Mogelpackung mit Anregungswert

Über Ulinka Rublacks Sammelband „Die Neue Geschichte“

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim vorliegenden Sammelband handelt es sich um die Übersetzung des 2011 bei Oxford University Press erschienenen „A Concise Companion to History“, den die in Cambridge lehrende Historikerin der Frühen Neuzeit Ulinka Rublack herausgegeben hat. Ein „Companion“, so formuliert es der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel in seinem glänzenden Vorwort, zielt auf ein breites Leserspektrum und ist ein Begleiter, mit dem man viel Zeit verbringt, auf den man immer wieder zurückgreifen kann und der in der zunehmend unübersichtlichen wissenschaftlichen Welt Orientierungswissen vermittelt. Und die Herausgeberin lässt in ihrer Einleitung auch keinerlei Zweifel daran aufkommen, wohin die Reise geht. Ihr „Companion“ ziele auf „eine Form der Geschichtsschreibung, die globale Verbindungen sucht und den intensiven Dialog zwischen Historikern fördert, die auf die Geschichte bestimmter Kontinente spezialisiert sind“. Denn eine „Einführung in die Geschichte darf heute nicht mehr eine Einführung in die westliche Geschichte sein, die den Westen als universales Modell nimmt und die Vergangenheit aus diesem Blickwinkel darstellt“. Um dies zu gewährleisten, hat Rublack 16 renommierte, in den USA und Großbritannien lehrende Historikerinnen und Historiker darum gebeten, die dort aktuell am meisten diskutierten Gegenstandsfelder einmal durch die Brille der „global history“ zu betrachten. Sie sollten ihre daraus resultierenden Überlegungen in Essays zusammenfassen, die dem Ansinnen Rechnung tragen, eine auf den Nationalstaat fixierte Geschichtsschreibung zu überwinden.

Der Band ist in zwei Abteilungen mit insgesamt 16 Kapiteln gegliedert. Abteilung I, mit „Geschichte schreiben“ betitelt, beinhaltet die vier Essays „Geschichte und Weltgeschichte“ (Christopher Bayly), „Kausalität“ (R. Bin Wong), „Der Status des historischen Wissens“ (Ulinka Rublack) und „Historiker“ (Donald R. Kelley und Bonnie G. Smith). Eingangs beklagt Bayly das Wiedererstarken nationaler Geschichtsnarrative im 21. Jahrhundert (er nennt dies „evolutionären nationalistischen Historismus“), ohne die Alternative der „global history“, die er in einigen Monografien so stark gemacht hat, positiv dagegen zu profilieren. Die Essays über „Kausalität“ und „Historiker“ lassen den Leser ratlos zurück, weil sie weder ein Erkenntnisinteresse verfolgen noch die eklektische Auswahl der darin behandelten Beispiele zu überzeugen vermag. Rublack hingegen gelingt es, jene Herausforderung des historischen Objektivitäts- und Wahrheitsanspruchs zu markieren, die sich im Zuge des „linguistic turn“ und durch die Theoretiker der Postmoderne ergab. Ob der Begriff des „geschulten Urteils“, den sie von Lorraine Daston und Peter Galison übernimmt, eine hinreichende Gegenstrategie ist, scheint jedoch fraglich zu sein, denn die historische Urteilsbildung stellt seit jeher den „blinden Fleck“ der Geschichtstheorie dar.

In Abteilung II, die recht unspezifisch „Themen und Strukturen“ heißt, finden sich fünf gut ausgearbeitete Essays über „Handel“ (Kenneth Pomeranz), „Kommunikation“ (Peter Burke), „Naturwissenschaften“ (Pamela H. Smith), „Umweltgeschichte“ (John R. McNeill) und „Die Macht der Ideen“ (Anthony Grafton). Sie verdeutlichen, dass die „global history“, will sie ihrem Gegenstandsbereich gerecht werden, mit einem in der Geschichtswissenschaft vorherrschenden Verständnis von individueller und kollektiver „agency“ brechen und sich stärker auf Kommunikation, Medien und Technik konzentrieren muss. Enttäuschend sind hingegen Christopher Clarks Ausführungen über „Macht“, in der er sein Thema vom europäischen Absolutismus bis zu Barack Obama durchmisst, ohne dabei einem roten Faden zu folgen. „Macht“ ist für Clark zwar, in Anlehnung an die poststrukturalistischen Konzepte von Michel Foucault und Gilles Deleuze, unablässig im Fluss, zerstreut, kapillar und lokal. Seine Analyse beschränkt sich allerdings in traditioneller Manier auf Staatsführung und internationale Beziehungen. Miri Rubins Essay „Religion“ bleibt dem von Clifford Geertz inspirierten kulturanthropologischen Ansatz verpflichtet, so dass weder die organisierte Form „Kirche“ noch die individuelle „religiöse Erfahrung“ (William James) eine Rolle spielen. Zudem ist Rubins Fokussierung auf die Stadt als Knotenpunkt des Religiösen zu einseitig, um diesem komplexen Phänomen gerecht zu werden.

