Wo Warten und Sprache enden

Linda Benedikt hat in ihrem Debüt den Mut für ein Sinn raubendes Thema: das Sterben

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In sieben Tagen schuf Gott die Erde und schaltete das Licht an. Ein Zeitraum, aus dem viele von uns Sinn schöpfen, ohne allzu wörtlich zu glauben: Was da ist, ist nicht von ungefähr da. Ein Zyklus, der unserem Alltag den Takt vorgibt. Bis jenes Licht ausgeht, für jeden von uns einzeln, seit ewigen Zeiten und doch stets aufs Neue.

Kurz vor dem Ende zählen wir die Zeit oft rückwärts, in der Hoffnung, unserem Ziel so schneller nahe zu kommen. In Linda Benedikts Erzählung „Eine kurze Geschichte vom Sterben“ trägt das erste Kapitel die Überschrift „Sieben“, das letzte heißt „Eins“. Sieben Tage lang begleitet eine Tochter ihre Mutter beim Sterben. Aus London ist sie angereist, aus einem allem Anschein nach erfolgreichen Leben, in dem sie ihren Lebensgefährten und ihre Agentur zurücklässt. Sie zieht ein in ein „temporäres Daheim, aus dem mich nur dein Tod befreien würde.“ Ins Krankenhaus nach München hat ihre Schwester Isabelle sie gerufen. Das Ende ist unausweichlich, der Ausgang der Erzählung klar von Beginn. Eine unbestimmte Zeit später erinnert sich die Tochter an die Sterbewoche und wendet sich dabei an ihre tote Mutter.

Dem Sterben ging eine Krebserkrankung voraus. Die Familie ist gefasst und doch ein wenig fassungslos. Über die Beerdigung haben beide Töchter mit der Mutter fast ein Jahr zuvor gesprochen. Damals, am Gartentisch, war der Tod wahrscheinlich und schien unwirklich. Er wird für die Tochter nun auswegslose Realität, während sie ertrinkt, „inmitten der bleiernen Minutenewigkeit, der zähen Stundenträgheit“ des Krankenzimmers. Es ist ein Warten in reinster Form. Im Roman „Bis bald“ des Schweizer Schriftstellers Markus Werner, erschienen 1992, wartet der Erzähler Lorenz Hatt auf ein neues Herz. Ein Freund sucht ihn über Wochen mehrmals auf. Ihm erzählt Hatt seine Lebens- und Krankheitsgeschichte und erkennt schließlich, dass sein Warten auf die Transplantation nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist: „Leben ist das, was alle tun; alle tun warten; also ist Leben Warten.“ Seine Erkenntnis treibt Hatt zu einer ungewohnt konsequenten Entscheidung.

Bei Benedikt wartet die Tochter weder auf die eigene Rettung, noch auf den eigenen Tod. Dennoch durchlebt sie das Warten von Grund auf, mit all seinen widersprüchlichen Regungen, Gefühlen und Gedanken. Der vernünftige Glaube an die Genesung der Mutter ist verschwunden, doch entgegen jener Vernunft blitzt selbst bei ihr, die es besser weiß, eine Hoffnung auf. Diese Hoffnung verkehrt einer der Ärzte am zweiten Tag in ihr Gegenteil. Wie lange sie noch bei ihrer Mutter sein könne, will die Erzählerin von ihm erfahren: „,Ehrlich?‘ Und der kleine Mann, der mir bis jetzt in lockerer Haltung ruhig gegenübersteht, richtet sich kerzengerade auf und sagt: ,Eine Woche. Länger hoffe ich nicht.‘“ Verletzt und gezwungen freundlich dankt sie ihm – „für Ihr Hoffen“ – und spürt doch die Wahrhaftigkeit seiner Antwort.

Sachlich hält die Tochter im Rückblick fest, was sich dort ereignete, wo gefühlsmäßig nichts geschah und die Zeit stillstand. Sie steht auf, geht ins Bad, wäscht sich und anschließend die „vernarbten und knotigen Brüste“ der Mutter, „den aufgeblähten Bauch, wie bei einem afrikanischen Hungerkind“ und den von Metastasen befallenen Schädel. Im kristallklaren Warten gewinnt das Tagesgeschäft Erlebnischarakter: Die Krankenschwestern bringen die Mahlzeiten, Ärzte schauen prüfend ins Zimmer. Isabelle kommt zu Besuch, bereitwillig und widerwillig gleichermaßen. Von außen gelangt Struktur in den strukturlosen Raum. Schlaftabletten helfen der Erzählerin, den Wechsel von Tag und Nacht aufrechtzuerhalten.

