Von der Vergangenheit zeichnete er, wie Trittel hervorhebt, das Bild „eines Nationalsozialismus ohne Judenmord“. Niederlage und Kapitulation hatten Naumanns Weltbild nicht erschüttert, die „Ideen von 1933“ markierten unverändert den Horizont seines Denkens und Trachtens. Liberalismus und Marxismus waren für ihn nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Beide hätten Autorität und Persönlichkeitswert ausgehöhlt, der Westen sei dadurch zum „Wegbereiter innerer Anarchie“ herabgesunken, daher außerstande, dem sowjetischen Expansionsstreben die Stirn zu bieten. „Das Abendland“, heißt es in einem unveröffentlichten Manuskript, könne nur dann „zu einem erfolgreichen Widerstand gegen den Osten“ mobilisiert werden, wenn man sich wieder zu jenen „Prinzipien“ bekenne, „die man gestern [gemeint sind die Jahre nach 1945] verdammt und verurteilt“ habe.

Spätestens im Sommer 1952 habe man beobachten können, notiert der Autor, dass Naumann in der rechten Szene zu einem gefragten Redner und Stichwortgeber avanciert sei. Sein Anliegen war es, dem abgewirtschafteten Nationalismus wieder eine politische Heimstatt zu geben. Sammlung und Bündelung der versprengten Kräfte, so lautete die Parole, Schaffung einer Plattform, um Mitläufern wie Funktionsträgern des NS-Regimes zu Einfluss und Gestaltungsmöglichkeit zu verhelfen. Der Aktionsraum beschränkte sich anfangs auf den Hintergrund der politischen Bühne, weitete sich aber zusehends aus. Es galt, Kontakte zu knüpfen, Konzepte zu entwickeln, publizistisches Terrain zu sondieren und zu besetzen, Chancen für eine neues autoritäres System auszuloten, gestützt auf eine Massenbewegung im alten ideologischen Gewand, nur leicht angepasst an die veränderten Zeitläufte, immer jedoch orientiert an der unverbrüchlichen Maxime, dass man „ein Ideal nicht verraten“ könne, dem man „von Jugend auf verhaftet“ gewesen sei.

Eine „gezielte Unterwanderungsstrategie“ vorhandener Gruppierungen und Parteien habe sich dahinter nicht verborgen, relativiert Trittel eine in der Literatur häufig anzutreffende These. Gleichwohl reichten zahlreiche Verbindungen in die FDP hinein. Diese waren personeller wie programmatisch-strategischer Art. Sie lagen insofern nahe, als die Landesverbände in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen einen prononciert nationalen Kurs steuerten, bemüht, auch die kleineren und mittleren NSDAP-Mitglieder für sich zu gewinnen. Einer der Gesprächspartner Naumanns hier war Ernst Achenbach, wie er Jahrgang 1909, ein promovierter Jurist aus gutem Hause, der als Gesandtschaftsrat an der Pariser Botschaft in die Deportation der französischen Juden involviert war. Nach dem Krieg war er einer der Anwälte im IG-Farben- und im Wilhelm-Straßen-Prozess. Dass er eine Generalamnestie der NS-Täter propagierte, entsprach der in der Bevölkerung verbreiteten Schlussstrich-Mentalität und deckte sich mit den Zielen der Gruppe um Naumann. In der NRW-FDP war Achenbach die rechte Hand des allerdings unbelasteten Verlegers und Vorsitzenden Friedrich Middelhauve, der ebenfalls an eine großflächige Sammlung der rechts von der CDU angesiedelten Elemente im Schoß der freien Demokraten glaubte.

Die Intervention der Briten schob derartigen Plänen und Perspektiven einen Riegel vor, zwang die Bundesregierung, ihrerseits Position zu beziehen, zumal Wahlen vor der Tür standen. Mehrfach brachte Kanzler Adenauer seine Überzeugung zu Gehör, dass es „früheren Nazis nicht gestattet“ werden dürfe, „im politischen Leben“ eine hervorgehobene Rolle zu spielen. Obwohl die Bundesanwaltschaft, nicht zuletzt unter dem Druck des Bonner Kabinetts, den Beschuldigten die „Absicht“ unterstellte, die Macht „auf legalem Wege nach Hitlers Vorbild“ zu ergreifen, lehnte der Bundesgerichtshof im Dezember 1954 die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Noch in der sechsmonatigen Untersuchungshaft hatte sich Naumann entschlossen, bei der Bundestagswahl für die rechtsradikale Deutsche Reichspartei anzutreten. Seine Wahlauftritte hatten eine beträchtliche Resonanz. Im Rahmen einer nachträglich veranlassten Entnazifizierung als Belasteter eingestuft, was ihm das aktive und passive Wahlrecht entzog, musste er jedoch auf die Kandidatur verzichten. Mit dem „desaströsen Wahlergebnis“, das die DRP am 6. September 1953 einfuhr, war nicht nur deren politisches Schicksal besiegelt, sondern auch das des Werner Naumann.

Die noch junge demokratische Ordnung der Bundesrepublik hatte in jenen Wochen und Monaten ihre Wehrhaftigkeit demonstriert. Es erscheint allerdings zweifelhaft, so der Autor, ob Naumanns „rückwärtsgewandtes, jeglicher geistigen Originalität entbehrendes Konzept“ ihr überhaupt etwas hätte anhaben können. Immerhin, für die weitere Entwicklung der FDP war die Affäre Naumann von nicht zu überschätzender Bedeutung. Denn das dort von Teilen der Partei vertretene Projekt einer „nationalen Sammlung“ unter Einschluss ehemaliger NS-Aktivisten war damit „endgültig diskreditiert.“ Dies mit einer überaus detaillierten Analyse ins Gedächtnis gerufen zu haben, ist das Verdienst des vorliegenden Buches. Das gilt auch dann, wenn die Freude an der Lektüre durch Schachtelsätze und einen überbordenden Anmerkungsapparat bisweilen arg strapaziert wird. Nicht selten bleiben für den Text nur drei bis sechs Zeilen. Der Autor hätte gut daran getan, die vielen Exkurse und Erläuterungen aus den Fußnoten in den eigentlichen Text zu verpflanzen. Denn dort und nirgendwo anders gehören sie hin.

Titelbild

Günter Trittel: "Man kann ein Ideal nicht verraten …". Werner Naumann - NS-Ideologie und politische Praxis in der frühen Bundesrepublik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
347 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313002

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch