Von NS-Tätern, ihren Beschützern und Verfolgern

Daniel Stahl über „Nazi-Jagd. Südamerikanische Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechen“.

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Geschichte der Jagd nach geflohenen NS-Verbrechern repräsentiert ein eher unbekanntes und weitgehend unrühmliches Kapitel der deutschen Vergangenheitspolitik nach 1945, wie auch der Umgang mit südamerikanischen Diktaturen der 1950er- bis 80er-Jahre. Erst gegen Ende der 1950er-Jahre gab es überhaupt Bestrebungen der deutschen Strafverfolgungsbehörden, den Aufenthalt geflohener NS- und Kriegsverbrecher zu ermitteln und sie in Deutschland vor Gericht zu stellen. Diese eher zaghaften Versuche wurden von anderen staatlichen Stellen, Staatsanwaltschaften, Justizbehörden, Polizei sowie deutsche Botschaften in den Fluchtländern, nur halbherzig oder gar nicht unterstützt. Ja, diese Bemühungen zur Ergreifung der Täter wurden in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht selten sogar behindert oder heimlich hintertrieben. Daniel Stahl schildert in seiner Dissertation, die hier in erweiterter Form als Buch vorliegt, anhand einiger Einzelfälle ausführlich dieses besondere Kapitel deutscher Vergangenheitspolitik. Ihm geht es dabei auch um die besondere Rolle, die die südamerikanischen Diktaturen nach 1945 mit dem Aufenthalt und der Strafverfolgung der NS-Täter spielten.

Denn nach dem Ende des Krieges und der Niederlage Nazideutschlands war schnell klar, dass viele der NS-Täter untergetaucht und einige nach Südamerika entkommen waren. Dass nicht sofort nach ihnen gefahndet wurde, lag nicht nur an dem vorherrschenden Desinteresse deutscher Strafverfolgungsbehörden, sondern auch an dem mangelnden Interesse vieler europäischer oder außereuropäischer Staaten an einer strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen. Viele Staaten wussten nach Kriegsende nicht, wie sie mit Tätern und Kollaborateuren umgehen sollten. Dies galt in besonderem Maße auch für Deutschland, wo nach relativ kurzer Zeit wieder viele ehemalige Staatsanwälte, Richter sowie Mitarbeiter des Justizministeriums und des Auswärtigen Amtes wieder auf ihre alten Posten zurückgekehrt waren.

Stahl schildert die jahrelangen Versuche deutsche Strafverfolgungsbehörden, nach Südamerika geflohene Nazi-Verbrecher in Deutschland oder anderen Ländern vor Gericht zu stellen. Dabei zeigt sich das ganze erschreckende Ausmaß der Untätigkeit oder sogar Verweigerung von Behörden, Institutionen und Regierungen, den Opfern und dem allgemeinen Rechtsempfinden Genüge zu leisten.

Mag der Titel auch etwas reißerisch gewählt sein, in seinen Ausführungen berichtet der junge Jenaer Historiker sehr sachlich und wissenschaftlich fundiert über die vielen Probleme bei den Versuchen, die geflüchteten Täter zu fassen und sie vor Gericht zu bringen. Zweifellos haben die Entführung Adolf Eichmanns aus Argentinien und der Gerichtsprozess in Jerusalem mit seinem enormen Medieninteresse in aller Welt zu einer Änderung der Einstellung der Strafverfolgungsbehörden in Deutschland und anderen Ländern sowie zu einer Forcierung der Verfolgung der Nazitäter beigetragen. Aber bis dahin war es ein weiter Weg voller Hindernisse. Denn man fahndete nicht nur nach Tätern, sondern auch nach angeblich nach Südamerika transferierten Geldern und Nazi-Gold, mit deren Hilfe in Südamerika von den geflüchteten Nazi-Verbrechern eine neue Nazikolonie, sozusagen ein viertes Reich, aufgebaut werden sollte. Diese Vermutungen erwiesen sich allerdings später als Mythos, der aber auch von Institutionen und Einzelpersonen geschickt politisch eingesetzt wurde, um Druck auf die Behörden im In- und Ausland aufzubauen, damit diese gewillt waren, die Täter auszuliefern. Denn mittlerweile hatten sich auch zunehmend nichtstaatliche Institutionen oder auch Privatpersonen in die Suche nach geflohenen Kriegsverbrechern eingeschaltet. Hier ist vor allem Simon Wiesenthal und sein Büro zu nennen, später kamen auch Beate Klarsfeld und Eli Wiesel hinzu. Für einige Privatpersonen und nichtstaatliche Institutionen war es nach den Worten Simon Wiesenthals ein „nachholender Widerstand der Juden gegen die Nazis.“

