Verloren in Drogengeschichten

Jeet Thayil erzählt in „Narcopolis“ von Opium, Süchtigen und Bombay

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kunst hatte immer eine Affinität zu Drogen. Musiker, Maler, Schriftsteller, zahllose große Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts hatten ihre Süchte. Baudelaire, jener Begründer der modernen Lyrik, war dem Opium verfallen und hätte ohne die Droge möglicherweise nie die Lyrik schreiben können, die er geschrieben hat, hätte vielleicht nie den besonderen Blick auf die Welt entwickeln können, den er hatte, und hätte womöglich niemals eine gleichermaßen betörend schöne und grausam-sezierende Sprache für die Ambivalenzen der aufziehenden Moderne gefunden. Aber vermutlich, und auch das gehört zu den Drogen, wäre Baudelaire ohne sie auch nicht viel zu früh mit nur 46 Jahren, mittellos, von der Syphilis gezeichnet und nach langem Dahinsiechen in einem anonymen Pflegeheim elendiglich verreckt. Wenn man die Geschichte von Drogensüchtigen erzählt, dann erzählt man immer ein bisschen von Genie und Wahnsinn, von einigem Licht und viel Schatten und man erzählt vor allem davon, wie jemand zugrunde geht an der Sucht.

In dem 2012 auf Englisch erschienenen Roman „Narcopolis“ erzählt der indische Schriftsteller Jeet Thayil genau davon: von den Drogen und dem Verrecken. Sie verrecken alle in diesem Roman, alle Gestalten, die darin auftauchen, und sie tun es langsam, manchmal ein ganzes Leben lang. „Narcopolis“ verarbeitet auch Thayils eigene Sucht-Geschichte, sagt er in einem Interview. Es ist der Debütroman des 1959 geborenen Schriftstellers, der bis dahin vor allem Lyrik, Anthologien und Essays veröffentlicht, außerdem in New York Kunst studiert und mehrere große Stipendien bekommen hatte. Thayils Geschichte ist ein wenig die des hochintelligenten Jungen, der an der Welt zu scheitern droht – 20 Jahre, sagte er, habe er in düsteren Bars im alten Bombay gesessen, getrunken und den nächsten Schuss, die nächste Pfeife gesucht, während er mit anderen Abhängigen über das Schreiben gesprochen hätte, ohne jemals auch nur eine Zeile geschrieben zu haben. Die Sucht habe er inzwischen überwunden und er sei froh, dass er eine zweite Chance erhalten habe durch die Kunst. Eine wunderbare Läuterungsgeschichte und eine grandiose Autorbiographie für die weltweite Vermarktung eines Romans, der an jeder Stelle ein bisschen die düstere Faszination der Sucht und des Rausches vermischt mit der grausamen Realität des Leidens ausstellt.

„Narcopolis“ erzählt, zunächst aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, der aber schon nach dem ersten Kapitel verschwindet und bis zu den Schlusskapiteln auch nicht mehr auftaucht, die Geschichte einer Khana, einer Opiumhöhle, im alten Bombay der siebziger Jahre. In der Khana treffen neben dem Besitzer Rashid die Transsexuelle Dimple, ein alter chinesischer Dissident, ein verrückter Künstler und viele andere Kleinkriminelle, Süchtige, Gescheiterte aufeinander. Sie alle erzählen zwischen den Opium-Pfeifen ihre Geschichten und damit auch die Geschichte einer faszinierenden Millionenstadt abseits der Bilder für die Touristen: „Bombay, eine Stadt, die ihre eigene Historie verwischte, indem sie sich einen anderen Namen gab und chirurgisch ein anderes Aussehen, ist Heldin, auch Heroin dieser Geschichte“, heißt es zu Beginn des Romans. Durch die zwielichtigen Gestalten, die die dunklen Gassen und üblen Spelunken der Stadt bevölkern, soll Bombay selbst zum Leben erweckt und der Blick freigegeben werden auf die Ausgegrenzten und Marginalisierten, die nichts haben außer den Rauschmitteln und hin und wieder etwas Sex in schmutzigen Hinterzimmern auf verrotteten Matratzen. „Mach unsere Schande öffentlich“, fordert der alte Rashid den Erzähler irgendwann auf, „damit man uns Menschen am untersten Rand der Gesellschaft versteht, den allerletzten Dreck, die Prostituierten, Ganoven und Drogensüchtigen, Menschen ohne Glauben an Gott oder Menschen, die an nichts außer an die Wahrheit ihrer eigenen Sinne glauben.“ In den Schicksalen dieser Menschen schließlich spiegelt sich die Geschichte der Droge – des Opiums – selbst. Mehr und mehr verliert es gegenüber dem Heroin und anderen synthetischen Drogen an Bedeutung, die Khanas verschwinden aus dem Stadtbild und damit auch eine Kultur des langsamen, bedächtigen Rauchens und des meditativen Rausches, der das Opium so verlockend macht.

