Lieber eine Ameise sein

Mizuko Masudas Meditation über den Wunsch nach weniger Mensch

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Einzeller“ von Mizuko Masuda (geboren 1948) ist ein Text, der in der Mitte der 1980er Jahre entstand, also in einer Zeit, in der die japanische Literatur sich noch als eine Literatur gebildeter Schichten gab – im Modus eines bildungsbürgerlichen Existenzialismus. Man zweifelt insgesamt am Menschsein, am Daseinssinn des denkend angelegten, oft aber nur hohle Reden schwingenden Humanoiden. Zu den traurigen Limitationen, denen diese Gattung unterliegt, zählen Einsamkeits- und Isolationsgefühle, die oft unerfreulichen sozialen Interaktionen sowie der Selbstzweifel und die Erkenntnis eigener Unzulänglichkeiten schon beim durchschnittlich begabten Individuum. Mit diesem Wissen im Kopf erscheint sogar der Alltag einer Ameise erstrebenswerter: Sie erledigt die ihr bestimmten Aufgaben ohne jedes Zaudern und weiß nicht um die Kompliziertheit anderer Lebensformen.

Ein einsamer Student im „Haus zur Kiefer“

Shiba Mikio, Student der Agrarwissenschaftlichen Fakultät mit dem Brotberuf Nachhilfelehrer, möchte kurz vor seinem Abschluss der Zivilisation entfliehen. Um die letzte Arbeit schreiben zu können, hat er sich in einen traditionellen Berggasthof eingemietet – ein Szenario, das auf die zeitgeschichtliche Dimension des Texts verweist. Hier wird das Bild des grüblerischen (männlichen) Jungakademikers entworfen, der sich ganz seinen Forschungen widmet und sich aus der Welt der Menschen zurückzieht. In seiner Einsiedelei hofft er auf Ruhe und Abstand zu allem.

Mikio fällt es schwer, positive Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, er bleibt deshalb gerne für sich. Dies mag vor allem daran liegen, erklärt der Text, dass er als Kind schon früh seine Mutter verloren hat. Auch der Vater stirbt, als Mikio noch ein sechzehnjähriger Schüler ist; bei entfernten Verwandten will er nicht bleiben, er lernt es, alleine zurechtzukommen. Nach einiger Zeit sind die Ersparnisse des Vaters jedoch aufgebraucht und er muss sich eigenständig seinen Unterhalt als Hauslehrer für Schüler verdienen, die sich auf Prüfungen vorbereiten.

Widerliche Frauen mittleren Alters

Belastend ist das Hauslehrerleben für den mittlerweile 25-jährigen Mikio nicht nur, weil er viele Stunden für seine Schüler opfern muss, sondern weil es wenig erfreulich ist, mit deren Müttern zusammenzutreffen. Mikio hat einen regelrechten Hass auf diese Frauen entwickelt. Die Stimme des allwissenden Erzählers in „Der Einzeller“ erläutert es anschaulich: „Er wollte das unnütze Geschwätz von Frauen einfach nicht mehr hören“, er kann ihre „aufdringliche, stichelnde Redeweise“ nicht ertragen und erkennt, „wie sehr er Frauen immer als etwas Widernatürliches empfunden und sich von ihnen abgestoßen gefühlt hatte“. Weiter heißt es: „Kompliziert wurde es für ihn, wenn einer Mutter irgendetwas nicht zu gefallen schien und sie dann, ohne klipp und klar zu sagen, um was es genau ging, stichelnd und durch die Blume ironische Bemerkungen machte, ernsthaft schmollte oder maß- und sinnlos eine geradezu verletzende übertriebene Höflichkeit an den Tag legte“. Die passive Aggressivität der japanischen Frau in den mittleren Jahren löst in ihm, dem dieses Wesen fremd ist, eine „sinnlose Wut“ aus.

Nach der Universität die Leere

Während des Besuchs im Berggasthof reflektiert Mikio seine Vergangenheit und sein aktuelles Bestreben, an der Universität unter „Professor T“ Karriere machen zu wollen: Eigentlich fehlt ihm die wahre Begabung zum Forscher. Ihm gelingt die Niederschrift der Arbeit aber erstaunlich gut, schnell entstehen hintereinander die Abschnitte Vorwort, Forschungsziele, Versuchsmaterialien und Versuchsmethoden, sodann Versuchsergebnis, Diskurs und Schlussfolgerung – das gängige Muster. Mit dem Abfassen der Abhandlung am Ende des Masterstudiengangs ist er frei, zugleich aber ohne Ziel.

Sieg der Biologie oder kopflos aus der Isolation

In dieser misslichen Lage kommt es dazu, dass Mikio einer jungen Frau begegnet. Obwohl ihn die Abneigung gegen das weibliche Geschlecht zunächst nicht verlässt, fasziniert ihn die Frau, die, wie er später erfährt, Ryôko heißt. Die hypersensible Anglistikstudentin folgt ihm bis in seine Wohnung nach Tôkyô und befreit ihn mittels intensiven Körperkontakts von seinem Einzellerdasein. Durch die ‚biologische Praxis‘ – sozusagen Mikios zweite Reifeprüfung – lernt er, seine grüblerische Neigung abzulegen. Er ist verliebt! Ryôko hat sprichwörtlich eine Flamme in ihm entfacht. Die rätselhafte Studentin ist Zigarette rauchende Verführerin, Kindfrau, Mutterersatz und seine weibliche, sinnliche Hälfte in einem. Der Austausch zwischen beiden verläuft nicht über das von Mikio gehasste Stimmliche, sondern über die Ur-Erfahrung der körperlichen Nähe – eine elementare Erfahrung der Verschmelzung.

Auf einer Metaebene könnte man Masudas mehrschichtig angelegten Text, der in Teilen den Universitätsroman variiert, als Versöhnung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft lesen. Die Hauptargumentation bezieht sich jedoch auf die Vereinzelung des Städters, die Distanz zwischen Mensch und Natur sowie auf eine existenzielle Sprachskepsis und die Wahrheit des Unterleibs: Fern von seinen Wurzeln als menschliches Tier quält ihn offenbar die im Grunde artfremde, urbane Haltung. Es ist kein Zufall, dass Mikio die Witterung des Weibchens in naturnaher Umgebung aufnimmt.

Frieden bei den Düngemitteln

Obwohl Mikio, ein Uni-otaku der 1980er und ein Vorläufer späterer Waisenfiguren der Prekariatsliteratur, durch Ryôko ein sexual healing erfahren hat und schon an eine feste Bindung denkt, ist sein neues Leben zu zweit nur von kurzer Dauer – die junge Frau verschwindet. Viele Fragen bleiben offen. Masudas Text gelingt es, jenseits der etwas altmodischen Szenerie Faszination zu entfalten. Denn es bleibt auch ein leiser Zweifel: War Ryôko nur eine Erscheinung, eine Art inzestuöse Mutter-Phantasie? Ein Schattenwesen aus dem Berggasthof? Eine vitalistische Fee? Ein Ameisengeist? Nur eins scheint sicher: Mikio darf schließlich sein ruhiges Glück finden, als Angestellter einer Düngemittelfirma und somit doch als Verbündeter der Erde.

Titelbild

Mizuko Masuda: Der Einzeller. Roman.
Herausgegeben von Eduard Klopfenstein.
Übersetzt aus dem Japanischen von Heike Patzschke.
Abera Verlag, Hamburg 2013.
204 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783939876007

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