Literarischer Dialog mit Albert Camus

Französischer Existentialismus im Werk Ingeborg Bachmanns

Von Dirk GöttscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Göttsche

Die Reflexion der doppelten Katastrophe von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg mit Hilfe eines existentialistischen Diskurses ist einer der Grundzüge der kulturellen Selbstverständigung nach 1945 und zugleich ein prägendes Merkmal der deutschsprachigen Literatur insbesondere der jüngeren Generationen bis weit in die 1950er Jahre hinein. Die existentiale Metaphorisierung zeitgeschichtlicher Erfahrung ermöglichte es, die Betroffenheit des Einzelnen durch faschistische Diktatur und Weltkrieg anzuerkennen und Orientierungskrisen im Übergang zur Nachkriegsordnung zu legitimieren, zugleich jedoch eine eigentlich historische und politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen auszublenden. Die Topoi der ,Angst’ (Kierkegaard), der ,Grenzsituation’ (Jaspers), der ,Geworfenheit’ (Heidegger), der ,Freiheit’ und des ,Engagements’ (Sartre), des ,Absurden’ und der ,Revolte’ (Camus) usw. erfüllen ihre spezifische historische Funktion zwischen der vermeintlichen ,Stunde Null’ des Kriegsendes und der Konsolidierung des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus in den 1950er Jahren als Ausdruck eines repräsentativen krisenhaften Lebensgefühls, in dem individuelle Leiderfahrungen in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und der Versuch ihrer moralischen Bewältigung im Spannungsfeld von kulturgeschichtlicher Rückbesinnung und geschichtlichem Neubeginn miteinander vermittelt sind. Die Wiederanknüpfung an die deutsche Existenzphilosophie der 1920er Jahre und die Rezeption des jüngeren französischen Existentialismus brechen sich in den Jahren nach dem Kriegsende daher in einem zeittypischen existentialistischen Diskurs, der die Topoi der Existenzphilosophie auf den gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess der Nachkriegszeit bezieht, indem er die zeitgeschichtliche Katastrophenerfahrung und die ideologischen wie lebensgeschichtlichen Orientierungskrisen vor allem der jüngeren Generationen umgekehrt zugleich in der übergreifenden „Unbehaustheit“ (Hans Egon Holthusen) des modernen Menschen aufhebt.

Schon das Spannungsfeld der genannten existentialistischen Topoi zeigt gleichwohl, dass der Existentialismus der Nachkriegszeit trotz der vielfältigen Überschneidung und Überlagerung der Traditionslinien nicht als eine homogene Einheit zu denken ist, sondern als ein komplexes Feld, in dem sich die prägenden politischen, gesellschaftlichen und generationsbedingten Konflikte des kulturellen und literarischen Lebens abbilden. So hat Mechthild Rahner am Beispiel der westdeutschen Zeitschriftenliteratur der späten 1940er Jahre gezeigt, dass der französische Existentialismus „nicht nur als philosophische und literarische Schule, sondern vor allem auch als Lebenshaltung und -einstellung bei der Intelligenz in Deutschland“ eine entscheidende Rolle in der „Neuformierung politischen Bewußtseins“ und der „Definition intellektueller Positionen nach 1945“ spielte. Angesichts der zeitgeschichtlichen Katastrophe und der Vorprägung durch die deutsche Existenzphilosophie schien der französische Existentialismus, zumal durch seine Mythisierung als Philosophie der französischen Résistance, ein Modell bereitzustellen, das es erlaubte, „den Sinn des Lebens radikal in Zweifel [zu] ziehen und dabei doch ein entschieden lebensbejahendes Engagement [zu] bezeugen“, und zwar so, dass „geistige Auseinandersetzung, politisches Engagement, ästhetische Theorie“ und ,Lebensstil’ eine Einheit zu bilden schienen. Allerdings sind es gerade Jean-Paul Sartres Begriffe des Engagements und der Freiheit, an denen in der deutschen Rezeption die kulturpolitischen Bruchlinien des Existentialismusdiskurses zu Tage treten: Den (im Sinne des generationspolitischen Denkmodells der Nachkriegsjahre) ,älteren’ und der Literatur der Inneren Emigration verbundenen Repräsentanten einer kulturellen Rückbesinnung auf das ,humanistische’ Erbe der deutschsprachigen Literatur und Kultur erschien der französische Existentialismus als Ausdruck des modernen ,Nihilismus’ und damit nur mehr als ein Symptom eben jener geistig-moralischen Krise, die als geistesgeschichtliche Ursache der geschichtlichen Katastrophe betrachtet wurde und die es daher zu überwinden galt. Dabei kam es trotz der bekannten Verstrickung Martin Heideggers in das System des Nationalsozialismus zur abgrenzenden Aufwertung der deutschen Existenzphilosophie und christlicher Existentialismusadaptationen gegenüber der politischen Sprengkraft des Sartreschen Existentialismus. Auf der anderen Seite begreift die ,junge Generation’ (wie Wolfgang Borchert, Hans Werner Richter und namentlich Alfred Andersch) den französischen Existentialismus als Modell für eine grundlegende kritische Revision der in den Nationalsozialismus verstrickten literarischen und kulturellen Traditionen im Hinblick auf einen gesellschaftlichen Neuanfang. Diese Hoffnungen wurden durch die Restaurationsprozesse der frühen 1950er Jahre zwar nachhaltig enttäuscht, gingen als kritische Utopie jedoch in das literarische Selbstverständnis der Gruppe 47 als, wie Ronald Schneider formulierte, „ästhetische Opposition gegen die ,Restaurationsgesellschaft’“ ein, und dies erlaubte im Modell eines ,neuen Humanismus’ auch Brückenschläge zwischen deutschem und französischem Existentialismus.