Thayils Roman hat sich damit einiges vorgenommen – zu viel, wie sich schnell herausstellt. Er möchte von allem gleichzeitig erzählen, von der Stadt, den Menschen, der Droge und versucht zudem, all das noch zu reflektieren: Muster der Sucht zu entdecken, die zu Mustern der Ausgrenzung werden, gesellschaftliche Probleme Indiens aufzuzeigen und existenzielle Probleme des in-die-Welt-geworfenen Menschen zu verarbeiten, die Folgen der Globalisierung und Heimatlosigkeit, des stetigen Wanderns durch die Welt literarisch zu gestalten und schließlich die Ambivalenz oder gerade die Komplementarität von Gut und Böse auszustellen. Kein großes Thema, was in „Narcopolis“ nicht auftaucht, keine Geschichte, die nicht angerissen wird: „So ist unsere Realität. Jedem kann jederzeit alles zustoßen“, heißt es an einer Stelle des Romans, und darin scheint die Poetologie des Textes zu liegen: die Abbildung von Kontiguität, von Chaos und Zerfall, die Darstellung der Überforderung des Einzelnen mit Themen, Menschen, Eindrücken. Und darin liegen letztlich auch seine strukturelle Überforderung und sein Scheitern.

Die Figuren bleiben seltsam fremd und bei allem Leiden auf Distanz, ihren Geschichten wird mal zu viel, mal zu wenig Platz eingeräumt, um fesseln zu können, und ihren Schicksalen durch das stetige Springen von Thema zu Thema kein Raum zur Entfaltung gegeben. Thayil macht vielleicht die Schande dieser Figuren am unteren Rand der Gesellschaft öffentlich, aber er gibt keine Möglichkeit, sie zu verstehen. Das alte Bombay wird namentlich genannt, aber es wird niemals zu einem Teil des Romans, bleibt in Form von ein paar Slums Kulisse und Dekor. Das Opium schließlich bleibt dem Roman jederzeit Mittel zum Zweck, Scharnier zur Verbindung von Einzelschicksalen, niemals jedoch ein Phänomen, dem es sich schreibend zu nähern gelte. Es gibt Momente, in denen das Potential der Geschichten, die in „Narcopolis“ verwoben sind, aufscheint, kurze Episoden aus dem Leben der transsexuellen Dimple beispielsweise, die eindringlich und fesselnd sind, gar berührend: ihr Schwanken zwischen Erniedrigung und Macht, ja Stolz durch ihre Tätigkeit als Prostituierte, ihr Kampf um die eigene Identität in einer Unterwelt, die starr nach Geschlechteroppositionen strukturiert ist und ein Dazwischen nicht nur ausgrenzt, sondern bekämpft. Doch bevor der Roman dazu kommt, solche Geschichten wirklich zu verfolgen, erzählt er längst von einem Mister Lee, der in den fünfziger Jahren als Oppositioneller aus China flüchten muss.

Somit bleibt am Ende von „Narcopolis“ nicht wirklich viel, das die große Aufmerksamkeit rechtfertigen würde, die dem Roman durch die Aufnahme auf die Shortlist des Man Booker Prize und des Man Asian Literary Prize und den Gewinn des Prize for South Asian Literature zuteilwurde. Es mag die Exotik des Schauplatzes sein, der morbide Charme der Drogen oder die Läuterungsgeschichte des Autors, der Roman jedenfalls bleibt unentschieden, wovon er eigentlich erzählen möchte und ist damit haltlos überfrachtet. Vielleicht sind die Erfahrungen aus 20 Jahren in den Drogenbars Bombays zu viel für einen einzigen Roman, vielleicht hätte Thayil nur seine Geschichte erzählen sollen und nicht die Geschichten aller, die an den Drogen zugrunde gegangen sind

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jeet Thayil: Narcopolis. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
379 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783100800275

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