Vielschichtiges Beziehungspuzzle

Hinter Judith W. Taschlers „Deutschlehrerin“ verbirgt sich ein ebenso spannender wie berührender Geschichtenkomplex

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es beginnt betont bieder und banal: mit dem E-Mail-Verkehr zwischen einer Kulturstelle, einer Schule und einem Autor, der an ebenjener Schule eine Schreibwerkstatt abhalten soll. Doch bevor man sich darüber wundern kann, ist man mittendrin in der Geschichte, die anlässlich eines Zufalls (ist es einer?) aufgerollt wird. Es stellt sich nämlich nach der dritten E-Mail-Runde zwischen der zuständigen Deutschlehrerin und dem Autor heraus, dass sich beide ungewöhnlich gut kennen, und damit kann die Aufarbeitung des Vergangenen beginnen.

Ab da entsteht allerdings nicht nur die Geschichte dieses Ex-Paares, sondern es entfaltet sich sukzessive ein regelrechter Geschichtenkomplex, um Mathilda und Xaver, die Deutschlehrerin und den Autor.

Am wenigsten geht es dabei um das unverhoffte Wiedersehen der beiden, am meisten geht es, in immer neuen Ansätzen, um das, was beide einzeln und zusammen waren und sind, und darum, dass Gegenwart letztendlich, und allen schönen Scheinen zum Trotz, wenig mehr ist als das Ergebnis von Vergangenheit.

Verschiedene Handlungsstränge nebst Vor- und Spiegelgeschichten, subjektiven Perspektiven der Hauptfiguren und diverser Geschichten in der Geschichte kommen in szenischer Abfolge und in kleinen und kleinsten Häppchen, ans Tageslicht. Vieles erfährt man dabei auch von den familiären Hypotheken der Hauptfiguren; Eltern und Großeltern tauchen auf, Wohnungen und Häuser spielen eine Rolle, Lebensentwürfe und Alternativen werden offenbart, Schicksale skizziert und immer wieder die Menschen beleuchtet, die darin eine Rolle spielen. Dabei sind die Verquickungen und Verstrickungen, die Kontraste zwischen Schein und Sein und die oft sehr konträren Perspektiven der Hauptfiguren so geschickt miteinander verwoben, dass sich der Leser mit Feuereifer in das ihm dargebotene Gedankenpuzzle stürzen kann. Auch wenn dies auf den ersten Blick verwirrend scheint, wird gerade keine Verwirrung gestiftet, sondern es wird das Leserbewusstsein zügig, aber doch behutsam zu der Erkenntnis geführt, dass viele kleine Teile zwar durchaus eine eigene Bedeutung haben können, aber doch erst im Kontext des größeren Ganzen ihren eigentlichen Wert offenbaren.

Auch die eine oder andere falsche Fährte ist eingebaut – dieser folgt man nicht immer überzeugt, aber immer gerne, weil sie, so weiß man bald aus Erfahrung, zu bislang Unbekanntem führen wird, das wieder völlig neue Perspektiven bereithält.

So ist die Analogie zu einem Puzzle umso treffender, als man auch dort an mehreren Stellen gleichzeitig an der Vervollkommnung des fertigen Bildes arbeitet. Das fertige Bild ist im übertragenen Sinne allerdings zu verstehen als ein Ende der Geschichte, das eine Reihe von Fakten und Zusammenhängen offen legt, ohne allerdings dem Leser Raum zu nehmen für eigene Gedanken.

Das Buch ist ein Abenteuer und deshalb spannend. Und es ist eine überzeugend angelegte Fiktion, die gerahmt wird von zwei kleinen Texten, die durch ihre vermeintliche Banalität die Tragik des Erzählten noch unterstreichen. Das letzte Wort hat aber gottlob nicht diese Banalität, sondern die Wahrheit. Damit ist der Roman auch Wirklichkeit – je älter der Leser ist, desto eher wird er das nachempfinden können – und gerade deshalb so berührend.

Über Mathilda und Xaver dagegen – und über die Summe beider Universen – denkt man noch eine ganze Weile nach. Das ist allerdings nicht weiter verwunderlich, denn ein bisschen Xaver oder Mathilda steckt schließlich in jedem von uns.

Titelbild

Judith W. Taschler: Die Deutschlehrerin. Roman.
Picus Verlag, Wien 2013.
223 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783854526926

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