Auch wenn die stärkere Wiederanknüpfung an die Vorkriegszeit und die Mentorenrolle von Remigranten wie Hermann Hakel und Hans Weigel die literaturprogrammatischen Bruchlinien des westdeutschen Existentialismusdiskurses im Nachkriegs-Wien weniger scharf hervortreten ließ, ist damit dennoch auch der Kontext skizziert, in dem Ingeborg Bachmanns Auseinandersetzung mit deutscher Existenzphilosophie und französischem Existentialismus einsetzte, indem sie sich während ihres Studiums zugleich als Schriftstellerin zu profilieren begann. Schon ihre Dissertation über „Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers“ (1949) und offene Lektürespuren des französischen Existentialismus – wie ihre Rundfunkbearbeitung von Albert Camus’ Theaterstück „Belagerungszustand“ – sind Zeugnisse jener Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Spielarten des Existentialismus in Philosophie, Literatur und Kultur der Nachkriegszeit, die Ingeborg Bachmanns Werk von den Wiener Studienjahren bis in die frühen 1960er Jahre mitgeprägt hat. Das Folgende geht der noch weithin offenen Frage nach Bezügen ihres Werkes zum französischen Existentialismus und vor allem zu Camus nach.

Ingeborg Bachmanns Studium der Philosophie, Psychologie und Germanistik an der Universität Wien in den Jahren 1946 bis 1949 stand methodologisch in der Spannung zwischen österreichischen Varianten der Existenzphilosophie deutscher Prägung (Alois Dempf, Leo Gabriel) und der Wiener Schule des Neopositivismus (Viktor Kraft). Vor diesem Hintergrund kann ihre Dissertation „Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers“, die von dem Neopositivisten Viktor Kraft betreut wurde und die Heidegger-Rezeption der Vor- und Nachkriegsjahre „aus einer deutlich zu erkennenden Heidegger-kritischen Perspektive“ (Marion Schmaus) zusammenfasst, als ein „Kompromiß“, so Robert Pichl, zwischen jenen philosophisch gegensätzlichen Positionen der Nachkriegszeit gelesen werden, mit denen sie in ihrem Studium vorrangig bekannt geworden war. Wenn Bachmann in einem Interview 1973 rückblickend sagt, sie habe „gegen Heidegger dissertiert“, so bezieht sich diese Pointierung (mit Bezug auf eine auch politische Kritik an Heidegger und seine Verstrickung in den Nationalsozialismus) auf die von Heideggers Philosophie in ihren Augen verkörperte „Verführung […] zum deutschen Irrationaldenken“. Dem steht jedoch in der Dissertation die Anerkennung der von Heidegger thematisierten existentialen „Grunderlebnisse“ („Angst“ und „Nichts“) in ihrer zentralen Bedeutung für den „modernen Menschen“ gegenüber, die auch für Bachmann „nach Aussage [drängen]“, aber eben nicht in der Philosophie, sondern in der Kunst und Literatur, in „Goyas Bild ,Kronos verschlingt seine Kinder’“ oder in „Baudelaires Sonett ,Le gouffre’“ etwa, mit dem die Dissertation schließt.

Ingeborg Bachmanns Auseinandersetzung mit Heidegger und seinen Kritikern trägt entscheidend zur poetologischen Selbstreflexion der Schriftstellerin bei, indem sie es ihr ermöglicht, zuvor bereits in ihrem Frühwerk angelegte Problemstellungen im Horizont existenzphilosophischer und existentialistischer Topik literarisch schärfer zu gestalten und in ihren literaturtheoretischen Schriften Literatur als Ausdruck der anders nicht artikulierbaren existentialen „Grunderlebnisse“ des Menschen in ihrer spezifischen historischen Gestalt poetologisch zu begründen. Die „Frankfurter Vorlesungen“,in denen Bachmann beispielsweise die gesellschaftliche „Rechtfertigung [der] Existenz“ des Schriftstellers aus seinem ,authentischen’ „Blick auf das ganze Unglück“ der Menschen ableitet, sind ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie die Autorin existenzphilosophische Topik (in der sich nun Heidegger-Spuren mit Kierkegaard-Reminiszenzen u.a. vermischen) poetologisch adaptiert, zugleich aber im Rekurs auf den zeitgeschichtlichen Erfahrungsraum moderner Literatur und auf den an Robert Musil geschulten Begriff der „Literatur als Utopie“ nach der historischen Konkretion existentialer Erfahrung sucht. Das im literarischen Nachlass überlieferte Frühwerk Ingeborg Bachmanns lässt darauf schließen, dass Existenzphilosophie und Existentialismus ihr Interesse gerade deshalb gewinnen, weil sie an bereits vorhandene Problemstellungen im sich entwickelnden Werk der jungen Autorin anschließbar waren und zugleich – in zeit- und generationstypischer Form – eine literarische Thematisierung der verstörenden zeitgeschichtlichen Erfahrungen zwischen Nationalsozialismus und ,Befreiung’ bzw. ,Restauration’ ermöglichten. Das lyrische Frühwerk aus den Jahren 1944 bis 1946, also der Zeit zwischen Matura und dem Aufbruch nach Wien, ist in seiner Spannung zwischen jugendlicher Verzweiflung und ekstatischer Naturerfahrung, geschichtlich lesbarem „Lastbewußtsein“ und radikalem Freiheitsanspruch bereits von einem „Existentialismus avant la lettre“ (Hans Höller), einer proto-existentialistischen Motivik durchzogen, von der aus auch die Topik der Existenzphilosophie und der Heideggerschen „Grunderlebnisse“ als Präzisierung eigener Krisenerfahrungen erscheinen konnte. Die Begegnung mit der Existentialphilosophie und dem existentialistischen Alltagsdiskurs der Nachkriegskultur führt im lyrischen Werk der Wiener Jahre (vor allem 1948-1952) in Gedichten wie „Entfremdung“, „Hinter der Wand“ und „Menschenlos“ dann zu der epochentypischen existentialen Metaphorisierung zeitgeschichtlicher Erfahrung. Vor dem Hintergrund der katastrophischen Erfahrung von Weltkrieg und Nationalsozialismus, Nachkriegsnot und beginnender Einsicht in die Shoa (z.B. in der Begegnung mit Paul Celan) artikulieren diese Gedichte existentiale Erlebnisse der Entfremdung und Verzweiflung, der „Weltangst“ und der Geworfenheit als ,Verbannung’ „in die Zeit“, die zugleich als Zeitkritik fungieren und von den Zeitgenossen auch als chiffrierte Verarbeitung von Zeiterfahrung gelesen wurden. Besonders deutlich tritt dies in dem Gedicht „Entfremdung“ hervor, in welchem die wiederholte, den lyrischen Prozess strukturierenden Klage „Was soll nur werden?“ dem lyrischen Ich zur Entscheidung überantwortet wird: „Soll ich mich aufmachen, mich allem wieder nähern?“ Die existentiale Metaphorisierung erlaubt es, den gewaltsamen Eingriff katastrophischer Zeitgeschichte in das Leben jedes einzelnen in einer Form zum Ausdruck zu bringen, welche die Betroffenheit des Subjekts würdigt, den Nationalsozialismus damit jedoch zugleich in existentialer Abstraktion verarbeitet und die Last der Geschichte dem einzelnen aufbürdet.

