Schlechte Zeit für Lyrik?

Ein Gedicht und ein paar Fragen

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

„Schlechte Zeit für Lyrik“ hat Bertolt Brecht 1938 ein bis heute immer wieder angeführtes Gedicht überschrieben, in dem er die Zeitläufte beklagt, die der Dichtung widrig seien. Vielzitiert wurden vor allem die beiden Verse: „In meinem Lied ein Reim/ Käme mir fast vor wie Übermut“. Sie sind fast sprichwörtlich geworden – als Bedauern darüber, dass die Dichtung in Zeiten des „Anstreichers“ Hitler nicht mehr so schön sein könne, wie sie es einmal war.

Schon die ersten Zeilen des Gedichts geben allerdings zu denken:

Ich weiß doch: nur der Glückliche
Ist beliebt. Seine Stimme
Hört man gern. Sein Gesicht ist schön.

Solche glänzenden Verse sind wie das Gesicht des Glücklichen: schön. Knapp und zugespitzt, dabei einfach, geradezu schlicht, überzeugen sie bis in die Versgliederung hinein sofort – und widerlegen den Titel des Gedichts ebenso umgehend. So schlecht kann die Zeit für Lyrik nicht gewesen sein, wenn man über sie diese Verse schreiben konnte. Spätestens nach ihrer Lektüre muss man sich deshalb auch fragen, was das eigentlich heißen soll: Schlechte Zeit für Lyrik.

Die späten 30er-Jahre waren politisch zweifellos eine schlimme Zeit, nicht nur durch den Nationalsozialismus, auf den Brecht verweist, auch z.B. durch die stalinistischen ‚Säuberungen’, die er nicht erwähnt. Aber waren sie auch eine schlechte Zeit für Lyrik? Gedichte wurden in diesen Jahren weiter geschrieben – auch sehr gute. Brecht selbst sammelte 1939 in den „Svendborger Gedichten“ einige seiner besten Texte. Er war nicht der einzige Lyriker, der auf der Höhe seines Könnens war. Federico García Lorca schrieb 1929 und 1930 mit „Poeta en Nueva York“ seinen bedeutendsten Gedichtband. 1933 erschien Pablo Nerudas „Residencia en la tierra“, das mit seinen Gedichten über den Spanischen Bürgerkrieg, dem dann auch Lorca zum Opfer fiel, wegweisend für die moderne politische Lyrik wurde. Fünf Jahre später kamen die bis in die postmoderne Alltagspoesie hinein wirksamen „Complete Collected Poems of Williams Carlos Williams“ heraus. Die „Cantos“ seines Freundes Ezra Pound, die seit 1925 veröffentlicht wurden, gewannen während der 30er-Jahre an Ansehen, obwohl gerade in den zu dieser Zeit entstandenen ‚Gesängen’ sein Engagement für den italienischen Faschismus deutlich ist.

Brechts Gedicht, wenn man es bedenkt, wirft vor allem die eine Frage auf: ob Lyrik, wie alle Literatur, um ‚gut’ zu sein, darauf angewiesen ist, dass die Zeit es auch sei. Einem Materialisten der vulgären Observanz mag es fraglos sein, dass es im Überbau nicht besser zugehen kann als an der Basis. Auch ein Poesieliebhaber der romantischen Schule möchte vielleicht daran glauben, dass man nur singe und dichte, wenn man sich gut fühlt. Alle anderen Leser dürften jedoch an solchen naheliegenden Annahmen über die Bedeutung der äußeren Umstände für das Verfertigen von Versen aus verschiedenen Gründen zweifeln.

Wahrscheinlich waren die Zeiten immer schlecht – und immer schlecht für Lyrik. Gab und gibt es nicht stets Wichtigeres, als Gedichte zu schreiben? Zum Beispiel: Geld verdienen. Macht erlangen. Krieg führen. Allerdings könnte man leicht einwenden: Das Geld verlor immer wieder seinen Wert. Die Macht zerfiel. Kriege gingen verloren. All das hat auch Brecht erlebt, und all das hat sein Gedicht überlebt.

