Originell, überzeugend und instruktiv

Anja Karnein hat eine zukunftsweisende Theorie des ungeborenen Lebens vorgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lektüre eines neuen Fachbuches, das nicht nur eine originelle Theorie entwickelt, sondern auch noch plausibel deren Vorzüge gegenüber dem bisher gemeinhin bevorzugten Ansatz begründet, ist ein eher seltenes Vergnügen. Anja Karneins „Theorie des ungeborenen Lebens“ bietet es. Worum es geht, bringt der Titel ihres Buches prägnant auf den Begriff: „Zukünftige Personen“. Diesen Terminus der zukünftigen Person macht die Autorin gegen den in der Theorie des ungeborenen Lebens bislang üblichen der potentiellen Person stark. Dabei spannt sie den Begründungsbogen ihrer Untersuchung „von der künstlichen Befruchtung bis zur genetischen Manipulation“.

Zunächst einmal räumt sie selbstverständlich ein, dass viele pränatale Ereignisse für den späteren Menschen von großer Relevanz sind können, doch – und das ist schon der Clou ihrer Argumentation – folge daraus keineswegs, „dass das Leben vor der Geburt von Bedeutung ist, wenn daraus keine Person entsteht“, die sich an diesen Ereignisse „stören könnte“.

Karnein selbst fast diesen „Kern“ ihrer Theorie des ungeborenen Lebens in einem grundlegenden Unterschied bündig zusammen. Er besteht darin, dass es zwar für tatsächliche Personen und ihre Existenz relevant ist, „was mit den Embryonen geschah, aus denen sie sich entwickelt haben“; doch kann das, „was mit Embryonen geschieht, die sich nicht zu Personen entwickeln“ unmöglich „aus der Perspektive der ersten Person“ relevant sein. Eine bestechende Überlegung.

Dem geläufigen Topos, der Embryonen als potentiellen Personen fasst, hält sie entgegen, dass Embryonen eben nicht die Potenz besitzen, sich alleine aus sich selbst heraus zu einer Person zu entwickeln. Hierzu bedürfen sie – zumindest beim gegenwärtigen Stand der Technik – notwendigerweise vielmehr eine Frau, die bereit ist, sie auszutragen. Findet sie sich nicht, „gibt es schlicht keine potentielle Person“.

Um als Person gelten zu können, dürfen Wesen „für ihre fortdauernde Existenz“ jedoch „nicht zwingend auf eine Art lebenserhaltende Unterstützung angewiesen sein, die ihnen stets verweigert werden kann“, argumentiert die Autorin. Solange Embryonen aber „mit dem Organismus der Frau verbunden“ sind, bleiben sie existenziell von einer solchen Unterstützung durch eben diese Frau auf eine Art und Weise angewiesen, die für diese zudem überaus „anspruchsvoll“ und „intim“ ist. Da diese Frauen nun also „für die Entfaltung der ‚Natur‘ von Embryonen unverzichtbar“ sind, „haben diese für sich genommen keine ‚natürliche‘ Disposition, sich zu Personen zu entwickeln.“ Mithin ist es unzutreffend, Embryonen als potentielle Personen zu bezeichnen. Ändern würde sich diese zwingende Abhängigkeit des Embryos von einer bestimmten schwangeren Frau erst mit der Erfindung einer künstlichen Gebärmutter, in der sich ein Fötus außerhalb eines weiblichen Körpers entwickeln kann. So lange eine solche Apparatur jedoch noch nicht entwickelt worden ist, ist der Embryo ohne eine „unterstützende Frau“ nicht lebensfähig und „für seine weitere Entwicklung vollständig und auf unersetzbare Weise von dieser Frau abhängig“.

Gemäß dem von Karnein entwickelten „Prinzip zukünftiger Personen (PZP)“ dürfen Frauen „eine solche Unterstützung jederzeit verweigern, und zwar auch dann, wenn es einfach nicht ihren Lebensvorstellungen entspricht, zu diesem Zeitpunkt schwanger zu sein.“ Denn Föten haben, kurz gesagt, „kein Recht, geboren zu werden“. Ist eine Frau allerdings „mit der Schwangerschaft einverstanden“ und möchte den Fötus austragen, sollte die „Achtung für Personen auch eine affirmative Haltung hinsichtlich ihrer Erzeugung nach sich ziehen.“

Karneins instruktives Prinzip zukünftiger Personen bietet nicht nur ebenso wie das bis dato gängige Prinzip potentieller Personen „die Möglichkeit, Embryonen zu schützen, die sich zu Personen entwickeln“. Es bietet darüber hinaus (Handlungs-)Möglichkeiten, die das Prinzip der potentiellen Person verwehrt. So lässt es die Option schwangerer Frauen unangetastet, „ihre ungeborenen Föten abzutreiben“, werdende Eltern dürfen gemäß dem PZP „bestimmte Embryonen mittels PID aussortieren“ und WissenschaftlerInnen können Embryonen für ihre Forschungen verwenden.