In der Arbeit an den Gedichten ihres ersten Lyrikbandes „Die gestundete Zeit“ (1953), mit dem ihr in Deutschland der literarische Durchbruch gelang, expliziert Bachmann dann jedoch ihre Zeitkritik, verschiebt den Ton von der Klage zum politisch-moralischen Appell, auf den die existentiale Metaphorik in Gedichten wie „Die gestundete Zeit“, „Früher Mittag“, „Alle Tage“ oder „Holz und Späne“ nun funktional bezogen ist, so dass die existentiale Konkretion moderner „Grunderlebnisse“ deutlicher im geschichtlichen Raum angesiedelt ist. Wo das Gedicht „Entfremdung“ mit der Zeile „Ich kann in keinem Weg mehr einen Weg sehen“ in Verzweiflung endete, ruft beispielsweise das Gedicht „Holz und Späne“ dem Leser wenige Jahre später zu: „Seht zu, daß ihr wachbleibt!“ Auch diese Phase des lyrischen Werks lässt sich – wie schon die Zeitmetaphorik des Bandtitels „Die gestundete Zeit“ andeutet – mithin in Teilen als literarische Auseinandersetzung mit der deutschen Existenzphilosophie lesen, nun allerdings in deutlich eigenständigerer Verarbeitung existentialistischer Topik und in gleichzeitiger Anknüpfung an den französischen Existentialismus. Barbara Agnese hat gezeigt, dass Bachmanns Werk vor allem der 1950er und frühen 1960er Jahre von regelmäßigen Bezugnahmen auf die von Heidegger formulierten Problemstellungen durchzogen ist, die mit einer „demonstrativ abgrenzenden Grundhaltung“ einhergehen, indem sich ihre Literatur als „Gegenbewegung zur Metaphysik“ Heideggerscher Prägung versteht. Indem die Bezüge auf Heidegger im Laufe der Arbeit am „Todesarten“-Projekt, mit welchem Bachmann den diskursiven Raum des Nachkriegs-Existentialismus verlässt, in den 1960er Jahren dann spärlicher und distanzierter werden, tritt der kritische Ansatzpunkt ihres ,Schreibens gegen Heidegger’ nur um so deutlicher hervor. Geradezu programmatisch heißt es in einer Passage des Romanfragments „Das Buch Franza“: „Ich rede über die Angst. Schlagt alle Bücher zu, das Abrakadabra der Philosophen, dieser Angstsatyrn, die die Metaphysik bemühen und nicht wissen, was die Angst ist. Die Angst ist kein Geheimnis, kein Terminus, kein Existential, nichts Höheres, kein Begriff, Gott bewahre, nicht systematisierbar. Die Angst ist nicht disputierbar, sie ist der Überfall, sie ist Terror, der massive Angriff auf das Leben.“

Die konkrete, an die Realität gesellschaftlicher Gewalterfahrung gebundene Todesangst der Protagonistin Franziska Ranner wird hier also kritisch gegen das abstrakte Heideggerscher Existential der Angst gehalten. Dieser Abgrenzungsgestus gegen die universitäre Existenzphilosophie, in dem die existentialistisch gefärbte Verpflichtung der Literatur auf die Thematisierung existentialer Leiderfahrungen (aus Bachmanns Poetologie der 1950er Jahre) in schärferer sozialpsychologischer und historischer Konkretion gleichwohl fortwirkt, kehrt im „Malina“-Roman (1971) noch einmal wieder, wenn das erzählende weibliche Ich die konkrete Gewissensnot des Briefträgers Kranewitzer ironisch gegen das abstrakte ,Sinnieren’ der ,Lehrstuhlinhaber’ „über das Ontos On, die Aletheia oder meinetwegen die Erdentstehung und die Entstehung des Alls“ ausspielt.

Der französische Existentialismus war, anders als die Existenzphilosophie Heideggers, auch ein literaturgeschichtliches Faszinosum der nachzuholenden europäischen Moderne. Und er war als Philosophie und Literatur der Résistance zugleich ein kulturgeschichtliches Phänomen mit erheblichem Identifikationspotential. An Ingeborg Bachmanns Bibliotheksbestand in ihrer letzten Römischen Wohnung fällt dabei auf, dass sie nur einen marginalen Titel von Jean-Paul Sartre aufgewahrt hat, jedoch sieben Publikationen von Albert Camus – von der deutschen Übersetzung seines Dramas „Belagerungszustand“ (in einer Ausgabe von 1955) über den Erzählband „Das Exil und das Reich“ (1958) bis zu einer französischen Neuauflage von Camus’ theoretischem Hauptwerk „L’homme révolté“ (1968). Wenn dieses Ungleichgewicht dem Profil ihres literarischen Dialogs mit dem französischen Existentialismus entspricht – und darauf deutet beim derzeitigen Kenntnisstand vieles hin –, dann grenzt sich Bachmanns Lektüre von der Konzentration auf Sartre in den ersten Jahren der deutschen Rezeption nach 1945 ab, befindet sich aber zugleich im Einklang mit der deutlich positiveren deutschen Camus-Rezeption, die dem vermeintlichen Nihilismus Sartres, seinem kontroversen Konzept einer ,littérature engagée’ und seinem Marxismus die ideologieskeptische und moralische Ausrichtung von Camus’ Werk entgegenstellt.

