Das lyrische Volksvermögen

Ein Rückblick

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

In den 60er-Jahren kam Peter Rühmkorf auf die Idee, Verse auf der Straße zu sammeln – und zwar vor allem von spielenden Kindern, denen er sie unter manchmal abenteuerlichen Umständen abzulauschen versuchte. In seinen Erinnerungen „Die Jahre, die ihr kennt“ hat er seine ungewöhnliche „Sammelwut“ selbstironisch beschrieben:

Konnte überhaupt zeitweilig keine Menschen mehr bloß so herumstehen sehen, ohne an ihre Erinnerungspotentiale zu rühren. Verschaffte mir auch Zugang zu Kindergärten und trieb mich auf Schulhöfen und Spielplätzen herum; verfolgte betrunkene Lehrlinge, wo sie gerade zu Gesängen übergingen; mischte mich unter Arbeiter (was ich fast verlernt hatte); nahm Teil an Richtfesten, Winzerfesten, Bauernhochzeiten und Kindergeburtstagen; bekam in meiner Straße allmählich den Ruf eines Mitschnackers, und wurde von Polizei gestellt, als ich ein rollerndes Kind dreimal um den Block verfolgt hatte. Und wollte doch nur – „Parademarsch, Parademarsch, der Hauptmann hat’n Gummiarsch, und wenn man darauf drückt…“ – wissen, was schließlich da herauskam. Das konnte ich aber den Wachtmeister auch nicht fragen.

Das Resultat dieser feldforschen(den) Sammelwut ist Rühmkorfs Buch „Über das Volksvermögen“, eine Abhandlung mit eingeschlossener Anthologie, die so originell war, wie man das von diesem unorthodoxen Autor erwarten konnte. Als Rowohlt-Taschenbuch 1969 erschienen – annum est omen –, wurde dieses eigenartige Werk bald ein Kultbuch.

Es ist die vorläufig letzte Sammlung, die versucht, das lyrische ‚Volksvermögen’ aufzuspüren: bis dahin nur oral tradierte Gedichte, zumeist Sprüche, von Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen, die sich auf allerlei einen meist munteren und respektlosen Reim machen, unter Verzicht auf alle gehobene Sprache und dichterische Feinheiten. Solche Volks- und Kinderliteratur zu sammeln hat seit dem 19. Jahrhundert Tradition. Es gehörte zur literarischen Archäologie der Romantik und hat in „Des Knaben Wunderhorn“ sein klassisches Werk gefunden. Im späten 20. Jahrhundert hat vor allem Hans Magnus Enzensberger diese Tradition mit „Allerleirauh“ fortgesetzt. Rühmkorfs Sammlung von Volks- und Kinderversen war nicht zuletzt als plebejisches Gegenstück zu der Anthologie Enzensbergers gedacht. Sie dürfte auch heute noch Leser finden, vermutlich aber weniger als noch vor drei oder vier Jahrzehnten.

Eine Zeitlang war das Aufspüren von Volksliedern ungefähr so beliebt wie das Pilzesuchen. Es lebte vom Nimbus des Wortes ‚Volk’. In den Volks- und Kinderliedern glaubte man ursprüngliche Dichtung zu haben, ungekünstelt, unverbildet und ungebildet, damit zugleich die echte, durch fremde Einflüsse unverfälschte Literatur des eigenen Volkes, sozusagen den poetischen Schatz einer Nation. Dass es so einfach nicht war, ließ sich irgendwann nicht mehr übersehen. Es war nichts als nationales Wunschdenken, dass, wenn schon nicht Melodien, dann wenigstens Texte an Grenzen Halt machen sollten. Doch sogar manche Kinderverse haben eine internationale Umlaufbahn. Man muss nur gewillt sein, ihre Grenzübertritte zur Kenntnis zu nehmen.

Das war nicht der einzige Irrtum, dem die fleißig sammelnden Volkskundler unterlagen. Das sogenannte Volk sang auch keineswegs bloß das, was es kollektiv selbst verfasst hatte. Es trällerte auch nach, was ihm professionelle Autoren vorschrieben. Die Kinder wiederum verfassten nicht nur ihre eigenen Lieder und Sprüche, sondern sprachen oft genug einfach die nach, die Erwachsene sich für sie ausgedacht hatten. Aber nicht allein aufgrund dieser ideologischen Enttäuschungen durch die Empirie ging die Sammeltätigkeit allmählich zurück und kam schließlich fast ganz zum Stillstand.