Dass schwangere Frauen die Entscheidungsbefugnis haben, ob sie einen Embryo austragen oder abtreiben, und sie somit „entscheiden dürfen, wer geboren wird“, bedeutet allerdings nicht, dass es ihnen ebenfalls frei steht zu entscheiden, „wie zukünftige Personen auf die Welt kommen“, indem sie etwa beliebige genetische Manipulationen an dem Embryo vornehmen lassen, um die zukünftige Person ihren Vorstellungen gemäß zu gestalten. Dieses Verbot begründet Karnein überzeugend damit, dass „Personen – inklusive zukünftige Personen – als eigenständig und gleichwertig zu behandeln“ sind. Denn Embryonen haben zwar nicht schlechthin das Recht geboren zu werden, handelt es sich bei ihnen aber um zukünftige Personen, so haben sie nicht nur dieses Recht, sondern darüber hinaus auch dasjenige, so angenommen zu werden, wie sie geboren werden.

Zwar ist es noch keine Eigenschaft einer zukünftigen Person, bereits eine Person zu sein, doch falls sich aus ihr eine tatsächliche Person entwickelt hat, ist für diese ihre Behandlung in der embryonalen Phase ihres Daseins relevant. Darum sollten „Embryonen, die sich zu Personen entwickeln“, Karnein zufolge „in Antizipation der Achtung, welche diesen Personen geschuldet wird, behandelt werden“.

Daraus wiederum folgt nicht nur das allgemeine Verbot der gentechnischen Manipulation von Embryonen, sondern auch die Ausnahme von dieser Regel, die Karnein nicht weniger überzeugend zu begründen versteht wie die Regel selbst. Hierzu entwickelt sie „zwei Arten von Verpflichtungen“ gegenüber zukünftigen Personen, von denen eine negativ, die andere positiv ist. Erstere verpflichtet dazu, „grundsätzlich auf genetische Eingriffe zu verzichten und (zukünftige) Personen so zu achten, wie sie auf die Welt kommen“. Die positive Verpflichtung besteht hingegen darin, alle Maßnahmen – inklusive genetischer Eingriffe am Embryo – durchzuführen, ohne die „nicht garantiert werden kann, dass Personen mit der körperlichen und geistigen Ausstattung geboren werden, die notwendig sind, um ein minimal unabhängiges Leben zu führen.“ Diesem Grundsatz gemäß, darf in die Entwicklung von Embryonen „nur in dem Maße eingegriffen“ werden, „in dem ein solcher Eingriff durch andere auch bei ihnen als erwachsenen Personen (und ohne ihre Zustimmung) zulässig wäre.“

Grundsätzlich sind „Eingriffe in die genetische Ausstattung“ eines Embryos Karnein zufolge überhaupt nur dann erlaubt, wenn sie sich „auf die Achtung für die Unabhängigkeit zukünftiger Personen gründen“. Darüber hinausgehende genetische Manipulationen, etwa um die zukünftige Person im Sinne der Eltern zu ‚optimieren‘, sind hingegen unzulässig, da sie „ein System der intergenerationellen Beherrschung“ fördern und so die Unabhängigkeit der in seinem embryonalen Zustand manipulierten Person verletzen.

Im Laufe ihrer weiteren Argumentation geht die Autorin näher auf die gesetzlichen Vorschriften zum Abtreibungsrecht in den USA und in Deutschland ein, wobei sie im Falle Deutschlands das Embryonenschutzgesetz einer kritischen Analyse unterwirft. Wie Karnein zeigt, führen die „dem Schutz der menschlichen Würde und dem Recht auf Leben von Embryonen verpflichteten“ juristischen und politischen Rahmenbedingungen Deutschlands keineswegs zwingend dazu, „dass alle Embryonen gleichermaßen geschützt werden“. Geschützt werden Embryonen hierzulande vielmehr meist gegen die Interessen der Frauen, die mit ihnen schwanger sind, während Embryonen „in strafrechtlich relevanten Kontexten jenseits der Abtreibung zerstört werden können, ohne dass das geahndet würde.“ Bezüglich der Abtreibungsdebatte in den USA wiederum zielt ihre Argumentation darauf zu zeigen, dass es auch einer „politischen und gesetzlichen Ordnung“, in der die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens „ausgeklammert“ wird, möglich ist, „ Embryonen vom Moment ihrer Empfängnis an zu schützen“, wenn dies gewünscht wird.

Besonderen Nachdruck legt die Autorin zudem auf ihre Kritik an den Ansätzen „liberaler Eugeniker“, denen ihr zufolge „etwas zutiefst Ironisches anhaftet, wenn sie die Optimierung vorschlagen, um das Leben zukünftiger Generationen zu verbessern“, da sie ja „klassischerweise verlangen, von Einmischungen durch ihre Mitmenschen oder Regierungen frei zu sein, insbesondere dann, wenn es um ihre Intimsphäre geht.“ Schwerer wiegt allerdings, dass Karnein ihnen nicht zu Unrecht vorhält, die Gefahr der „intergenerationellen Beherrschung“ nicht hinreichend zu berücksichtigen. Dabei setzt sie sich insbesondere mit John A. Robertsons „Verteidigung reproduktiver Freiheiten“, Ronald Dworkins Plädoyer für den „Vorrang wissenschaftlichen Fortschritts“ sowie den von Allen Buchanan vorgebrachten Argumenten für die „Sicherstellung der Chancengleichheit“ auseinander. Anschließend erörtert sie die von Jürgen Habermas beschworene „Gefahr die menschliche Natur zu verändern“ und seine Befürchtung, genetische Manipulationen würden „fundamentale Prinzipien untergraben“, auf denen die Moral „als solche“ gründet.