Wenn die Zahl der nach Südamerika geflohenen Kriegsverbrecher auch nicht sehr groß war, so waren aber durchaus namhafte Fälle dabei. Adolf Eichmann, Erich Priebke, Klaus Barbie, Josef Mengele, Josef Stangl etwa, um nur die bekanntesten zu nennen. Auch Martin Bormann wurde lange Zeit in Südamerika vermutet, ehe man nachweisen konnte, dass er bereits 1945 in Berlin umgekommen war.

Bei den im Untertitel erwähnten südamerikanischen Diktaturen handelt es sich um Brasilien, Paraguay, Chile, Bolivien und vor allem um Argentinien. Argentinien  steht dabei besonders im Fokus von Stahls Untersuchungen. Nicht nur weil hier namhafte NS-Täter wie Adolf Eichmann, Erich Priebke und Klaus Barbie zumindest zeitweise Unterschlupf und Unterstützung gefunden hatten, sondern weil Argentinien hinsichtlich der Fluchthilfe sowohl qualitativ als auch quantitativ absolut singulär unter den südamerikanischen Staaten war. So stellte eine argentinische Historikerkommission 1998 fest, dass 180 von europäischen Staaten gesuchte NS-Täter oder Kollaborateure in Argentinien Unterschlupf gefunden hatten. Argentinien bot unter Peron vielen Nazi-Tätern Aufenthalt und Schutz vor Verfolgung oder verhalf ihnen sogar zur argentinischen Staatsbürgerschaft.

Dabei spielte eine antiamerikanische Einstellung mindestens ebenso eine Rolle wie ideologische Gemeinsamkeiten mit der NS-Ideologie. Stahl weist nach, dass die Strafverfolgungsbemühungen gegen NS-Täter durch deutsche Justizbehörden ein Skandal und kein Ruhmesblatt sind. Die jahrelange Untätigkeit der Ermittlungsbehörden, eine die Täter begünstigende Rechtsauslegung sowie der allgemeine Widerstand in der Bevölkerung gegen die Ahndung von NS-Verbrechen, erschwerten das erfolgreiche Vorgehen gegen die Untergetauchten enorm. Aus heutiger Sicht völlig unverständlich, dass sich auch große internationale Organisation wie Interpol der Mithilfe bei der Fahndung und Auslieferung von NS-Verbrechern verweigerten. Auch hier konnte Stahl belegen, dass Ursache häufig eine Kontinuität der Personen war, die bereits während des Krieges in Behörden im NS-Staat oder in ausländischen Staaten tätig waren. Paradoxerweise führte die in Deutschland geführte Verjährungsdebatte von NS-Verbrechen dazu, dass sich die Staatsanwaltschaften beeilten, neue Auslieferungsanträge zu stellen und auch neue Ermittlungsverfahren einzuleiten. Man wollte möglichst viele Fälle abschließen, damit den Gegnern der Verjährung von NS-Verbrechen keine Argumente wegen noch ungeklärter Fälle blieben. Hinzu kam auch, dass in vielen Ländern das Verbrechen des Holocaust erst spät in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte. Nachdem aber der Holocaust in das allgemeine Bewusstsein vieler Staaten geraten war, führte dies dazu, dass auch in anderen westlichen Ländern die Ermittlungen gegen flüchtige oder untergetauchte NS-Täter intensiviert wurden. Ein Beispiel dafür ist etwa der Fall Klaus Barbie, in den sich auch Frankreich nun einschaltete. Der plötzliche Eifer der Justizbehörden in Sachen Auslieferung war angesichts der Verjährungsdebatte zwar zu begrüßen, zeitigte aber paradoxerweise einen unerwünschten Nebeneffekt: denn sie lenkten von den in Deutschland unbehelligt lebenden NS-Tätern ab.

