Die tatsächliche Beschaffenheit des Menschen

Zum Tode von Franz Hillebrandt – einem Schulbeispiel gescheiterter Autorschaft

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Die „tatsächliche Beschaffenheit des Menschen“, so Kommissar Schröder in Franz Hillebrandts Roman Jagdsaison (2001), ist „entsetzlich“. Längst hat sich Schröder in den Alkohol geflüchtet, denn sein Alltag als Ermittler ist deprimierend, ja demütigend, und so führt er – völlig unverständlich für seine Kollegen – ständig die Apokalypse des Johannes im Munde. Gottes „Schöpfung“, so „nichtig und leer“, wie sie mittlerweile ist, muss, Schröders Verständnis nach, als Tat des Bösen gelten – mitten im Auge Gottes, quasi in dessen blindem Fleck, ereignet sich das Unvorstellbare: „Mädchen wurden bestialisch traktiert, mehr als nur geschlechtlich vergewaltigt, getötet, zerstückelt, weggeworfen. Kinder. Nicht nur Mädchen.“

Auch Franz Hillebrandt (1951–2013) war mit seiner Welt zunehmend überkreuz. Der Erfolg als Autor wollte sich nicht einstellen und ließ sich auch nicht erzwingen. Die zahlreichen Manuskripte in seiner Schublade fanden keinen Verleger. Die Ehe brach auseinander, und es kam der Krebs, um ihn zu besiegen.

Hillebrandt ist das Schulbeispiel einer gescheiterten Autorschaft. Sein Erstling, die Erzählung Der sich selbst erfüllende Prophezeihund, erschien 1993 im Friedl Brehm Verlag als Band 1 der Reihe „Friedl Brehms Tierleben“. Doch der bairische Verlag war wirtschaftlich angeschlagen, eigentlich am Ende. Der einzige Autor im Programm, der sich bislang noch gut bis passabel verkauft hatte, war der österreichische Dramatiker Felix Mitterer. Dieser war mit seinen neuen Arbeiten jedoch längst zu Haymon gewechselt und zog nun auch sein Frühwerk vom Verlag ab. Hillebrandts Erzählung blieb die letzte Veröffentlichung im Hause Brehm, dessen Bücherlager sich an irgendeinem Münchener Straßenrand in Altpapier verwandelte.

Eine Chance bekam der nicht mehr ganz junge Autor, der bei Hanser, Piper, List und anderen Münchener Verlagen bereits abgeblitzt war, 2001 beim fünf Jahre zuvor gegründeten Elfenbein Verlag. Als Lektor stellten Ingo Držečnik und Roman Pliske dem Autor den begnadeten jungen Literaturwissenschaftler Ralf Georg Bogner zur Seite. Doch auf Bogner wollte Hillebrandt nicht hören, und so kam seine erste Romanveröffentlichung Jagdsaison mit all ihren Überdrehtheiten auf die Welt – dennoch mit erheblichem Potential, wie zu erkennen war.

Erzählt wird hier ein ganzes Tableau skurriler Figuren, darunter „Madagaskar“, der sich als Künstler versteht. Noch vor kurzem hat er seine Drehorgel, ein Äffchen auf seiner Schulter, durch die Straßen von Brast in Ostwestfalen geschoben. Dann starb Suleyman III., und der Leierkasten wurde von Bruno Schlegel, einem windigen und zugleich erfolgreichen Unternehmer, mutwillig zerstört. Madagaskar, nicht zum ersten Mal im Leben seiner Existenzgrundlage beraubt, nimmt Rache und lastet Bruno alles Böse an, das sich in der dargestellten Welt ereignet. Hillebrandt schildert uns eine Welt, die nach vielfältigen Umschichtungen völlig zu zerfallen droht. Diese Welt ist seit dem ‚Dritten Reich’, seit Faschismus und Stalinismus, aus den Fugen geraten. Deutschland, „der Boden der allgemeinen Zwietracht“ (Jörg Friedrich), ist moralisch und ästhetisch mehrfach „durchgepflügt“ worden, zwei totalitäre Systeme und zwei Weltkriege haben gleich mehreren Generationen all den Jammer aufgeladen, den die Zeitläufte für ein irdisches Dasein bereithalten, und so bestimmt der Einzelne, welche Moral er noch gelten lassen möchte – im Zweifelsfall nur die eigene. Auch Madagaskars Lebensgeschichte nahm einen tragischen Verlauf. Als Kind überlebte er das Konzentrationslager, indem er das Bewusstsein ausschaltete: „Schwer zu erklären, aber so muss es sein. Es läuft auf Sparflamme. Ein Kleinkind, welches sich die Augen zuhält und sich dann einbildet, man könne es nun auch nicht mehr erblicken. Bei mir ist’s letztlich genauso lächerlich, aber es funktioniert. Das kommt daher, weil, zwischen neunzehnhundertdreiundvierzig und fünfundvierzig, da war ich sozusagen tot. Über zwei Jahre lang konnte ich damals von einer Sekunde auf die andere zum Tode verurteilt sein. Vielleicht habe ich nur Glück gehabt, was ich nicht so recht glauben kann, eher war es wohl so, dass ich mich in dieser Zeit tot fühlte und deshalb als Lebender nicht so richtig registriert wurde.“ Nach dem Krieg hat sich Madagaskar ein Leben am Rande der Gesellschaft eingerichtet. Als Künstler fristete er sein dürftiges Dasein dadurch, dass er von Haustür zu Haustür oder von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zog und niemandem beschwerlich fiel. Doch jetzt ist seine Existenzgrundlage zerstört – nun wird er selbst zum Täter.

