Die Tube wird 150

Geschichten von der Underground

Von Lisa PeterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Peter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Land der trainspotter, die regelmäßig mit ihren Ferngläsern, Klemmbrettern und meistens auch einer Thermosflasche Tee auf Bahnsteigen zu finden sind, ist Großbritannien nach wie vor stolz auf die Erfindung der Eisenbahn wie auch der U-Bahn. Man kann ohne weiteres von einer ganz besonderen Verbindung dieser Nation zum Schienenfahrzeug sprechen. Als Emblem britischer Ingenieurskunst und damit auch von technischem Fortschritt ist diese Begeisterung unter anderem ein Ausdruck der Nostalgie, der Sehnsucht nach dem Großbritannien vor der Thatcher-Ära, das überwiegend geprägt war von Industrie und Handwerk, nicht vom Dienstleistungssektor und dem Bankenviertel Londons, die sich in den letzten Jahren als so krisenanfällig herausgestellt haben.

Die Underground ist dabei der ganze Stolz der Londoner und gehört einfach zur Stadt wie die Houses of Parliament oder St. Paul’s an der Oberfläche. Pro Jahr verzeichnet das Mutterunternehmen Transport for London mehr als eine Milliarde Fahrten und in der Stoßzeit sind rund 600 000 Menschen gleichzeitig in der Londoner Underground unterwegs, das ist eine mittlere Großstadt für sich. Dieses zentrale Transportmittel hat im Laufe der Zeit nicht nur ganz real die Stadtstruktur geprägt, sondern auch ihre Fantasie beflügelt. Das Jahr 2013 markiert dabei ein Jubiläum für die Underground, wie die Tube korrekterweise heißt: als weltweit älteste U-Bahn feierte sie im Februar ihr 150-jähriges Bestehen und eine Reihe von Publikationen belegen sowohl ihren Einfluss auf die Bedeutung und Gestalt der Metropole, wie wir sie kennen, als auch ihre Fähigkeit, die Vorstellungskraft zu beflügeln und Literarischem als Anregung zu dienen.

Für die Londoner bedeutet ihre Underground seit der Einführung nicht nur eine erhebliche Erleichterung auf dem Weg zur Arbeit. Der fortschreitende Ausbau des Netzes prägte die Gestalt der Stadt wie sonst wohl nur der Verlauf der Themse: neue U-Bahnlinien bestimmten das Gesicht der Vorstädte wie kaum ein anderer Faktor und machten die Expansion der Metropole im 19. Jahrhundert erst möglich. Ohne die schnelle Anbindung an den Stadtkern wäre die Ausdehnung Londons zur größten Stadt des 19. Jahrhunderts schwer zu realisieren gewesen, wie die Autoren um David Bownes, Chef-Kurator des London Transport Museums, in ihrer Geschichte der Underground beschreiben. So wurden zum Beispiel ganze Stadtviertel wie das „Metro-Land“ im Nordwesten Londons während der 1920er und ‘30er auf Ländereien der Bahnunternehmen errichtet und vor allem mit dem Argument der günstigen Verkehrsanbindung an das Stadtzentrum verkauft.

Abgesehen vom Einfluss auf die ganz reale Stadtgestalt entfaltet die Underground aber auch auf symbolischer Ebene ihre Wirkung. Die Tube map des Ingenieurs Harry Beck aus dem Jahr 1933 entwickelte sich rasch zu der Darstellung Londons schlechthin. Seit ihrer ersten Verwendung wurde sie unzählige Male angepasst, kopiert und auch popkulturell vereinnahmt. Dabei ist es erstaunlich, dass ausgerechnet eine schematische Darstellung, die die tatsächliche chaotische Geografie der Stadt weit hinter sich lässt und sich stattdessen an der Regelmäßigkeit und Klarheit elektrischer Schaltpläne orientiert, für die Großstadt London steht wie keine andere Karte dies tut. Diese Klarheit und Ordnung des Beck’schen Designs kann allerdings nicht ganz über das verschlungene Tunnelchaos unterhalb der Oberfläche hinwegtäuschen, das jegliche Orientierung unmöglich macht und Klaustrophobie hervorruft. Die Underground ist auch der Ort, der das Unheimliche heraufbeschwört, das Mythische der Unterwelt, die abgeschottet und losgelöst scheint von der Stadt darüber. Somit ist der Underground eine ganz eigene Atmosphäre eigen: Sie ist als Technologie ein Symbol des Bezwingens der Unterwelt und zugleich eines des ihr Ausgeliefertseins.

Darüber hinaus sind Züge nach wie vor spezielle Orte: Irgendwo zwischen dem Hier und Dort markieren sie ebenso wie zum Beispiel Flughäfen einen Nicht-Ort. Hier ist man nur, um nachher woanders zu sein. Gleichzeitig bietet dieser Transit-Ort aber aus unterschiedlichen Gründen eine perfekte Möglichkeit zur Beobachtung: Die U-Bahnfahrt verleitet entweder dazu, sich seine Mitreisenden einmal genauer anzusehen, oder aber sich in seine eigene Gedankenwelt zurückzuziehen. Mit anderen Worten bietet die U-Bahn die Gelegenheit zum Sozialporträt im Kleinen und zur Introspektion.

