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Achim Aurnhammer zieht Früchte aus dem Quellenstudium und veröffentlicht eine Monografie zu intertextuellen Bezügen in Arthur Schnitzlers Prosawerk

Von Valérie LeyhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Valérie Leyh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl Arthur Schnitzler als einer der größten Schriftsteller der Moderne gilt, liegen seine Werke bisher nur teilweise in einer historisch-kritischen Gesamtausgabe vor. Dieses Defizit soll nun in den kommenden Jahren behoben werden: Ein internationales Projekt, bei dem die Universitäten Wien, Wuppertal und Cambridge mit der Cambridge University Library, dem Arthur-Schnitzler-Archiv an der Universität Freiburg, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie dem Kompetenzzentrum in Trier zusammenarbeiten, hat zum Ziel, Schnitzlers (in Cambridge liegenden) Nachlass aufzuarbeiten und Schnitzlers Werke teils in Buchform, teils in der Form einer digitalen Edition herauszugeben. Aus Schnitzlers früher Schaffensphase sind bereits mehrere Werke („Lieutenant Gustl“, der „Anatol“-Zyklus und „Sterben“) in Wien erarbeitet und im de Gruyter-Verlag veröffentlicht worden.

Natürlich sollte eine solche Editionsarbeit nicht nur Selbstzweck sein, sondern auch eine bessere literaturwissenschaftliche beziehungsweise kulturwissenschaftliche Erforschung von Schnitzlers Werken ermöglichen. Wie Editionswissenschaft und Literaturwissenschaft zusammenwirken und sich gegenseitig anregen können, dies zeigt Achim Aurnhammer in seiner Monografie zu Arthur Schnitzlers intertextuellem Erzählen.

In der Forschung ist hinlänglich bekannt, dass sich Schnitzler in seinen Werken einerseits durch mehr oder weniger explizite Bezüge auf Werke wie Gustave Flauberts „Madame Bovary“ oder Édouard Dujardins „Les lauriers sont coupés“ bezieht, er andererseits in seiner späten Schaffensperiode auch auf eigene frühere Werke verweist. Die intertextuellen Bezüge in Schnitzlers Werk faszinieren Aurnhammer auch schon seit längerer Zeit, denn bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren hat er zwei Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht. Dies also vorab: Hier liegt kein vollkommen neuer Ansatz vor, es geht vielmehr darum, die bereits bestehenden Forschungsergebnisse zur Intertextualität bei Schnitzler neu aufzunehmen und sie in einem größeren Werk zu perspektivieren. Denn durch die Darstellung und Analyse der Quellen, die Schnitzlers langwierige Arbeitsweise offenlegen, können präzisere Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie Schnitzler die intertextuellen Bezüge innerhalb der verschiedenen Textfassungen bearbeitet und umgestaltet.

Aurnhammers Monografie stützt sich somit zugleich auf ältere Forschung und auf neue Erkenntnisse, um das bisher zwar schon mehrfach erforschte, aber noch lange nicht ausgeschöpfte Thema der Intertextualität gründlicher zu beleuchten. Seine Studie nimmt sich außerdem vor, die Ansicht mancher Zeitgenossen Schnitzlers, Intertextualität sei ein „Symptom ästhetischer Uneigenständigkeit“, zu revidieren. Er will zeigen, dass Intertextualität dem Schnitzler’schen Arbeitsprozess inhärent ist, dass es sein ganzes Werk durchdringt und auch seine Qualität ausmacht. Man kann sagen, dass Aurnhammer dieses Unterfangen gelungen ist.

Der Monografie liegt eine solide Struktur zugrunde: Nach einigen methodischen Überlegungen zur Narratologie und Intertextualität widmet sich Aurnhammer einer textnahen und scharfsinnigen Analyse von sieben Prosatexten, die von Schnitzlers frühem Werk „Die Toten schweigen“ über die Erzählungen „Die Nächste“, „Lieutenant Gustl“, „Andreas Thameyers letzter Brief“ und „Der letzte Brief eines Literaten“ schließlich bis zu den späten Meisterwerken „Fräulein Else“ und „Traumnovelle“ reichen.

Auch die einzelnen Analysen sind schlüssig strukturiert: Aurnhammer legt zunächst die oft komplexe Textgenese dar, untersucht anschließend die Erzählstrukturen und -verfahren der jeweiligen Werke, um sich schließlich genauer den einzelnen intertextuellen Bezügen „in konstellativer, thematischer und struktureller Hinsicht“ zu widmen. Diese Präzision erweist sich als unumgänglich, um zu bestimmen, ob die Anspielungen „figural“ oder „narratorial“ motiviert sind und welche Funktion die intertextuellen Bezüge auf der jeweiligen Ebene annehmen. Aurnhammer geht auch hier systematisch vor, da er zunächst auf die Kontinuitäten zwischen Schnitzlers Werk und dem Prätext eingeht, anschließend aber zeigt, wie sich Schnitzler von letzterem distanziert und welche ästhetischen und poetologischen Folgen dies für das eigene Werk hat.