Die Eigenschaft, sich unsichtbar zu machen, eignet auch der Erzählinstanz in Jagdsaison. Quasi unter einer Tarnkappe sitzt sie mit dabei, wenn sich die 19-jährige Nymphomanin Annelie von ihrem Freund Hardi beschälen lässt, wenn Robert Krugk sein Jagdgewehr auf Hardi anlegt, um sich dann an Annelie gütlich zu tun. Oder wenn im Revier gewildert wird und Annelie, dieses Unglückswesen, ihrem Mörder in die Falle rennt – als wäre sie „in eine Gegend außerhalb der Welt geraten“. Der niemals sichtbare, immer gegenwärtige und somit erfahrbare Erzähler weiß auch, was die Figuren, die er auf seinem schrecklichen Tableau hin- und herschiebt, denken und empfinden. Und was anfangs vielleicht als wildes, unübersichtliches Ensemble heterogener Figuren und Ereignisse wirken mag, verknüpft sich zu einem engmaschigen Netz notwendiger Beziehungen. Wahnwitzige Verhaltensweisen erscheinen plötzlich als motiviert und plausibel – als könne die Welt nur so brutal sein, wie sie ist, und als müsse das Leben an Wahrscheinlichkeit verlieren und an Zwanghaftigkeit gewinnen.

Eine Ursache des Bösen ist in der dargestellten Welt die entfesselte Erotomanie, die der unsterbliche schwedische Naturforscher Carl von Linné zu den pathetischen Geisteskrankheiten rechnete. Franz Hillebrandt kleidet die amourösen Exzesse und erotischen Verstrickungen seines Personals in ein Satyricon, wobei Frevel und Pathos das deftig und hochtourig erzählte, unsere Gesellschaft überzeichnende Sittenbild vulgär grundieren. Viele der hier aufgebotenen Verhältnisse sind Dreiecksverhältnisse, die sozial und topografisch mehrfach gespiegelt werden. Während sich das Sozialsystem aufzulösen scheint, offenbart sich ein Beziehungsgeflecht, das auf Berechnung, dem Versorgungsaspekt, und auf Triebbefriedigung, dem Vermehrungsaspekt, wesentlich beruht.

Der Autor hat seine Geschichte erzählerisch grell angelegt und gönnt dem Leser nur selten einmal eine Verschnaufpause. Er entwirft in seinem Roman eine kaputte und korrumpierte Gesellschaft, und seine Figuren eint ihre Neigung zur Selbstzerstörung und zur „geistigen Verwahrlosung“. Sie legen unappetitliche Verhaltensweisen an den Tag, und die Männer erwerben das Jagdrecht, um ihrer Zerstörungswut ungehemmt frönen zu können. Die Verwilderung des sozialen Raumes wird auch topografisch spürbar. Die Psychiatrie beispielsweise liegt am Waldrand und verfällt immer mehr: Der Wald, heißt es, sei nicht mehr auf Distanz zu halten. Die Protagonisten des Romans, dies wird immer klarer deutlich, führen ein Leben bewusst ohne Zukunft.

Persönlich habe ich Franz Hillebrandt in einem Hauptseminar Volker Hoffmanns an der Ludwig Maximilians-Universität München kennengelernt; damals hatte der angehende Autor bereits eine Talentprobe in Herbert Wiesners „Münchner Anthologie“ Stadtbesichtigung (1982) abgelegt. Auf dem Lehrplan aber standen Paul Wühr und sein Roman Das falsche Buch (1983), und Franz erschien mir damals als gut aufgelegter Student älteren Semesters, der die Germanistik nicht ganz erst zu nehmen schien; jedenfalls besuchte er schon das Oberseminar und saß bereits an seiner Magisterarbeit. Über Paul Wühr verfasste er dann einen brillanten Essay, Ein schlimmes Buch (1987) überschrieben, der viel über sein Selbstverständnis als Autor verrät. Es gelang ihm hier, in der Analyse, Das falsche Buch als „mehrfach geschichteten Widerspruch“ in sich darzustellen, als virtuose Paradoxie, die sich „selber richtig ad absurdum“ führt. Das Modell faszinierte ihn so sehr, dass er ihm ‚ein Gleiches’ an die Seite stellte – die Novelle Der sich selbst erfüllende Prophezeihund. In dieser Novelle tritt der Autor als Erzähler selber auf, er ist allerdings „stark beschnitten“, seit ein Weinhändler aus Besançon ihn unter der verkorksten Anschrift „Franz Lebrant“ belieferte.

Eines Tages brachte Franz mir ein Manuskript auf meine Bude in der Studentenstadt , „damit die Schrift sich erfülle“. Eine Flasche Rotwein gab es obendrein, für den Fall, dass das innere Nichts durch die Lektüre allein nicht zu beseitigen wäre. Den Roman, Der Infant genannt, habe ich damals auf einen Sitz und mit Begeisterung gelesen. Es ist zu hoffen, dass er einen Verleger finden wird und dem viel zu früh Verstorbenen wenigstens posthum zu Aufmerksamkeit verhilft.

Franz Hillebrandt: Der sich selbst erfüllende Prophezeihund.
Friedl Brehm Verlag, München 1993.

Franz Hillebrandt: Jagdsaison.
Elfenbein Verlag, Heidelberg 2001.