Gurus, Scharlatane und der Wunsch, getäuscht zu werden

Mit „Am Abgrund“ bestätigt Edward St Aubyn seinen Ruf als Meister des britischen schwarzen Humors

Von Martin BeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Becker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die reiche Brooke versammelt Gurus um sich, wie Adam, der sich selbst als „Anti-Guru-Guru“ bezeichnet,  oder Kenneth, der an einer Synthese aus allen Weltreligionen arbeitet. Stan leidet an Erektionsstörungen und Karen ist seine naive Ehefrau, die den Heilsversprechen von Esoterikern zu gerne Glauben schenkt. Haley und Jason führen eine Beziehung, die eigentlich nur noch aus Streit besteht. Er ist ein erfolgloser Songwriter, sie Aromatherapeutin. Peter ist ein erfolgreicher Banker, der sich in Deutschland in Sabine verliebt. Da er ihre Adresse und Telefonnummer nicht kennt, besucht er auf der  Suche nach ihr verschiedene esoterische Institute, von denen sie ihm erzählte.

In Episoden mit abwechselnden Protagonisten erzählt St Aubyn von Selbstzweifeln und Hoffnungen seiner Figuren. Alle diese Menschen treffen sich am Ende in Esalen, einem real existierenden Institut in Kalifornien, auf einem Tantra-Workshop. Die Fiktion des Romans erfüllt in ihrer Konstruktion den Wunsch nach einer (quasi) göttlichen Fügung, der allen Figuren in ihrer Sinnsuche gemein ist.

Bis es aber zum Treffen in Esalen kommt, legt St Aubyn mit seiner scharfen Beobachtungsgabe die Scharlatanerie einer ganzen Industrie offen, die aus der Sinnsuche der Menschen Kapital schlägt, wie beispielsweise anhand des angeblichen Indianerhäuptlings, dem es sehr unangenehm wird, als er sich plötzlich mit einem Kenner indianischer Kultur konfrontiert sieht. Gleichzeitig zeigt St Aubyn behutsam, wie seine Figuren an ihrem Leben leiden. Crystal wurde von ihrem Vater, einem berühmten Psychoanalytiker, nicht beachtet und landete deshalb selbst auf der Couch. Peter ist zwar beruflich erfolgreich, findet aber weder in der Bank noch bei seiner langweiligen Freundin Erfüllung. St Aubyn dekonstruiert diese Stereotypen genüsslich, die an einem Leben leiden, das übersättigt und doch ohne tieferen Sinn ist. So kann Adam darüber weinen, dass die Wale Aids haben und erntet viel Aufmerksamkeit, aber genau darum geht es ihm auch. Umweltschutz, Religion und Esoterik werden in diesem Roman gnadenlos als Versuche  von Menschen verstanden, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. St Aubyn kombiniert immer wieder Zitate historischer Autoren mit den Selbstreflexionen seiner Figuren, die alles auf sich selbst beziehen und in Wirklichkeit gar nichts lernen:

„Sowohl Adam als auch Rumi [islamischer Mystiker des 13. Jahrhunderts] liebten kulinarische Vergleiche. Rumi hatte gesagt: „Meine Poesie ist wie ägyptisches Brot.“ Brooke, die Ägypten kannte, bedauerte dies unwillkürlich. Rumi hatte offenbar sagen wollen, dass man das Brot schnell aufessen müsse, wogegen Brooke fand, man solle es gar nicht erst anfassen. Zum Glück ließen die Johnsons – die aufmerksamsten Gastgeber, die man sich vorstellen konnte – täglich Croissants aus Paris einfliegen. Wie durch ein Wunder erschienen sie auf dem Frühstückstisch, während ihr Schiff den Nil hinuntertuckerte, an den Fundamentalistenkindern vorbei, die am zerklüfteten Ufer mit den Armen fuchtelten. Der arme Rumi war vermutlich nie in den Genuss gekommen, ein Croissant zu kosten. Jedenfalls ging es beim ägyptischen Brot um genau das, was William Blake meinte, als er sagte, man müsse „die Freude küssen in ihrem Flug“, um „im Sonnenaufgang der Ewigkeit“ zu leben. Sie lernte ja so viel.“

Der Roman endet überraschend versöhnlich, und hier wird vielleicht am deutlichsten, dass St Aubyn zwar Menschen zu lächerlichem Verhalten fähig sieht, nicht aber die Suche nach Sinn im Leben für lächerlich hält.

Diesen feinsinnigen Humor stellte St Aubyn bereits in seiner Melrose-Saga unter Beweis. Hier ist es die Familie, die der Autor anhand einer Vater-Sohn-Beziehung auseinandernimmt (siehe literaturkritik.de Nr. 6/2007 und Nr. 12/2007). Im letzten Teil der Reihe „Zu guter Letzt“ reflektiert der Protagonist Nicholas auf der Beerdigung seiner Mutter sein Leben als reicher Sohn einer kaputten Familie inklusive Misshandlung, Drogenproblem und Affären. Auch hier spielt Esoterik eine wichtige Rolle. Ähnlich wie Brooke suchte auch Nicholas Mutter im Schamanismus Halt und versuchte durch Wohltätigkeit wett zu machen, dass sie ihren eigenen Sohn nicht vor dem Vater schützen konnte. Nicholas gelingt es jedoch am Ende, die Spirale aus Vernachlässigung zu durchbrechen, und wendet sich seinen Kindern zu.

St Aubyn spürt zielsicher auf, wie Menschen vor ihren eigenen Widersprüchen fliehen, wird jedoch niemals zynisch. Wegen seines trockenen Humor sind seine Romane niemals trocken, sondern stets unterhaltsam. Denn selbst wenn seine Protagonisten seitenweise über Philosophie oder Psychoanalyse schwadronieren, geschieht dies immer mit einem ironischen Unterton, der sich der „Katastrophe einer festgelegten Bedeutung“, wie es in „Zu guter Letzt“ heißt, entzieht und Raum für Hoffnung lässt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Edward St Aubyn: Zu guter Letzt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Sabine Hübner.
Piper Verlag, München 2011.
223 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783492054348

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Titelbild

Edward St Aubyn: Am Abgrund. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Sabine Hübner.
Piper Verlag, München 2013.
303 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783492055413

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