Die Essays von Pat Thane über „Bevölkerung“, Dorothy Ko über „Geschlecht“, Elizabeth Buettner über „Ethnizität“ sowie Eiko Ikegami über „Emotionen“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie äußerst voraussetzungsvoll sind. Zum einen springen sie regelrecht zwischen Zeiten und Kontinenten hin und her, ohne dass daraus immer eine kohärente Annäherung an das jeweilige Thema entstände. Zum anderen thematisieren sie die teilweise komplexen Fachdebatten und -begriffe ihrer Spezialdisziplinen, also der Historischen Demografie, der gender history und der Körpergeschichte, der Alteritätsforschung und der postcolonial studies sowie der Emotionsforschung nur am Rande, so dass sich der Leser bisweilen im Dickicht der von ihnen erwähnten Namen, Konzepte und Einzelstudien verirrt. Eine bessere Lösung für das Problem einer unüberschaubaren Vielfalt methodischer Ansätze präsentiert Megan Vaughan in ihrem Essay „Kultur“, indem sie sich der Genealogie dieses Begriffs im europäischen Denken widmet und diese an verschiedene Theorieschulen zurückbindet. Ihrer Kritik an den mit dem Begriff „Kultur“ einhergehenden Versuchen individueller wie kollektiver Identitätsbildung hätte man leichteren Herzens zugestimmt, wenn es ihr gelungen wäre, ihr alternatives Konzept etwas prägnanter zu formulieren.

Ein Wort noch zum Titel „Die Neue Geschichte“. Keine der Autorinnen und Autoren, auch nicht die Herausgeberin, erhebt an irgendeiner Stelle des Sammelbandes den Anspruch, das Rad neu erfunden zu haben. Was eigentlich unter „Neue Geschichte“ zu verstehen sein soll, bleibt völlig unklar. Offensichtlich hat der Verlag aus verkaufstechnischen Gründen einen marktgängigen Titel gewählt. Die Erwartungen des Lesers werden damit enttäuscht, wenn nicht in die Irre geführt. Ohnehin ist nicht ganz einzusehen, weshalb ein solcher „Companion“ überhaupt ins Deutsche übersetzt werden muss. Diese Gattung von Handbüchern dient ja in erster Linie als Überblicksdarstellung des Forschungsstandes einer wissenschaftlichen Disziplin oder eines ihrer Themen für die englischsprachige Welt und ist nicht einfach in eine kontinentaleuropäische Wissenschaftslandschaft zu integrieren. Zum einen neigen deren Autorinnen und Autoren dazu (dies ist auch hier der Fall), nichtenglischsprachige Forschungsliteratur vollständig zu ignorieren, zum anderen sind sie einseitig auf die in den USA und in Großbritannien vorherrschenden Ansätze fokussiert, ohne die methodischen Errungenschaften anderer Wissenschaftskulturen gebührend zu berücksichtigen.

Der vorliegende Sammelband kommt also einer Mogelpackung gleich. Weder enthält er, was der Titel verspricht („Neue Geschichte“), noch ist er für ein breiteres Lesepublikum geeignet, wie der Untertitel („Einführung“) suggeriert, denn seine Zielgruppe ist die Schar jener Spezialisten, die sich mit globaler oder transnationaler Geschichte befasst. Einzelne Essays sind äußerst anregend und vermögen es, einen souveränen Überblick über den Stand der historischen Forschung mit problemorientierten Analysen zu verbinden, die viele weiterführende Einsichten vermitteln. Die Mehrheit der Essays bleibt aber dahinter zurück, weil es den Autorinnen und Autoren nicht gelingt, ihre Fallbeispiele aus aller Herren Länder in eine kohärente Synthese einzubauen. Ohnedies fragt man sich nach der Lektüre dieses Sammelbandes, weshalb gerade Globalgeschichte der (geschichtswissenschaftlichen) Weisheit letzter Schluss sein soll. Zu wenig reflektiert sie ihr Verhältnis zur National-, Regional- und Lokalgeschichte, zu selten sucht sie bislang nach Manifestationen des Globalen auf der nationalen, regionalen und lokalen Ebene. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Titelbild

Ulinka Rublack (Hg.): Die Neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln.
Mit einem Vorwort von Jürgen Osterhammel.
Übersetzt aus dem Englischen u.a. von Michael Bayer, Oliver Grasmück, Norbert Juraschitz und Elsbeth Ranke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
576 Seiten, 28,99 EUR.
ISBN-13: 9783100676054

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