Einen besonderen Schwerpunkt legt Aurnhammer auf unzuverlässige Erzählfiguren wie Andreas Thameyer und auf Figuren wie Fridolin und Else, die Gehörtes, Gelesenes und Erlebtes unentwegt miteinander vermischen. Der Zusammenhang dieser personalen Erzählverfahren mit intertextuellen Bezügen lässt sich aus psychologischer Perspektive rechtfertigen: „Die Personalisierung des Erzählens und die mangelnde Glaubwürdigkeit der Erzählinstanzen zeigt sich auch in einer starken Literarisierung und gezielten Camouflage, ja die Intertextualität wird geradezu zu einem Merkmal dieser mehr oder weniger bewussten Verstellungstendenz der Erzählfiguren.“ So begegnet man in Schnitzlers Erzählungen immer wieder Figuren, die – so Aurnhammers These – ihr Leben anhand von Texten (projektiv, literarisch oder im Traum visionär) „überformen“. Als besonders überzeugendes Beispiel für Schnitzlers „psychologische[n] Einsatz intertextueller Bezüge“ sei hier die kurze Erzählung „Der letzte Brief eines Literaten“ erwähnt, in der gezeigt wird, wie der Literat Goethes „Werther“ zwar imitiert, dadurch aber letztlich als „Getriebener seiner eigenen Selbstinszenierung und Selbsttäuschung“ erscheint. Aurnhammer beschreibt ferner, wie diese progressive Subjektivierung und Psychologisierung intertextueller Strukturen auch rezeptionsästhetische Folgen hat, da sie dem Leser höchste Aufmerksamkeit und eine kritische Haltung abverlangt. „Sprachlich-stilistische Variation und äußere Gliederung, aber auch leitmotivische Reizwörter und intertextuelle Bezüge“ können dem Leser wiederum dazu verhelfen, sich von der subjektiven, unzuverlässigen Sicht der Erzählfiguren zu distanzieren.

Durch die facettenreichen intertextuellen Bezüge, die sich sowohl auf literarische als auch auf nicht-literarische Prätexte beziehen und die Aurnhammer minutiös herausarbeitet, erfährt der Leser viel über Schnitzlers Schreibwerkstatt, über den Autor als Schriftsteller und als unersättlichen Leser. Es wird indirekt der Vorgang beschrieben, wie Schnitzler den literarischen Kanon und die zeitgenössischen Werke aufnahm, sozusagen ‚einspeiste‘, um sie später dann in seinen eigenen Erzählungen zu verarbeiten. Mag man auch nicht unbedingt sämtliche Bezüge nachvollziehen können und manche als spekulativ betrachten, immer wieder gelingt es Aurnhammer, den Leser durch präzise Nachweise und Argumentationen zu überzeugen. Er legt überdies Wert darauf, seine Thesen zu plausibilisieren, indem er regelmäßig auf Schnitzlers „Leseliste und virtuelle Bibliothek“ verweist. Dieses Arbeitsinstrument, das Aurnhammer selbst erarbeitet hat, ist in diesem Jahr bei Ergon als Buch erschienen.

Die Fülle an Anspielungen, die natürlich aus Aurnhammers Sicht Schnitzlers Leistung als Autor hervorheben soll, beeinträchtigt die Lektüre eher insofern, als sie der Lesbarkeit an einigen Stellen entgegenwirkt und zu (teils auch stilistischen) Redundanzen führt. Es stellt sich ab einem bestimmten Zeitpunkt der Eindruck eines Déjà-vu ein, der sich an einer flagranten Stelle sogar offen bestätigt: Der intertextuelle Bezug zu Otfried Mylius’ „Der ‚Wilde Mann‘ und das ‚Feuerzeug‘“ wird sowohl in der Einleitung als auch im Kapitel zur „Traumnovelle“ ausführlich, mit demselben Zitat und einem quasi identischen Kommentar dargelegt. Eine konsequentere Revision des Textes hätte diese Tendenz zur Wiederholung mindern, die Leselust wiederum steigern können. Dass diese genauere Überarbeitung nicht stattfinden konnte, ist bedauerlich, denn das doppelte Verdienst, sich einer ausführlichen Textlektüre gewidmet und die umfänglichen Forschungsergebnisse anschaulich und einleuchtend dargestellt zu haben, wird dadurch etwas geschwächt.

Eine, wenn nicht die wesentliche Leistung dieser Arbeit vermögen diese Mängel aber nicht zu überschatten. Obwohl es Absicht der Studie ist, mit archäologischem Gespür die Prätexte auszugraben und näher zu beleuchten, geschieht dies immer mit dem Blick auf den Schnitzler’schen Text und dessen Innovativkraft. Schnitzlers erzählerische Brillanz, seine Fähigkeit, durch kleine, unscheinbare Verschiebungen große Veränderungen zu bewirken, kann man nach der Lektüre dieser Monografie nur nochmals bewundern – und auch oder gerade damit hat diese Arbeit ihr Ziel erreicht.

Titelbild

Achim Aurnhammer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen.
De Gruyter, Berlin 2013.
306 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110307504

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