Bachmanns Versuch, die gesellschaftliche Relevanz der Literatur in sprachkritisch reflektierter Distanzierung von den literaturpolitischen Debatten der Zeit zu begründen, zeigt sich auch in ihrer Stellung zu der Kontroverse Sartre versus Camus. So spricht sie in ihrer ersten „Frankfurter Vorlesung“ über „Fragen und Scheinfragen“ mit deutlicher Distanz, formelhaft abstrahierend und nur im Vorübergehen vom „Aufflackern des Kampfes zwischen der engagierten Literatur und dem l’art pour l’art“, dem ihre „Generation“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit „beigewohnt“ habe. Die von Sartre (dessen Name nicht genannt wird) ausgelöste Debatte wird zwar als „direkte Folge der politischen Katastrophe in Deutschland und der damit verbundenen Katastrophen in den heimgesuchten Nachbarländern“ historisch gewürdigt, zugleich aber als Phänomen des literarischen Marktes relativiert. Im Hinblick auf den Argumentationsbogen der Vorlesungen ließe sich sagen, dass Bachmann Sartres explizit politischem Konzept der engagierten Literatur, das zudem durch seine kontroverse deutsche Rezeption und Sartres Wendung zum Marxismus vorbelastet war, ihr an Robert Musil entwickeltes Verständnis der „Literatur als Utopie“ entgegenstellt. Der Ausgang bei der Leiderfahrung des Einzelnen, das Insistieren auf der gesellschaftlichen Relevanz der Literatur, die Vorstellung, dass sich Literaturgeschichte in einer Folge „revolutionäre[r] Stöße“ und plötzlicher, „moralischer, erkenntnishafter Ruck[e]“ vollziehe, die zentrale Bedeutung der Sprachkritik und der literarischen Arbeit an einer „neue[n] Sprache“ oder die Vorstellung des Dichters als „verzweifelt“ und „schuldig“ in seinem Bemühen um Authentizität – solche poetologischen Motive verbinden Bachmanns an Musil entwickelten Entwurf der „Literatur als Utopie“ allerdings mit der Poetologie des französischen Existentialismus und seiner deutschen Rezeption. Zwar blickt Bachmann mit einiger Skepsis auf die „ästhetische[n] Revolten“ (wie sie sie nennt) der frühen Moderne zurück, doch schließt sie ihre Vorlesungen mit der existentialistischen Geste des ,Dennoch’ in dem Zitat des Surrealisten René Char: „Auf den Zusammenbruch aller Beweise antwortet der Dichter mit einer Salve Zukunft.“

Charakteristisch ist für die „Frankfurter Vorlesungen“ darüber hinaus, dass sich solche Motive, die sich in den französischen Existentialismus zurückverfolgen lassen, auch wenn sie im Rahmen von Bachmanns Poetologie neue Bedeutung erlangen, mit Reminiszenzen einer an der deutschen Existenzphilosophie und Heidegger geschulten Topologie überkreuzen. Dies gilt sowohl für die (zugleich wiederum Musil verpflichtete) Kritik an der „schlechte[n] Sprache“ des alltäglichen „Leben[s]“ als Folie der poetischen Sprachutopie als auch für die Rückbindung der „verändernde[n] Wirkung“ der Literatur an die Schmerzerfahrungen des Schriftstellers und seinen „Blick auf das ganze Unglück“ der Menschen seiner Zeit oder für die Metaphorik der Beschreibung der schrifstellerischen Existenz selbst als ein „Geschleudertwerden in eine Bahn“, auf der der Dichter „wirklich da“ ist, „verzweifelt unter dem Zwang, die ganze Welt zu der seinen machen zu müssen, und schuldig in der Anmaßung, die Welt zu definieren“. Die Heideggerschen Begriffe der Geworfenheit und des Daseins verbinden sich in diesem Kommentar zum Begriff der „Problemkonstante“ unmittelbar mit den allgemein-existentialistischen Begriffen der Verzweiflung und der Schuld, die bis auf Kierkegaard zurückgehen und von Heidegger und Sartre je unterschiedlich interpretiert worden waren. Bachmanns Rückgriff auf diesen existentialistischen Diskurs zur Begründung der gesellschaftlichen Verankerung und Wirkung der Literatur schreibt im übrigen die zeitkritische Applikation existenzphilosophischer Denkfiguren in der Nachkriegszeit fort, und doch begründen diese existentialistischen Passagen im argumentativen Gesamtaufbau der Vorlesungen keine existentialistische Poetologie, sondern sie dienen der existentiellen und historischen Konkretisierung des anders hergeleiteten poetologischen Entwurfs der „Literatur als Utopie“. Ingeborg Bachmann stand Theodor W. Adornos Vorstellung, dass Literatur und Kunst ihre gesellschaftliche Relevanz gerade aus ihrer ästhetischen Freiheit beziehen, zu nahe, als dass sie Sartres Bewegung von einer existential engagierten Literatur zu einer politisch für den Marxismus engagierten Literatur hätte nachvollziehen können. Die Abgrenzung einer literarischen Kritik gesellschaftlicher Gewalt gegen eine kurzschlüssige Politisierung der Literatur begründet ja noch in den 1960er Jahren ihre relative Distanz zu der wachsenden Verflechtung von Literatur und Politik am Ende der literarischen Nachkriegszeit. Joachim Eberhardt stellt mit Recht fest, dass der Autorin des „Todesarten“-Projekts „angesichts des ,Mordschauplatzes Gesellschaft’ […] eine Philosophie der selbstbestimmten Freiheit“, wie sie sich vor allem mit Sartres Existentialismus verbindet, „anachronistisch erscheinen“ musste.