Am fünften Tag, dem drittletzten, steht frühmorgens ein trauernder Mann am Bett der Mutter. Sein ganzer Körper schluchzt. Den Schmerz des liebenden Mannes beschreibt die Erzählerin detailliert: „Er setzt einen Fuß nach vorne, so, als wolle er gleich loslaufen, losrennen, um sich auf dein Bett zu stürzen. Aggressiv sieht er auf einmal aus, fast irre vor Trauer und Pein, ein Fleisch gewordenes Gefühl der absoluten Hilflosigkeit. Und dann, im Bruchteil einer Sekunde, fällt er in sich zusammen, und seine scheinbare Angriffslust verfliegt, so schnell wie sie gekommen ist, er nimmt seinen Fuß zurück, stellt ihn wieder neben seinen anderen Fuß und steht erneut starr und steif wie ein Zinnsoldat.“ Die Erzählerin sucht Halt in den Äußerlichkeiten des Unfassbaren und entgeht doch nicht der Konfrontation mit dem Inneren. Auf dem Flur wartet der Mann auf sie. Nie zuvor ist sie ihm begegnet. Mitgefühl und Eifersucht halten sich die Waage, als sie ihm gegenübersteht: „Wie Fische öffnen wir den Mund und versuchen, einen Ton herauszubringen, aber unsere Sprachlosigkeit ist stärker als der Wunsch nach Frage und Antwort.“

Bodenständig und schlicht ist Linda Benedikts Sprache und nimmt sachte einen poetischen Klang an. Die seltenen Adjektive und Vergleiche sitzen richtig – dann etwa, wenn die Erzählerin „wie ein leerer Luftballon“ am Telefon hängt oder voller Angst lacht, als würde sie „Vokale erbrechen“. Klar und vorsichtig geht Benedikt mit einem widerborstigen Thema um. Was ihre Erzählerin schildert, ist das Allzubekannte, das, was oft raffend übergangen wird, weil es der Moment ist, an dem unser sprachlicher Einfallsreichtum endet. „Sterben halt“, so fasst sie es an einer Stelle trocken zusammen.

Linda Benedikt kommt jenem „Ort, der keine Worte kennt“ recht nahe, weil sie keine Erklärungen sucht, sondern Anschaulichkeit. Einen großen, unauflösbaren Widerspruch macht sie für uns Leser mit ihrer Erzählung nachvollziehbar: Eine Tochter steht der Frau, die sie in die Welt gebracht hat, beim Verlassen dieser Welt bei. Anmutig, willensstark und liebeshungrig war diese Mutter – Vorbild und Hürde für alle Frauen, die nach ihr kommen. Die Tochter deutet in Kindheits- und Jugenderinnerungen Versuche der Selbstbehauptung und Abgrenzung an. Ohne die Flucht in Erinnerungen lässt sich das Sterben eben nicht bewältigen und nicht beschreiben, auch nicht in einer betont „kurzen Geschichte vom Sterben“. Diese Konflikte spielen keine Rolle mehr, sobald es um das Wesentliche geht. Die Tochter sorgt sich nun, muss Stärke beweisen wie eine Mutter – und bleibt doch angewiesen auf den Trost der Sterbenden. Schon fast am Ende des Countdowns liegt sie weinend im Bett der Mutter und sucht Linderung in deren Armen: „Der Tod der Mutter ist erträglicher, wenn sie einen dabei in die Arme schließt.“

Pflichtschuldig glaubt die Tochter zu Beginn dem „Teil eines größeren Plans“ zu folgen und kann den Tod am Ende nur „betrauern und bestaunen in seiner absoluten Sinnlosigkeit.“ Linda Benedikt zeichnet diesen Weg glaubhaft nach. Ein mutiger Stoff für ein literarisches Debüt. Es macht ebenfalls aufrichtig staunen.

Titelbild

Linda Benedikt: Eine kurze Geschichte vom Sterben.
Arche Verlag, Zürich 2013.
126 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783716027042

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