Die letzten Seiten des vorliegenden Buches gelten der Frage, wer dafür verantwortlich ist, die „natürliche Unabhängigkeit“ zukünftiger Personen zu schützen. Und hier verliert Karneins Argumentation an Überzeugungskraft. Zwar ist es nicht unplausibel, dass dies nicht primär diejenigen sind, „die dafür verantwortlich sind, zukünftige Personen auf diese Welt zu bringen“, also nicht die Eltern, sondern diese Aufgabe vielmehr der Gesellschaft insgesamt aufzubürden ist, zumal Karnein die Zuständigkeit der Eltern zunächst nicht vollständig verneint. Bis dahin ist also nicht das Ergebnis ihrer Argumentation wenig überzeugend wohl aber ihr Argumentationsgang, der darauf abhebt, die „individuelle Reproduktion“ sei „nur teilweise eine unabhängig getroffene, private Entscheidung“. Denn schließlich bräuchten Gesellschaften zu ihrem Fortbestand Kinder und überhaupt werde „der Großteil des Nutzens, den die Fortpflanzung erbringt“, „von dem menschlichen Kollektiv oder den menschlichen Kollektiven abgeschöpft, zu deren Fortexistenz sie beiträgt“. Darum würde die Gesellschaft schon auf die eine oder andere Weise dafür sorgen, dass die Menschen Kinder bekommen. Auch würden Menschen als Eltern Teil eines Prozesses, der „sehr viel größer ist als sie selbst, den sie nicht hervorgebracht haben und von dem sie nur als Nebenwirkung profitieren“. Doch selbst wenn sich Menschen aus eigenen Stücken dazu entschlössen, „an diesem Prozess (der Reproduktion) teilzunehmen, dessen Funktionsweise sie nicht beeinflussen können“, wüssten sie „nicht immer genau, worauf sie sich einlassen.“ Denn „Schwangerschaften und die damit verknüpften Gefühle sind häufig so unvorhersehbar wie die Erfahrung, tatsächlich ein Kind zu bekommen.“ Nun mag letzteres unbestritten sein, doch unterscheidet sich diese besondere Unwissenheit, was es bedeutet, Mutter oder Vater zu werden, nicht von der allgemeinen menschlichen Unwissenheit hinsichtlich der möglichen Folgen jeglichen eigenen Handelns. Doch dies, die Folgen einer Handlung nicht absehen zu können, enthebt nicht von der Verantwortung für eben diese Folgen. Mögen den Menschen darum auch unerwartete und unerwünschte Folgen ihrer Handlungen nicht ethisch anzurechnen sein (oder doch nur soweit, wie es ihnen möglich gewesen wäre, sich über sie kundig zu machen), so sind sie rechtlich doch in weit größerem Ausmaß für sie verantwortlich – und werden gegebenenfalls zur Rechenschaft gezogen. Karneins Vorschlag einer „Neubewertung der Elternrolle“, der besagt, „Eltern sind nicht von sich aus diejenigen, die für die Fürsorge ihrer Kinder verantwortlich sind, sondern nur wenn sie dies wollen“, ist darum zumindest in der von Karnein hier formulierten Radikalität nicht nachzuvollziehen. Denn warum sollte die Verantwortung für die Folgen der Handlung, Kinder zu zeugen respektive zu bekommen, geringer sein als die Verantwortung für andere Handlungen, deren Folgen ebenfalls nicht ganz zu überblicken sind?

Die hier vorgetragenen Bedenken gegen Karneins „Neubewertung der Elternrolle“ aber tun der Überzeugungskraft des von ihr entwickelten Prinzips zukünftiger Personen und somit ihres zentralen theoretischen wie ethischen Anliegens keinen Abbruch. Wenngleich moniert werden könnte, dass die Autorin mögliche Auswirkungen unterbelichtet lässt, welche die Entscheidung von Frauen, einen Embryo nicht auszutragen, auf die gesellschaftliche Erwartungshaltung gegenüber anderen schwangeren Frauen, haben können. So könnte sich etwa ein gesellschaftlicher Druck aufbauen, der Frauen dazu drängt, einen Embryo abtreiben zu lassen, der mit einer gentechnisch nicht zu verhindernden möglicherweise schwerwiegenden Behinderung geboren würde.

Titelbild

Anja Karnein: Zukünftige Personen. Eine Theorie des ungeborenen Lebens von der künstlichen Befruchtung bis zur genetischen Manipulation.
Übersetzt aus dem Englischen von Christian Heilbronn.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
270 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518295861

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