Die Ordnung der Poesie

Michael Lentz knöpft sich die feine Dame Rhetorik vor

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frankfurter Poetik-Vorlesung ist eine Ordnungsinstanz erster Güte im literarischen Leben. Nirgends geben, seit 1959, Schriftsteller eindringlicher Auskunft über Gründe und Abgründe ihres Schreibens als hier. Viele nutzen die Gelegenheit, um ihr dichterisches Selbstbild auszumalen, und scheuen dabei nicht vor unkonventionellen Mitteln zurück. Die Zuhörer, die zur Kunst die Regel erklärt bekommen möchten, überraschte 2011 Thomas Meinecke mit Selbsterklärungen außerhalb jeder Regel, als er munter im Hörsaal Schallplatten auflegte und Rezensionen zu seinen Werken verlas.

Auch der 1964 in Düren geborene Klang- und Sprachvirtuose Michael Lentz erlaubte sich bei der ersten Poetikvorlesung Anfang Januar 2013 einen besonderen Spaß mit dem Publikum. Der Dichter trat auf und stellte eine Renaissance-Abbildung der Rhetorik vor. Wenn man den Berichten glaubt, muss das Erstaunen groß gewesen sein, als dann auf einmal der echte Michael Lentz neben seinen als Michael Lentz kostümierten Künstlerkollegen Ulrich Winters ans Pult trat.

Mit der sanften Entkleidung der feinen Dame Rhetorica beginnen Lentz’ Frankfurter Poetik-Vorlesungen, die der S. Fischer Verlag nun in einem stattlichen Hardcover-Band gedruckt hat. Lentz nimmt sich nichts Geringeres vor, als die Tradition der Rhetorik in die Dichtung unserer Zeit zu übersetzen, und bedient sich dabei der klassischen Ordnung der Redetextproduktion von inventio (Stoff-Findung), dispositio (Anordnung), elocutio (Ausarbeitung und Einkleidung), memoria (Erinnerungstraining) und actio (Vortrag). Damit ist ein Maß für die Maßlosigkeit der dichterischen Fantasie, eine Regelpoetik gegen die Einflussangst gefunden, wie der „ästhetische Freelancer“ Lentz schreibt: „Geistige Einkünfte in geregelten Bahnen“. Seine Stoffquellen sind theoretische Werke von Quintilian über Friedrich Schlegel bis Niklas Luhmann, voran das „Handbuch der literarischen Rhetorik“, und die Beispiele, an denen die poetologischen Topoi durchexerziert werden, stammen vornehmlich aus der Lyrik nach 1945, von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Ror Wolf und vom Autor selbst, so die Erzählung „Muttersterben“ (2001) und der Roman „Liebeserklärung“ (2003). So vollzieht Michael Lentz auf findige Weise die Wiedergeburt der Rhetorik aus der Analyse des sprachlichen Kunstwerks nach. Rhetorik ist, schreibt er, „das zur Praxis anstiftende, dieser also vorangehende Regelwerk, das gleichzeitig die Regeln gibt, nach denen das rhetorikinduzierte ‚Werk‘ wiederum zu analysieren ist“.

Die Entkleidungsszene am Anfang der Vorlesungen ist prototypisch für das Vorgehen von Lentz, das mit anschaulichen Exempla beginnt, theoretisch fundierten Auslegungen fortfährt und häufig in schönen Aperçus endet. Etwa zum Zusammenhang von Rhetorik und Imaginärem: „Die Rhetorik ist erfunden worden, um zu erfinden“.

Auf dem Kupferstich von Cesare Bassano aus dem Jahr 1626 ist die Dame Rhetorica zu sehen, in leichter Aufsicht, etwas geneigt mit hüftsteifen Gelenken, in zusammengewürfelter Garderobe gekleidet. Das geblümte Kleid – Zeichen für den Redeschmuck – lässt durch das Heben des linken Arms das Innenfutter sehen: die „Kehrseite der Rede“. So ist jede Einzelheit und zugleich das Gesamtbild allegorisch schwer befrachtet. Die Dame verkörpert eine Kunst, bei der Schrift zur Stimme, Sprache zur Rede wird. Emblematisch ist auch die dreigliedrige Kette, die ihr merkwürdigerweise aus dem Mund fließt und zu drei Hundeköpfen führt, die aus einem Sack zu ihren Füßen wachsen. Diese Kette repräsentiert die drei Ebenen der Stillehre (erhabenen, mittleren und niederen Stil), die hier aber „gleichstrangig und gleichrangig“ nebeneinander verlaufen, orientiert nur an der angemessenen Entsprechung von Sache, Anlass und Sprache (dem aptum).

Auf den Stil, die Ausdrucksebene also, läuft diese rhetorische Poetik von Michael Lentz letztlich hinaus. Der Stil regelt den Untergrund des gesprochenen Textes, der für den Textperformer Lentz mehr ist als nur eine phonetische Abbildung des Schrifttextes. Am lehrreichsten sind seine Ausführungen immer da, wo der kalkulierte Bruch mit der poetischen Lizenz zum Einsatz des Redeschmucks besprochen wird, in Listen- Anagramm- und Palindromgedichten, in biografischen Änigmatisierungen, Camouflagen oder Bildgedichten.

Anstrengend mögen diese Poetikvorlesungen wohl manchmal für Zuhörer gewesen sein, ein intellektueller Genuss sind sie für den Leser. Michael Lentz entkleidet die Ikone der Rhetorica, ohne ihre Kunst zu entblößen, die in Zeiten, wo sprachliche Korrektheit (latinitas) oft nur auf möglichst tabufreies, politisch korrektes Sprechen reduziert wird, an Bedeutung gewinnt. Diese Poetikvorlesungen sind selbst ein Kunststück der Theorie und Technik gesprochener und zur Schrift gewordener Rede. So kann sich die feine Dame Rhetorica heute durchaus sehen lassen.

Titelbild

Michael Lentz: Atmen Ordnung Atmen. Frankfurter Poetikvorlesungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
335 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783100439376

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