John Lanchester, der Autor des sehr erfolgreichen London-Romans „Kapital“ von 2012, skizziert in seinem Beitrag zu Penguins Underground-Jubiläumsbox die allererste Fahrt des Tages in der District Line. Er nutzt diese Gelegenheit, um genau das zu tun, was die meisten Pendler im Laufe ihrer täglichen Reise erleben: von der reinen Beschreibung seines Reisewegs vom Depot der District Line im Osten der Stadt bis nach Ealing im Westen gelangt er allmählich zum Miniporträt seiner Mitreisenden, um letztendlich die U-Bahn als geistigen Zwischenort in der Dichotomie von Heim und Arbeitsplatz unter die Lupe zu nehmen. Hier verhält sich der Großstädter unauffälliger, ja introvertierter als sonst.

Da die District Line vom ärmlichen Osten in den reichen Westen fährt, um dann den gleichen Weg wieder zurück zu nehmen, kann Lanchester die Arbeiterströme nach sozialer Schicht getrennt – also klassisch britisch – beobachten und vergleichen: Sind es zunächst die Reinigungskräfte, die sich vor Sonnenaufgang auf den Weg in die Bürotürme der City machen, so bevölkern auf dem Rückweg ihre Vorgesetzten, also hauptsächlich nadelgestreifte Banker, die Sitzbänke im charakteristischen Blaugrün dieser U-Bahnlinie. Abhängig von der Fahrtrichtung ist es also möglich, die Underground als Spiegel der Gesellschaftsstruktur und vor allem auch als Spiegelbild der Stadt darüber zu ‚lesen‘, d.h. die Stadt kann bis zu einem gewissen Punkt vom Passagier durch den Zug „kartiert“ werden („mapping the city by train“).

Was allerdings an der Fortbewegung mit der Underground für Lanchester und auch für den Literaturwissenschaftler David Ashford in seiner Psychogeografie der U-Bahn am interessantesten ist, ist der mentale Zustand, in den die Passagiere während der Tunnelfahrten häufig versetzt werden. Was für Zugfahrten ganz allgemein gilt, nämlich dass die ungewollte Nähe zu den Mitfahrenden eine Abwendung vom Außen als Abwehrmaßnahme befördert, gilt in der U-Bahn ganz besonders, da hier noch nicht einmal die Möglichkeit des Blicks aus dem Fenster gegeben ist. Da das Eindringen Fremder in den persönlichen Bereich Stress auslöst und auch in den meisten Fällen ausschließlich im Kontext einer Rush-Hour-Zugfahrt geduldet wird, verschwindet der Passagier in seinem eigenen Kopf und entflieht in die „internal landscapes of their own private stories“ („die inneren Landschaften der eigenen, privaten Geschichten“), wie Ashford es formuliert. Dadurch wird die Bahnfahrt zur Reise ins Selbst, die U-Bahn zum Ort der Selbstbetrachtung, ebenso wie der Fremdbetrachtung wie oben beschrieben.

Diesen Geisteszustand nimmt Ashford in seiner Kulturgeografie der Underground aus Ausgangspunkt für seine Untersuchung des Wunsches, urbane Räume durch Geschichten mit Bedeutung aufzuladen und dadurch die zunehmend privatisierten Räume der Großstadt für die Öffentlichkeit wieder zurückzuerobern. Dieses Einschreiben von Geschichten in den Raum liegt seinem Konzept der Psychogeografie zugrunde. Er wählt die Underground als zentrales Beispiel, da diese aufgrund der Verortetheit in den Tunneln unter der Stadt das Unheimliche, Dunkle, Verlassene, Vergessene heraufbeschwört. Anhand der Analyse von literarischen Texten und auch Filmen, die sich entweder direkt mit der Underground befassen, oder die deren Tunnelsystem als Ort des Geschehens wählen, beschreibt Ashford die U-Bahn als einen Ort, der anderen Regeln zu folgen scheint. Immer wieder, wie zum Beispiel in Neil Gaimans „Neverwhere“ oder auch in Tobias Hills „Underground“ ist das unterirdische Netzwerk Schauplatz von Gegenwelten, in denen die sonst Ausgestoßenen der Großstadt das Sagen haben.

Die Underground entpuppt sich folglich auch zu ihrem 150. immer wieder als Sinnbild der Großstadt. Sie ist einerseits Abbild, ganz real als unterirdisches Wegenetz, das die Stadt darüber spiegelt, aber auch symbolisch im Sinne eines Sozialporträts der Menschen, die in ihr leben und arbeiten. Gleichzeitig bietet sie den Schauplatz – wenn auch imaginär – für das Zerrbild der Stadt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

John Lanchester: What We Talk About When We Talk About The Tube.
Penguin, London
112 Seiten, 5,50 EUR.
ISBN-10: 1846145295
ISBN-13: 9781846145292

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Underground. How the Tube Shaped London.
Allen Lane, London 2012.
288 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9781846144622

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

David Ashford: London Underground. A Cultural Geography.
Liverpool University Press, Liverpool 2013.
224 Seiten, 74,40 EUR.
ISBN-13: 9781846318597

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