Die alten Bestände waren irgendwann erfasst, und es kam wenig danach. Das lyrische – und musikalische – Volksvermögen ist inzwischen sichtlich geschwunden, wie manch anderes Volksvermögen auch. Heute lässt man eher singen, als dass man es selbst tut. Zwar findet man vereinzelt immer noch ältere Ehepaare, die ältere Volkslieder deutscher Sprache vorzutragen wissen, doch ihre Zahl sinkt unaufhaltsam wie der Wert einer Aktie in der Börsenkrise. Einige beliebte, inzwischen auch schon ältere Sänger ließen zwar, mit mehr oder meist weniger Geschmack, aber mitunter großem Erfolg, ihre Interpretationen solcher Lieder auf Platten und Disketten pressen. Gleichwohl verschwinden die alten Volksweisen nach und nach aus dem öffentlichen Liedgut. An ihre Stelle ist, neben dem Schlager und dem Hit, längst das Industrieprodukt der Volksmusik getreten: ein manchmal leider täuschend echtes Imitat. Und die Kinderlyrik, der Rühmkorf so hingebungsvoll nachforschte?

Ein Buch wie seines wäre heute kaum noch vorstellbar. Lehrlinge mögen sich noch immer betrinken; was sie dann singen, dürfte aber aus einem anderen musikalischen Repertoire stammen. Mit dem Liederschatz der Kinder steht es nicht besser. Man kann bezweifeln, ob er inzwischen nicht schon vollständig gehoben wurde. Vermehrt haben dürfte er sich jedenfalls kaum, schon weil es für ihn nicht mehr so viel Verwendung gibt wie früher.

Kinder spielen nicht mehr oft auf der Straße. Sie halten sich, wenn sie freie Zeit haben, behütet und behaust, häufiger als früher in geschlossenen Räumen auf, wo sie an Bildschirme angeschlossen sind. Oder sie bewegen sich zwischen zwei geschlossenen Räumen in dem wiederum geschlossenen Raum des Autos, in dem sie von einem ihrer Eltern, manchmal auch von beiden, zu einem Termin chauffiert werden. Dabei kommen vermutlich die meisten nicht auf den Gedanken, zum Zeitvertreib auswendig gelernte Sprüche aufzusagen oder sich selbst welche auszudenken. Sie nutzen die Zeit vielmehr, um mit dem Handy zu hantieren. Die Kinder wiederum, die auf der Straße spielen, sind oft des Deutschen noch nicht ganz mächtig; und in der Regel ist ihnen das mitunter alte Repertoire deutscher Sprüche nicht zugänglich. Was sie stattdessen kennen, wissen wir nicht, weil wir ihre erste Sprache nicht verstehen.

Rühmkorfs Sammlung, die er im Untertitel als „Exkurse in den literarischen Untergrund“ kennzeichnete, lebte von dem politisch und materialistisch gewendeten Glauben an die unverstellte poetische Stimme des Volkes. Deshalb sind die Verse, die sie enthält, durchweg grob und direkt, frech und obszön, auch witzig und in seinem Sinn subversiv – nur poetisch sind sie sehr viel seltener. Das meiste, was seine Sammlung enthält, sind Klo-Sprüche, Innen- und Außenwandlosungen und Gröhl-Gedichte. Ihre Vortragsorte sind die Straße und die Kneipe. Auch das hat lebensweltlich sein Recht. Literarisch macht es weniger her. Verse wie

Eine kleine Micki
Muß mal Pipi
Macht vorbei
Du bist frei

Oder:

Pasters Kinder
Und Lehrers Vieh
Gedeihen selten
Oder nie

mögen lustig oder witzig sein, ja sogar lehrreich für alle, die nicht aus Pastoren- oder Lehrerfamilien stammen. Ihr Reiz ist jedoch vergänglich und lässt sich nicht oft wieder aufrufen. Das gilt auch noch für den Nonsense von Parodien wie:

Es waren zwei Königskinder
Die hatten einander so lieb
Die konnten zusammen nicht kommen.
Es war kein Fährbetrieb.

Rühmkorfs Sammlung hatte durchaus eine literarische Wirkung. Mancher Autor wollte sich so derbe, der Hochliteratur verpönte Pointen, wie sie diese Untergrundverse bieten, nicht entgehen lassen. Das bekannteste Beispiel dürfte „Besternte Ernte“ sein, Robert Gernhardts und F.W. Bernsteins bebilderte Gedichtsammlung, die manchmal das Niveau von „Über das Volksvermögen“ tatsächlich übersteigt. Das Material, das Rühmkorf zusammengetragen hat, ist jedoch in seinen immergleichen Knalleffekten schnell erschöpft. Literarisch ist es zumeist unergiebig – wenn nicht ein feiner Kopf das eine oder andere in seine ganz anderen eigenen Verse einbaut, wie Rühmkorf es selbst gelegentlich getan hat. Etwas Besseres allerdings kann dem lyrischen Volksvermögen kaum passieren. Denn so wird es in Kunst verwandelt und hat Aussichten, etwas länger zu überleben.

Literaturhinweise

Peter Rühmkorf: Die Jahre die ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Reinbek bei Hamburg 1972. Zitat S. 226-227.

Peter Rühmkorf: Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund. Reinbek bei Hamburg 7. Auflage 1976 (1. Auflage 1967). Zitate S. 33, 53, 114.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Signet von Simone Frieling.