Dass die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Staatsanwaltschaften und andern Behörden oft von Differenzen und Misstrauen gekennzeichnet war, belegt beispielsweise das Beispiel des Frankfurter Staatsanwalts Fritz Bauer. Da es immer wieder zu Verzögerungen oder Behinderungen bei den Auslieferungsbegehren kam, arbeitete er im Falle von Josef Mengele mit bundesdeutschen Zeitungen zusammen und informierte das Justizministerium erst nachträglich von seinen Aktivitäten, so dass von dieser Seite keine Verzögerung mehr zu erwarten war. Dass in diesem Fall es trotzdem zu keinem Erfolg kam, hatte andere Gründe. Allerdings muss man auch einräumen, dass nicht nur die Untätigkeit oder mangelndes Interesse seitens der Strafverfolgungsbehörden oder anderer bundesdeutscher Stellen Schuld an dem Dilemma waren, sondern dass auch die in der Regel komplizierte Rechtslage oft einem erfolgreichen Auslieferungsbegehren entgegenstand.

Oft waren die Gesuchten mittlerweile Staatsbürger des Landes oder ihre NS- Verbrechen wurden als politische Verbrechen eingestuft. In diesem Fall durfte nicht ausgeliefert werden. Auch gab es lange Zeit keinen Auslieferungsvertrag zwischen Deutschland und den südamerikanischen Ländern. So wurde diese komplizierte Rechtslage häufig zum Anlass genommen, die Akte wegen vermeintlicher Aussichtslosigkeit eines Auslieferungsbegehrens zu schließen und die Fahndung einzustellen. Erst in den 1980er-Jahren änderte sich die Einstellung in den südamerikanischen Ländern, vor allem auch in Argentinien. Nun wollte man nicht den Verdacht bestätigen, NS-Verbrecher zu schützen und tat alles, um eine Auslieferung der Täter, hier vor allem Klaus Barbie, möglich zu machen.

Leider sind die häufigen Wiederholungen hinsichtlich der Verjährungsproblematik sowie die ausführlichen Schilderungen jedes Details der jeweiligen länderspezifischen Rechtsproblematik nicht gerade leserfreundlich. Dies mag für die Dissertation notwendig gewesen sei, aber die Kürzungen hätten einigen Passagen sicher gut getan. Ferner ist es schade, dass sich Daniel Stahl fast ausschließlich der Rechtsproblematik gewidmet hat und dabei die politischen Implikationen in den jeweiligen Ländern weniger im Fokus hatte. So hätte man gerne mehr gewusst, wie und warum die verschiedenen Regierungen in Südamerika sich der Nazitäter bedienten oder sie gar für ihre Zwecke und Ziele nutzten. So bleiben die Ausführungen und die Implikationen des Untertitels letztlich doch etwas unbefriedigend. Zum Schluss muss Daniel Stahl denn auch resignierend feststellen, dass die Jagd nach den geflohenen NS-Verbrechern letztlich kein Erfolg war. Dies zeigt sich auch darin, dass nur sechs Täter ausgeliefert und verurteilt wurden. Andere wichtige Täter waren zwischenzeitlich gestorben. Stahls Studie ist ein wichtiges Buch, das über ein besonderes Kapitel der Verfolgung von NS-Verbrechern und über die Verstrickung bundesdeutscher Behörden und Personen informiert, die lange Zeit erfolgreich die Verfolgung von NS-Tätern verschleppt oder gar verhindert haben.

Titelbild

Daniel Stahl: Nazi-Jagd. Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
430 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311121

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