Nachbeben des Großen Krieges

Ein von John Horne und Robert Gerwarth herausgegebener Sammelband informiert über Formen paramilitärischer Gewalt zwischen 1917 und 1923

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Krieg von 1914/18 sei das „Epizentrum eines ganzen Zyklus bewaffneter Konflikte“ gewesen, schreiben die Herausgeber in ihrer Einführung. Anders formuliert, nämlich in den Worten Winston Churchills, die als Motto beigegeben sind, lautet die Diagnose so: „Der Krieg der Giganten ist vorbei, die Kriege der Pygmäen haben begonnen.“ Tatsächlich wurde Europa 1919 mit den Pariser Vorortverträgen nur oberflächlich befriedet. Aus dem Zusammenbruch der multiethnischen Imperien Österreich-Ungarn, Russland und dem osmanischen Reich erwuchsen neue Nationalstaaten, am grünen Tisch zogen die alliierten Siegermächte Grenzen, die von den niedergeworfenen Feinden, die in diesem Status mehr oder weniger auch in den ersten Friedensjahren verharrten, als demütigend empfunden wurden. Weithin waren Rufe nach Revision zu hören, erhoben von denen, die glaubten, sich tatsächlicher oder vermeintlicher Zumutungen erwehren zu müssen, erhoben ferner von jenen, denen das Erreichte nicht weit genug ging und größere Stücke aus der Verfügungsmasse der besiegten Staaten erwartet hatten, dabei wie Italien auf Abmachungen pochend, die im Sinne von Stimulantien den Kriegseintritt begünstigt hatten.

In Deutschland war 1931 der General und Militärschriftsteller Max Schwarte überzeugt, dass der Krieg 1919 nicht „aufgehört“ habe, nein, nicht „aufgehört haben könne“. In solchen Äußerungen steckte die Überzeugung, dass die Schlachten 1918/19 nur unterbrochen worden seien, dass im Allgemeinen wie im Besonderen nach dem Krieg vor dem Krieg sei. Dies gehörte zu den in den konservativen, den völkischen und neokonservativen Milieus anzutreffenden Reaktionen auf den millionenfachen Tod in den Schützengräben, auf die vergeblich dargebrachten Opfer, auf den totalen Krieg, in dem nicht zufällig die Heimat zur Heimatfront erhoben wurde. Vor allem aber war dies Ausdruck einer Haltung, die sich auf das „Nun erst recht“ versteifte, sich weigerte, die Niederlage zu akzeptieren und selbstreflexive Einkehr zu halten. Der Krieg sei ubiquitär, glaubte 1928 der nationalistische Schriftsteller Franz Schauwecker zu wissen, er wirke zunächst noch im Verborgenen, werde aber in naher Zukunft hervorbrechen. Denn: „Er lauert überall. Er wartet nur.“

Robert Gerwarth und John Horne fassen die Erscheinungsformen des Kriegs im Nachkrieg und die darin verwurzelten Mentalitäten als „Paramilitarismus“: eine Art Synonym für „paramilitärische Gewalt“, mit der „militärische oder quasi-militärische Organisationen und Praktiken“ die „Aktivitäten konventioneller militärischer Verbände“ entweder unterstützen, ausweiten oder sie ersetzen. Das umfasste nach 1918, wie die Herausgeber hervorheben, „revolutionäre und gegenrevolutionäre“ ebenso wie „ethnische Gewalt“, angetrieben und legitimiert von Utopien, ideologischen Phantasmen, gesellschaftlichen Homogenisierungs- und Säuberungsbedürfnissen. Die Zeit, in der dies in den verschiedenen kriegführenden Nationen unter vergleichendem Gesichtswinkel beobachtet wird, erstreckt sich auf die Jahre zwischen 1917/18 und 1923/24, teilweise aber auch auf die davor und die danach. Die Verhältnisse auf dem Balkan und in der Türkei lassen sich zum Beispiel nicht verstehen ohne den Rückgriff auf die dort ausgefochtenen Kriege von 1912 und 1913. Paramilitärische Gewalt und die Formierung paramilitärischer Einheiten waren hier, so Paul John Newman in seinem Beitrag, keineswegs – wie gewöhnlich in anderen Territorien – Nebenprodukte des Ersten Weltkriegs.

