Ein Mann fällt aus der Welt

In „Cabo de gata“ zeigt Eugen Ruge, dass er auch die kleinere literarische Form beherrscht

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn einer gleich mit seinem ersten großen Werk den Gipfel des literarischen Ruhms erreicht, hat er ein Problem. Die Frage, vor der er sich plötzlich sieht, lautet: Was nun? Es ist das Problem, mit dem sich wohl jeder Schreibende herumschlagen muss, wenn er ein Projekt abgeschlossen hat, eine Idee über viele mühevolle Stationen zu einem Buch geworden ist, das Leser fand, die dem Autor von nun an mit einer ganz bestimmten Erwartungshaltung gegenübertreten. Was kommt als nächstes? Wird der zweite Roman den ersten gar noch übertreffen oder gibt es den gar nicht so seltenen Absturz? Und wie viel Zeit darf man sich lassen, ehe das literarische Vergessen beginnt?

Für seinen Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ heimste Eugen Ruge zwischen 2009 und 2011 viel Lob ein. Höhepunkt war die Verleihung des Deutschen Buchpreises 2011. Die Begründung für diese Auszeichnung betonte damals: „Eugen Ruge spiegelt ostdeutsche Geschichte in einem Familienroman. Es gelingt ihm, die Erfahrungen von vier Generationen über fünfzig Jahre hinweg in einer dramaturgisch raffinierten Komposition zu bändigen. Sein Buch erzählt von der Utopie des Sozialismus, dem Preis, den sie dem Einzelnen abverlangt, und ihrem allmählichen Verlöschen. Zugleich zeichnet sich sein Roman durch große Unterhaltsamkeit und einen starken Sinn für Komik aus.“

„Cabo de Gata“ nun, das Nachfolgebuch dieses literarischen Coups – das, obwohl es wieder als „Roman“ daherkommt, eigentlich alle Anforderungen an eine klassische Novelle, also eine kleinere, strenger reglementierte epische Form erfüllt –, enttäuscht, das sei hier schon vorweggenommen, keineswegs. Auch wenn es sich auf den ersten Blick in fast jeder Beziehung von seinem allseits gerühmten Vorgänger unterscheidet. Warum es Ruge 2013 nicht auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, dürfte das Geheimnis der sieben Jurymitglieder mit Helmut Böttiger an der Spitze sein. Denn der Text gehört unbedingt unter die besten Werke dieses Literaturjahrgangs, und zwar gerade wegen des Neulands, das hier inhaltlich wie formell von seinem Autor betreten wird.

Im Roman selbst passiert nicht allzu viel. Ein Mann um die 40 – Eugen Ruge selbst ist Jahrgang 1954 und viele der beiläufig in das Buch eingestreuten Informationen zu Herkunft, Familie und Werdegang seines Protagonisten weisen darauf hin, dass der Roman wohl einen autobiografischen background besitzt –, angehender Schriftsteller, lässt eines Tages alles hinter sich, was sein bisheriges Leben ausmachte. Von einem regelrechten Wahn ergriffen, sich aus den Fesseln des Systems zu befreien – Arbeit, Wohnung, Energieversorger, Telekom und gesetzliche Krankenversicherung werden wie im Rausch gekündigt –, verlässt er Deutschland und wählt als Fluchtpunkt seiner Existenz einen kleinen spanischen Küstenort im südöstlichsten Zipfel des europäischen Kontinents.

Von einem Reiseführer als „das letzte romantische Fischerdorf“ Andalusiens beschrieben, ein paradiesischer Flecken, durch den bereits ein „Hauch von Afrika“ wehe, stellt sich dieses Cabo de Gata bei seiner Ankunft als ödes Nest heraus, abseits gelegen und nur über eine verlassene Straße zu erreichen, an deren Rändern sich „regelrechte Müllhalden“ auftürmen: „So weit ich blicken kann: Scherben, alte Schuhe, einmal ein Kinderwagengestell und immer wieder, auffällig bunt, die Errungenschaften der Polymerenchemie, schwer verwitterbar aufgrund ihrer Beständigkeit gegen Säuren und Laugen.“