Doch in den 1950er Jahren nimmt Bachmann immer wieder existentialistische Problemstellungen und Denkfiguren literarisch auf, um sich zugleich gegen das Entscheidungs- und Freiheitspathos des französischen Existentialismus abzugrenzen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Erzählung „Das dreißigste Jahr“, zu deren literarischen Folien (neben anderen, deutschsprachigen) auch das existentialistische „Strukturschema“ existentialer „Bewußtwerdung“ mit der plötzlichen „Einsicht in die Notwendigkeit eines Engagements“ (Mechthild Rahner) gehört, wie es etwa in Sartres Erfolgsdrama „Die Fliegen“ (1943) oder in Camus’ „Belagerungszustand“ (1948) durchgespielt wird. In dem Krisenmodell von Bachmanns Erzählung führt der plötzliche Einbruch der Erinnerung den Dreißigjährigen gerade nicht zur freien ,Wahl’ der eigenen Existenz und zu einer daraus resultierenden ,Entscheidung’ zur engagierten ,Tat’, sondern der vermeintliche Aufbruch verwandelt sich im Pendeln zwischen Wien und Rom in eine mehrfache Bewegung der ,Wiederholung’, in der der Protagonist gezwungen wird, sich der sozialen Bedingungen und geistigen Grenzen seiner Existenz in dem „Gefängnis“ der gegebenen Gesellschaft und ihrer „Gaunersprache“ bewusst zu werden, sie aber schließlich auch kritisch anzuerkennen. Erst im Durchgang durch die Verzweiflung – „Dieses Jahr hat ihm die Knochen zerbrochen“ – und durch den symbolischen Tod – den Autounfall, in dem sein Fahrer „an seiner Statt gestorben ist“ – gelingt schließlich ein neues Bekenntnis zum Leben: „Aber jetzt wünschte er sich das Leben. […] Endlich sagte er sich: Ich lebe ja, und mein Wunsch ist es, noch lange zu leben.“ Das Erzähler-Ich interpretiert diesen Neuanfang symbolisch: „Ich sage dir: Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen.“ Damit werden zwar die existentialistisch geprägten Zwischenappelle der Erzählerstimme zu ,Engagement’ aus ,Verantwortung’ im Geist der ,Freiheit’ wieder aufgenommen – „Dann spring noch einmal auf und reiß die alte schimpfliche Ordnung ein. Dann sei anders, damit die Welt sich verändert, damit sie die Richtung ändert, endlich! Dann, tritt du sie an!“ –, und diese Appelle zur „Auferstehung […], / vom Tod, / vom Vergessen!“ spiegeln sich auch in den existentialistischen Freiheitsphantasien des Protagonisten: „Freiheit, die ich meine: die Erlaubnis, da Gott die Welt in nichts bestimmt hat und zu ihrem Wie nichts getan hat, sie noch einmal neu zu begründen und neu zu ordnen.“ Die Erzählung lässt aber völlig offen, ob der schließliche Neubeginn den früheren existentialistischen Traum einer „Kündigung der Geschichte […] zugunsten einer Neubegründung“ tatsächlich wiederaufnehmen wird, oder ob ein solches existentialistisches ,Engagement’ nicht vielmehr Teil jener Vergangenheit ist, die der Protagonist hinter sich lässt, wenn er sich nun einem bewusst alltäglichen Leben der „Arbeit“ in der gegebenen sozialen Welt zuwendet. An die Stelle der symbolischen Wendung zur Freiheit als Übernahme sozialen Engagements im existentialistischen Strukturschema tritt in Bachmanns Erzählung eine modellhafte Erkundung des komplexen Verhältnisses von Freiheit und Ordnung „im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen“, die zugleich als skeptischer Gegenentwurf zum heroischen Existentialismus Sartrescher Prägung gelesen werden kann.

Der Antwort auf Sartre in der Erzählung „Das dreißigste Jahr“ ist bemerkenswerterweise nun jedoch auch eine Respondenz auf Albert Camus’ Essay „Der Mythos von Sisyphos“ (1942) eingeschrieben, wo es zur biographischen Genese eines Bewusstseins des Absurden heißt: „Es kommt der Tag, da stellt der Mensch fest, daß er dreißig Jahre alt ist. Damit beteuert er seine Jugend. Zugleich aber bestimmt er seine Situation, indem er sich in Beziehung zur Zeit setzt. Er erkennt, daß er sich an einem bestimmten Punkt einer Kurve befindet, die er – dazu bekennt er sich – durchlaufen muß.“ So könnte der Schluss von Bachmanns Erzählung gelesen werden. Auch bei Camus geht die Einsicht in die Anerkennung der Welt in ihrer ,Absurdität’ vom „Überdruß“ am „Alltag“ aus (wie er Bachmanns Protagonisten in die Verzweiflung treibt) und führt zu der Einsicht: „Auch das Denken führt nicht weiter“, da es an „Mauern“ stößt – die schmerzhafte Grenzerfahrung von Bachmanns Dreißigjährigem in der Wiener Nationalbibliothek beim Versuch, das „Problem der Erkenntnis“ abstrakt philosophisch zu lösen, folgt deutlich demselben Muster. „Auflehnung, Zerrissenheit und Zwiespalt“ des Dreißigjährigen führen in Camus’ existentialistischem Krisenmodell dann allerdings wiederum in die heroische Alternative „Selbstmord oder Wiederherstellung“, die Bachmanns Erzählung durch das Motiv des Stellvertretertodes gerade unterläuft, indem sie zugleich auf die existentialistischen Signalbegriffe des Absurden und der ,Wahl’ oder ,Entscheidung’ verzichtet.

In der Darstellung der Krisenerfahrung ihres Protagonisten bedient sich Bachmann also existentialistischer Motive, die die Forschung an Camus („L’étranger“) und Sartre („La nausée“, „L’être et le néant“) erinnert haben; die Krisenüberwindung folgt jedoch nicht dem geläufigen existentialistischen Strukturschema. Trotz seiner verzweifelten Bewegung zwischen den festgelegten Polen Wien und Rom entspricht Bachmanns Protagonist auch nicht dem Camus’schen Sisyphos, der mythischen Identifikationsfigur der ,Stunde Null’, sondern allenfalls Camus’ Leitbild des „L’homme révolté“ (1951), des ,Menschen in der Revolte’, einer Revolte, die angesichts von Camus’ historischem Blick auf die Vielzahl ihrer Erscheinungsformen nicht mehr als einmaliger Durchbruch zur ,Eigentlichkeit’ existentialer Freiheit zu denken ist, sondern als Prozess der immer neuen „Auflehnung des Menschen gegen seine Lebensbedingungen […] zur Verteidigung einer allen Menschen gemeinsamen Würde“. Ist die Erzählung „Das dreißigste Jahr“ mithin auch als Auseinandersetzung mit Camus’ Leitbegriff der Revolte zu lesen, so markieren die Offenheit des Erzählschlusses und die unaufgelöste Diskrepanz zwischen existentialistischen Appellen und erzähltem Figurenverhalten jedoch auch hier noch einmal Bachmanns Skepsis gegenüber dem Glauben des französischen Existentialismus an die „abstrakte Freiheit und Verantwortlichkeit“ des Einzelnen und an die „Geschichtsrelevanz seiner individuellen Entscheidungen“ (Mechthild Rahner). Bachmann spielt in ihrer Erzählung „Das dreißigste Jahr“ die Topik des Nachkriegsexistentialismus noch einmal durch, um zugleich das Pathos existentialistischer Zeitkritik Sartrescher und Camus’scher Prägung zu verabschieden.