In den besiegten Staaten Mitteleuropas, von denen Robert Gerwarth handelt, bildete sich nach und nach eine „gewaltbereite gegenrevolutionäre Subkultur“ heraus. Die Brutalität, in der die ihr anhängenden Männer schwelgten, hatte ihre Wurzeln im Krieg, darüber hinaus jedoch und – wie der Autor zu Recht betont – intensiver noch in den Erfahrungen der Niederlage, der Revolution und den von den Friedensverträgen erzwungenen territorialen Verlusten, die hier und da mit territorialem Verfall einhergingen. Dagegen anzukämpfen, hieß, die Resultate des Kriege nicht zu akzeptieren, auf lange Sicht die Basis zu schaffen für die herbeigesehnte, herbei geschriebene und herbei agitierte Entscheidungsschlacht, um noch einmal mit aller Kraft die Würfel um Sein oder Nichtsein zu werfen.

Die dem Militär nachempfundenen Einheiten, ob Freikorps, Selbstschutz, Legion oder ähnlich genannt, waren auffallend stark geprägt von jungen Aktivisten, von Angehörigen der Kriegsjugendgeneration, den nach 1900 Geborenen, die 1918 zu jung für den Einsatz an der Front waren, aber darauf brannten, sich zu bewähren, sich für das imaginierte Vaterland und den in ihren Augen nicht mehr existenten, aber wieder zu errichtenden Staat in die Bresche zu schlagen. Dies vermischte sich mit den Enttäuschungen jener aus dem Krieg Zurückgekehrten, die in der Heimat, wider Willen zu Zivilisten mutiert, nicht mehr heimisch werden mochten. Ernst von Salomon, der das hohe Lied auf diesen Typus gesungen hat, wollte in ihm den eigentlichen Repräsentanten der Nachkriegsepoche sehen. Dies greift allerdings über den von den Herausgebern und den Beiträgern gesetzten zeitlichen Rahm hinaus, ist ein Teil heroisierender, erinnerungspolitischer Deutung in der Rückschau, die der weiteren Analyse harrt. Immerhin, deutlich wird, dass den Paramilitärs nostalgische Sentiments fremd waren. Den Eliten des Ancien Régime weinten sie keine Träne nach, man gab sich antibourgeois, auf diffuse Weise auch antikapitalistisch, begegnete den sich etablierenden Nachkriegsordnungen in prinzipieller Feindschaft.

Als Tertium Comparationis in diesem lesenswerten, über ganz Europa gespannten Sammelband figuriert „paramilitärische Gewalt“. In ihr manifestierte sich uferlose, von keinerlei Hemmungen gezähmte Radikalität. Das nahm hier diese, dort jene Gestalt an. Ihr Panier konnte die bolschewistische Revolution oder die ‚weiße’ Gegenrevolution sein. Während jene erfolgreich von der Partei und der von ihr ausgerufene Diktatur aufgesogen und kanalisiert wurde, blieb diese stecken, außerstande, in der Bevölkerung verankerte, das Nachkriegschaos bändigende und Legitimität stiftende Ordnungen zu etablieren. In Russland ging es um Machtgewinn oder Machtverlust, um ideologische, klassenpolitisch motivierte Konflikte, in die an den Rändern ethnische Konflikte eingelagert waren. Auf dem Balkan und in der Türkei hingegen hatten sich in den Jahren zuvor überwiegend Spannungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen aufgestaut, die sich allenthalben blutig, im Fall der Armenier genozidal entluden. Wieder anders verliefen die Konfliktlinien in Irland, in denen Paramilitarismus hüben wie drüben die Kämpfe um die Unabhängigkeit prägten. Selbst in Frankreich, der neuen hegemonialen Macht auf dem Kontinent, machten sich paramilitärische Formationen bemerkbar. Diese strebten freilich nicht danach, die Niederlage zu überwinden, sondern den Sieg zu verteidigen, zu diesem Zweck Front zu machen nicht nur gegen die ‚Boches’, die Deutschen, sondern auch gegen tatsächliche oder eingebildete Bolschewiken.

1924 waren die Geister des Nachkriegs wenn nicht gebannt, so doch zurückgedrängt. Europa hatte eine Atempause gewonnen: Wir, die Nachlebenden, wissen, dass sie schlecht genutzt wurde.

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Robert Gerwarth / John Horne (Hg.): Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Bischoff.
Wallstein Verlag, Göttingen, Niedersachsen 2013.
347 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312982

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