123 Tage bleibt der Mann vor Ort und kämpft während dieser ganzen Zeit mit einem Roman, der sich nicht schreiben lassen will. Dabei geht es ihm bei seinen Notizen, die er des Vormittags macht, um sie am Nachmittag wieder zu verwerfen, nicht anders als den Fischern, die er Tag für Tag beobachtet: „Mucho trabajo, poco pescado! – Viel Arbeit, wenig Fisch!“ Viel mehr Personal als jene drei wortkargen Männer, Söhne der mürrischen Wirtin, in deren kleinem Gasthaus Ruges Held untergekommen ist, gibt es kaum. Zweimal verirren sich Touristen – ein Engländer und ein Amerikaner – für kurze Zeit in die Gegend. Und schließlich tauchen noch ein paar einheimische Sonderlinge auf, von denen „die Dickärschige“, ein Barmann, zwei alte Männer in Schlafanzügen sowie eine Frau mit einem Gipsbein gelegentlich Erwähnung finden. Am Interessantesten aber gestaltet sich für den Ich-Erzähler die Begegnung mit einer Katze.

Rotgetigert, zuerst scheu und vorsichtig, später dann immer mehr Vertrauen zu dem Fremden schöpfend, der sie füttert, anstatt sie, wie sie es anscheinend gewöhnt ist, mit einem Fußtritt zu verjagen, wird sie ihm mit der Zeit nicht nur zur vertrauten Begleiterin auf seinen einsamen Wegen, sondern auch zu einem Orakel, das ihm letzten Endes zu sich selbst zurückbringt: „Die Katzenbotschaft in Worten: dass ich vergeblich hier bin. Dass nämlich das, worauf ich hoffe, nicht eintreten wird – und zwar, weil ich darauf hoffe.“ Für den Roman, der nicht gelingen will, bedeutet das: „Der große Entwurf, die große Form, in der sich Vergangenheit und Gegenwart auf wundersame Weise verbinden, der Tonfall, in dem sich meine Geschichte von selbst erzählt, kann nicht erdacht werden, ist keine Verstandesleistung, keine Frage der Intelligenz, sondern… wird sich einstellen, sobald das absolute Gleichmaß erreicht ist. Sobald die Welt aufgehört hat, mich durch Wandel zu stören.“

„Cabo de Gata“, enstanden zwischen November 2011 und August 2012, erzählt eine Episode, die zeitlich in die späten 1990er-Jahre des 20. Jahrhunderts gehört. Zu Papier gebracht wird sie „fünfzehn Jahre und ein Jahrtausend später“ mit dem festen Vorsatz, aus nichts als aus Erinnerungen zu schöpfen. Keinerlei Hilfsmittel sollen den Weg in die Tiefen des Gedächtnisses erleichtern. Keine noch so seltsamen Assoziationen und träumerischen Verbindungen sollen ausgeschlossen sein. Und so regiert den Text am Anfang ein beständig wiederkehrendes „Ich erinnere mich…“, das nicht auf eine tatsächliche Rekonstruktion von Gewesenem hinausläuft, sondern die Schwächen des Gedächtnisses ausnutzt, um zu einer anderen, tieferen, poetischeren Form von Wahrheit zu gelangen. Zu einer Geschichte, in der eine Katze Züge der verstorbenen Mutter – deren rot gefärbtes Haar und die grünen Augen mit den braunen Einsprengseln – annehmen kann, und der Traum von der Auferstehung der Mutter, noch in Deutschland geträumt, vorausweist auf das Erlebnis mit der Katze.

Biografisch muss das, was Eugen Ruge hier bewundernswert konzentriert und in einem ganz eigenen, gelassenen, unaufgeregten Tonfall erzählt, wohl in die Zeit eingeordnet werden, als sich der studierte Mathematiker mit seinem Erfolgsroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ herumschlug. Auch das, was der in „Cabo de Gata“ namenlose Ich-Erzähler über seine Familie und die persönliche Situation, in der er sich befindet, preisgibt, kennt man zu Teilen schon aus dem Vorgängerbuch: die aus der mexikanischen Emigration zurückkehrenden Großeltern, die eigene frühe Kindheit in Russland, den Nachwendefrust des Vaters, der in der DDR ein anerkannter Historiker war. Werden diese Tatsachen aber dort im Rahmen großer historischer Zusammenhänge aufgearbeitet, dienen sie hier mit zur Motivation der Flucht aus den neudeutschen Zusammenhängen der 1990er-Jahre. Dass sie sich in den knappen vier Monaten in Spanien noch nicht sinnstiftend in ein literarisches Werk integrieren lassen wollen, liegt daran, dass es vor dem Schreiben erst noch eines Erlebnisses der Selbstfindung bedarf. Dafür sei der Katze Dank.

Titelbild

Eugen Ruge: Cabo de Gata. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013.
200 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498057954

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