Diese Differenz auch gegenüber Camus lässt sich mit einem vergleichenden Blick auf Camus’ Nobelpreisrede (10. Dezember 1957) und Bachmanns poetologische Schriften der Folgejahre noch einmal in ihrer literaturtheoretischen Dimension veranschaulichen. In ihren „Frankfurter Vorlesungen“ teilt Bachmann Camus’ ideologieskeptische und moralistische Auffassung, dass der Schriftsteller angesichts der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, so Camus in der Rede, „sich heute nicht in den Dienst derer stellen [kann], die Geschichte machen: er steht im Dienste derer, die sie erleiden.“ Wenn Camus hieraus die Verpflichtung des Schriftstellers auf „den Dienst an der Wahrheit und den Dienst an der Freiheit“ als „Widerstand gegen die Unterdrückung“ ableitet, so fällt auf, dass Bachmann die Verpflichtung der Literatur auf das kritische Aussprechen der Wahrheit in ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden eineinhalb Jahre später unmittelbar aufgreift – „Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar“ –, während sie auf den programmatischen Freiheitsbegriff des französischen Existentialismus hier wie in den „Frankfurter Vorlesungen“ verzichtet. Sie ersetzt ihn durch komplexe Relationsfiguren von Freiheit und Ordnung, in der Kriegsblindenrede durch ein dynamisches „Spannungsverhältnis“ von ,Möglichem’ und ,Unmöglichem’, das sich an den „Grenzen“ einer nicht politisch, sondern gesellschaftlich und moralisch verstandenen „Ordnung“ entzündet. Ein Rückblick auf die Spuren ihrer Camus-Rezeption in den 1950er Jahren zeigt nun, dass diese indirekte, zugleich anknüpfende und abgrenzende Bezugnahme auf Camus’ Literaturverständnis wohl nicht ganz zufällig aus Anlass der Auszeichnung ihres Hörspiels „Der gute Gott von Manhattan“ entstanden ist.

Die wohl früheste Spur einer literarischen Camus-Rezeption liegt in einem nachgelassenen halbseitigen Prosafragment mit dem Titel „Auf Reisen“ vor. Durch seine Motivik einer surreal anmutenden Stadt mit verschlossenen Toren und Wächtern und durch die zeitlich-symbolische Situierung der erzählten Welt in der „Pest: Hochsommer“ verweist dieser Entwurf einerseits auf die Lektüre von Camus’ Roman „La peste“ (1947), dessen erste deutsche Übersetzung 1948 in Innsbruck erschien, und andererseits auf die Bildsprache von Bachmanns erstem Romanversuch „Stadt ohne Namen“.

Ein intertextueller Bezug auf Camus findet sich danach erst wieder in dem Gedicht „Alle Tage“ aus dem ersten Gedichtband „Die gestundete Zeit“ (1953):

Alle Tage

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

Aus dem Erschrecken über ein Denken, das nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schon wieder der Logik der Gewalt verfällt, beginnt das Gedicht mit einer scharfen Kritik des Kalten Krieges und seiner Resonanzen in der Mentalität der Gesellschaft. Als „Uniform des Tages“ ist die „Geduld“ alles andere als eine Tugend; angesichts des beginnenden atomaren Wettrüstens schrumpft die „Hoffnung“ auf eine andere Geschichte als die der Gewalt zum „armselige[n] Stern“. In den parallel gebauten, durch Wiederholung und Variation strukturierten Strophen zwei und drei werden dann zwei gegensätzliche Haltungen zu der sich etablierenden Nachkriegsordnung kontrastiert: auf der einen Seite die zwiespältige Auszeichnung einer Hoffnung, die sich durch die Gewalt korrumpieren lässt und so zur Ermöglichung des Wettrüstens beiträgt; auf der anderen Seite die Hoffnung auf einen radikalen Ausbruch aus der Geschichte der Gewalt und auf die Begründung einer neuen Moral als Entwurf einer anderen Sozialität im alltäglichen Zusammenleben der Menschen. Der anarchische Bruch mit der herrschenden Ordnung, der diese Utopie ermöglicht – die „Flucht von den Fahnen“, „die Tapferkeit vor dem Freund“, der „Verrat unwürdiger Geheimnisse / und die Nichtachtung / jeglichen Befehls“ –, erinnert deutlich an Camus’ Essay „Der Mensch in der Revolte“, der 1951 im französischen Original erschienen war, und schreibt dessen historischen Blick auf die Figuren der Revolte gewissermaßen in die deutsche Nachkriegsgeschichte hinein fort.

Der Appell an das kritische Bewusstsein, die Sehnsüchte und die Handlungsbereitschaft der Zeitgenossen im historischen Spannungsfeld von „nicht mehr“ und ,noch nicht’ bleibt in diesem Gedicht allerdings unterschwellig. In anderen Gedichten des Bandes „Die gestundete Zeit“ wendet sich ein lyrisches Ich ausdrücklich an ein Du oder identifiziert sich strategisch mit dem „wir“ eines zur Geschichtsverdrängung bereiten öffentlichen Bewusstseins, um so den moralischen Widerspruch des Gewissens herauszufordern. Diese lyrischen Appellstrukturen, die Bachmanns ersten Gedichtband sowohl von den Gedichten der Wiener Studienjahre als auch von ihrem zweiten Lyrikband „Anrufung des Großen Bären“ (1956) abheben, besitzen (wie die Erzählerappelle in der Erzählung „Das dreißigste Jahr“) einen entschieden existentialistischen Gestus, mit dem sich die Autorin stärker als sonst der französischen Utopie gesellschaftlicher Veränderung durch existentiale ,Revolte’ (Camus) und ,engagierte Literatur’ (Sartre) annähert, sich in zeitkritischer Absicht symbolisch geradezu in die Tradition der französischen Résistance stellt, wie Hans Höller meint. Zu den Erfolgsbedingungen des ersten Gedichtbandes gehört also auch die produktive Verarbeitung der verbreiteten Rezeption des französischen Existentialismus in der deutschen Nachkriegsliteratur um 1950.