Man kann daraus vor allem einen Schluss ziehen: Wie bedrängend die Wirklichkeit auch für einen Dichter sein mag – seine Gedichte sind ihr nicht notwendig unterworfen. Sie unterliegen ihren eigenen Gesetzen – nicht nur ihnen, aber ihnen immer. Gerade große Dichtung übersteht deshalb ihre Anlässe, einerlei, wie sie waren. Sie ist nicht an das gebunden, worauf sie sich bezieht. Sie ist gut oder schlecht zunächst einmal für sich.

Am Ende seines Gedichts beklagt Brecht, dass nur „das Entsetzen über die Reden des Anstreichers“ ihn an den Schreibtisch dränge, nicht „die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum“. Das klingt, als könne man Gedichte nur über schöne Gegenstände schreiben, in sogenannten guten Zeiten. Doch verwechselt der Materialist da nicht, wie ein romantischer Kopf, der er nicht sein möchte, Gedichte mit Sprüchen fürs Poesiealbum? Setzt er nicht ein Verständnis von Dichtung voraus, das bereits zu seiner Zeit historisch geworden war?

Dass die Lyrik der Sitz des harmonisch Schönen sei, gilt spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr, als Dichter wie Charles Baudelaire oder Arthur Rimbaud, später auch die deutschen Expressionisten die Bühne betraten. Die Ästhetik des Hässlichen ist wesentlich ihr Werk. Die „Begeisterung über den blühenden Apfelbaum“ hat auch sie nicht unbedingt an den Schreibtisch getrieben. Das dürfte Brecht bekannt gewesen sein.

Wenig überzeugend ist auch seine Trauer um den angeblich nicht mehr verwendbaren Reim – so als wäre er, als Kunstmittel, ethisch zweifelhaft. Ist er, wenn er zweifelhaft ist, es nicht eher poetisch, etwa durch Abnutzung? Und: Musste sich 1938 ein moderner Lyriker wirklich überwinden, auf ihn zu verzichten? War das nicht schon seit längerem eine liebe Gewohnheit? Immerhin hatte bereits fast 40 Jahre vorher Arno Holz 1899 in seinem Essay „Revolution der Lyrik“ gefordert hatte, den Reim aus der deutschen Literatur ‚hinauszukomplimentieren’. Seiner Forderung kamen viele nach – von Else Lasker-Schüler über Ernst Stadler und Gottfried Benn bis zu Bertolt Brecht.

Dessen vermeintliche Klage darüber, dass die Zeit für gute oder schöne Lyrik schlecht sei, ist also nicht besonders glaubwürdig: entweder ein Zugeständnis an ein überholtes Verständnis von Dichtung, das seinerzeit allenfalls bei manchen Lesern oder bei orthodoxen Kulturfunktionären noch wirksam gewesen sein mag – oder eine indirekte captatio benevolentiae, die letztlich bloß die Akzeptanz der eigenen politischen Lyrik erhöhen soll. In beiden Fällen ist sie nicht sehr ernst zu nehmen. Sie ist vor allem Rhetorik und ansonsten als poetische Selbstkritik selbstwidersprüchlich. Wenn man noch über eine schlechte Zeit für Lyrik so gewandte Verse schreiben kann wie Brecht, muss keinem Bange um die Poesie sein. Allenfalls um die Wahrhaftigkeit mancher Dichter. Aber das war in der guten alten Zeit auch nicht anders.

Literaturhinweis:

Bertolt Brecht: Ausgewählte Gedichte. Auswahl von Siegfried Unseld. Nachwort von Walter Jens. Frankfurt a.M. 7. Auflage 1973. Zitate S. 43, 42 und 43.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Signet von Simone Frieling.