Als Ingeborg Bachmann 1958 Camus’ Theaterstück „Belagerungszustand“ (1948) für den Rundfunk bearbeitete, war die existentialistische Phase der deutschen Nachkriegsliteratur bereits ausgeklungen, und es dürfte die Verleihung des Nobelpreises an Camus im Herbst 1957 neuen Anlass zur Beschäftigung gegeben haben. Camus’ Schauspiel wird zu intertextuellen Folie von Bachmanns Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“, das im Mai 1958 erstmals ausgestrahlt wurde. Das Hörspiel teilt mit einigen der Erzählungen des Bandes „Das dreißigste Jahr“, an denen die Autorin im gleichen Jahr zu arbeiten begann, das existenzphilosophische Motiv der Grenzsituation, hier des ,Grenzübertritts’ in einen Raum absoluter Liebe, dessen „Gegenzeit“ nicht nur mit Musils Begriff des „anderen Zustand[s]“, sondern auch mit Camus’ Leitbegriff der „Revolte“ interpretiert wird, der „Revolte gegen das Ende der Liebe in jedem Augenblick und bis zum Ende“. Obwohl Bachmanns Hörspiel damit deutlich ein anderes Thema hat als Camus’ Drama „Belagerungszustand“, in dem der französische Autor den Stoff seines Romans „La peste“ zu einer existentialistischen Allegorie der Bewältigung totalitärer Herrschaft im Spannungsfeld von Nationalsozialismus und Modernisierung (Technologie- und Verwaltungskritik) umgestaltet, variiert Bachmann zentrale Strukturelemente von Camus’ Theaterstück. Das gilt zunächst für das allegorisierende Verfahren parabolischer Darstellung selbst, indem in Camus’ Drama (anders als in dem Roman) die Pest als personale Allegorie totalitärer Ordnung und Herrschaft auftritt, wie der Gute Gott in Bachmanns Hörspiel allegorisch jene „Ordnung“ verkörpert, die jeden Verstoß mit den Mitteln totalitärer Herrschaft und moderner Massenpsychologie verfolgt und zensiert. Ebenso wie in Camus’ „Belagerungszustand“ gibt es in Bachmanns Hörspiel keine geschützte Privatsphäre, d.h. jedes private Leben ist immer schon „öffentliches Leben“ (Camus), für das sich die Repräsentanten der Ordnung – die Sekretärin bei Camus, die Eichhörnchen bei Bachmann – interessieren, und in beiden Texten ist der Richter – der Repräsentant der vermeintlich unabhängigen Justiz – mit der herrschenden ,Ordnung’ im Bunde, unterwirft sich ihrer totalitären Entstellung. Sogar die Liebesgeschichte im Zentrum von Bachmanns Hörspiel und der ihr eingeschriebene Geschlechterdiskurs sind bei Camus vorgeprägt, in dem Handlungsstrang um die Liebe von Diego und Victoria nämlich, die sich gegen die totalitäre Repression aufbäumt und schließlich (trotz Victorias tragischem Tod) durchsetzt. Wie in einer Schicht von Bachmanns Hörspiel verkörpert die Frau (Victoria) bei Camus das unbedingte Bekenntnis zur Liebe, das von der totalitären Ordnung der Pest verfolgt und bestraft wird, während der Mann (Diego) dem „Unglück“ ihres gemeinsamen Leidens unter den herrschenden Verhältnissen nicht gewachsen zu sein glaubt. Bachmann greift diese Konfiguration auf, indem sie Jennifer im Turm der Liebe zum Opfer des totalitären Terrors werden und Jan infolge seiner Rückkehr in die alltägliche Welt überleben lässt. Dem von Sara Lennox aufgedeckten Gegendiskurs über die Verstrickung Jennifers in jene Ordnung, die die dargestellte Tragödie der Liebe herbeiführt, steht bei Camus die existentialistische Restituierung des Helden gegenüber. Denn Diego ist es schließlich, dessen Revolte in der Überwindung der Angst und im Durchgang durch die Verzweiflung den schrittweisen Zusammenbruch der totalitären Herrschaft der Pest herbeiführt.

Die existentialistische Überzeugung, dass „es immer genügt [hat], daß ein Mensch seine Angst überwand und sich auflehnte, damit es im Räderwerk zu hapern begann“ (Camus), bezeichnet jedoch genau jenen Punkt, an dem Bachmann vom politischen Heroismus und gesellschaftlichen Optimismus des französischen Existentialismus abweicht, denn eine entsprechende utopisch-revolutionäre Wendung, die zudem vom Handeln des Einzelnen auf die ganze Gesellschaft ausgreift, kennt ihr Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ gerade nicht. Dem Pathos des existentialistischen Strukturschemas steht in Camus’ allegorischem Drama allerdings am Schluss ein Kommentar des Chores gegenüber, an den Bachmann ihre skeptischere Sicht des Verhältnisses von Freiheit und Ordnung anknüpfen konnte: „Nein, es gibt keine Gerechtigkeit, aber es gibt gewisse Grenzen. Und die einen, die keine Ordnung schaffen wollen, und die anderen, die alles in eine Ordnung zu pressen versuchen, überschreiten sie gleichermaßen.“ Bachmanns anders konfiguriertes Sujet der Grenzübertritte situiert sich genau in diesem Dazwischen, in dem moralischen Raum des sozialen Lebens. Zwischen den Extremen von Anarchismus und Totalitarismus wird die Gerechtigkeit zu einer gesellschaftlichen Aufgabe für jeden Einzelnen, zu der die Literatur beitragen kann, indem sie – um mit Bachmanns „Frankfurter Vorlesungen“ zu sprechen – ,ihre Zeit repräsentiert’ und kritisch-utopisch ,präsentiert’, „wofür die Zeit noch nicht gekommen ist“.

Von hier aus führt eine direkte Linie zu den poetologischen Grundlagen von Bachmanns „Todesarten“-Projekt als kritischer Geschichtsschreibung des gesellschaftlichen Alltags aus der Perspektive des Geschlechterverhältnisses. Und wenn Bachmann dieses Projekt einer literarischen Sittengeschichte der Nachkriegszeit in den Vorreden zu ihrem Franza-Roman auf die zeitkritische Frage zurückbezieht, wohin „Mord“ und „Verbrechen“ „verschwunden“ seien nach den Jahren des Nationalsozialismus und des Weltkrieges, so klingt darin von fern auch noch einmal der Ausgangspunkt von Camus’ Essay „Der Mensch in der Revolte“ nach: „Wir leben im Zeitalter des Vorsatzes und des vollkommenen Verbrechens. […] In der Zeit der Ideologien muß man sich mit dem Mord auseinandersetzen. […] Jeden Morgen schleichen sich herausgeputzte Mörder in eine Zelle: der Mord ist das große Problem.“ In der Ausgestaltung ihrer eigenen Problemstellungen und den Verfahren ihrer literarischen Darstellung hat Ingeborg Bachmann den Resonanzraum des Existentialismus in den mittleren 1960er Jahren jedoch deutlich verlassen. Wenn sie Anfang der 1970er Jahre noch einmal auf den Existentialismus der 1950er Jahre zurückblickt und die Protagonistin ihrer Erzählung „Drei Wege zum See“ in den 1950er Jahren „die Fremde als Bestimmung“ begreifen und so von einer ziellosen „Abenteurerin“ zu einer im Sinne existentialen Bewusstseins symbolisch „Exilierte[n]“ heranreifen lässt, so erfolgt dieser Rückblick auf das zeittypische Lebensgefühl der „Unbehaustheit“, auf die existentiale Metaphorisierung zeitgeschichtlicher bzw. gesellschaftlicher Erfahrung und auf den diskursiven Resonanzraum des französischen Existentialismus (hier Camus’ Roman „Der Fremde“) aus dem Abstand von „fast zwanzig Jahre“ nun in deutlich historisierender Perspektive.

Was den literarischen Dialog mit Albert Camus angeht, so scheinen sich zwei Lektürephasen abzuzeichnen, deren erste vor allem in den Gedichten des Bandes „Die gestundete Zeit“ produktiv wird, während die zweite am Ende der 1950er Jahre von Bachmanns Auseinandersetzung mit Camus’ Drama „Belagerungszustand“ aus rekonstruiert werden kann. Über die bereits genannten Bezüge hinaus lässt sich beispielsweise die Erzählung „Ein Wildermuth“ in einer Schicht als Kontrafaktur von Camus’ Erzählung „La chute“ (1956, deutsch 1957) lesen, dessen Protagonist als Rechtsanwalt die im Recht kodifizierte moralische Ordnung der Gesellschaft durch zynischen Egoismus, Genuss-, Herrschafts- und Aufstiegswillen so weit unterläuft, dass „das bloße Wort Gerechtigkeit [ihn] in seltsame Wutzustände“ versetzt, bevor er – in ironischer Überzeichnung des existentialistischen Wendeschemas –  sich zum penetranten „Buß-Richter“ und ,falschen Propheten’ der moralischen Ordnung verkehrt. Dieser moralistischen Parabel über die Diskrepanz zwischen rechtlichen bzw. moralischen Normen und gesellschaftlicher Praxis antwortet Bachmann in der Krisenerzählung ihrer Richterfigur, indem sie den Konstruktionscharakter der symbolischen Ordnung der Gesellschaft im Spiegel einer Sprach- und Identitätskrise reflektiert. Ähnliche Beziehungen vermittelter Analogie und Respondenz ließen sich zwischen den Figuren des Grenzübertritts beispielsweise in der Erzählung „Ein Schritt nach Gomorrha“ und Camus’ Erzählung „Die Ehebrecherin“ nachzeichnen, deren Protagonistin in einem nächtlichen Ausbruch aus den eingeschleiften Bahnen ihrer Ehe und Rolle ekstatisch ein „Reich“ der Freiheit erlebt, das ihr „seit Anbeginn der Zeiten verheißen war und daß sie […] dennoch nie besitzen würde“, so dass in die Ordnung mit den Worten zurückkehrt: „,Es ist nichts, Liebling’ […] es ist nichts.’“ Eben dies aber ist die geradezu leitmotivische Formel eines durch die patriarchalischen Herrschafts- und Kommunikationsverhältnisse der Nachkriegsgesellschaft erzwungenen weiblichen Schweigens über erlittene Verletzungen in Bachmanns „Todesarten“-Texten. Ähnliche Resonanz- und Antwortbezüge, die sich als Spuren eines verdeckten literarischen Dialogs lesen lassen, verbinden Ingeborg Bachmanns Werk – wie Françoise Rétif gezeigt hat – seit den späten 1950er Jahren mit Simone de Beauvoir, insbesondere Beauvoirs Roman „L’invitée“ (1943, dt. zuerst 1953) und Bachmanns Erzählung „Ein Schritt nach Gomorrha“ aus dem Band „Das dreißigste Jahr“ (1961). Bachmanns Lektüre von Simone de Beauvoirs feministischem Hauptwerk „Le deuxième sexe“ (1949, dt. zuerst 1951: „Das andere Geschlecht“) steht jedoch sicher nicht mehr im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit dem deutschen und französischen Existentialismus der Nachkriegszeit, sondern im Horizont jener literarischen Kritik verborgener gesellschaftlicher Gewaltstrukturen, die in ihrem „Todesarten“-Projekt in ganz neuer Form ins Zentrum ihres Schreibens rückt. Bezeichnenderweise markieren die Fragmente des ersten, dann aufgegebenen „Todesarten“-Romans im Ringen um eine angemessene literarische Struktur für das neue Sujet zugleich das Ende der existentialistischen Spuren in Bachmanns Werk.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert auf einem ausführlicherem Aufsatz von Dirk Göttsche, der unter dem Titel „Deutscher und französischer Existentialismus im Werk Ingeborg Bachmanns“ erschienen ist in: Cornelia Blasberg und Franz J. Deiters (Hg.): Denken / Schreiben (in) der Krise: Existentialismus und Literatur. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2004. S. 369-398. Der Aufsatz enthält alle Zitatbelege, viele Hinweise auf die Forschung und weiterführende Überlegungen zu dem Thema.