Der Vatermord als Urszene der Kultur

Mit „Totem und Tabu“ beginnt eine neue Ausgabe von Sigmund Freuds Werken

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sigmund Freud ist einer der einflussreichsten Denker der vergangenen hundertzwanzig Jahre – und darum besteht an Ausgaben seiner Texte eigentlich kein Mangel. Für ein größeres Publikum hat sich die bei S. Fischer erschienene Studienausgabe als Standard durchgesetzt, und sei es nur, weil sie seit Jahrzehnten im Gebrauch und leicht zugänglich ist. Seit 2009, siebzig Jahre nach Freuds Tod im Londoner Exil, sind seine Werke zudem gemeinfrei und dürfen von jedem nachgedruckt werden – auch das hat die Zahl der verfügbaren Ausgaben noch einmal erhöht. Warum also noch eine weitere Edition? Weil Freud in so viele Bereiche des intellektuellen Lebens ausgestrahlt hat, dass die Herausforderung weniger darin besteht, einen Text zugänglich zu machen, als einen Kommentar zu erstellen, der die Interessen von Lesern aus unterschiedlichen Disziplinen berücksichtigt: Psychologen, Kulturhistoriker, Literaturwissenschaftler, Ethnologen… In diese Bresche springt nun die Reihe „Wiener interdisziplinäre Kommentare“, die bei der Vienna University Press erscheint, einem Imprint des Göttinger Verlages Vandenhoeck & Ruprecht. Es sind drei Kriterien, die die Herausgeber für ihre Kommentare aufstellen: erstens soll die Aktualität der Texte erläutert werden, zweitens sollen die Kommentare interdisziplinär sein, und drittens soll besonders der zeitgenössische Wiener Kontext berücksichtigt werden. Letzteres liegt nicht nur am Verlagsort, sondern auch daran, dass diese neue Ausgabe ein Projekt Wiener Wissenschaftler ist. Dass Freuds Werk in diesem spezifischen österreichischen Kontext entstanden und von ihm mitbestimmt ist, geht in der globalen Rezeption gerne unter. Schon darum sind die Ziele dieser neuen Reihe unbedingt zu loben.

Den Anfang macht nun „Totem und Tabu“. Nicht nur erscheint die Ausgabe pünktlich zum hundertsten Jahrestag der Erstveröffentlichung 1913, das Buch markiert auch den Übergang von einer Phase, in der Freud primär die Psyche des Individuums beschreibt, zu einer Reihe von kulturtheoretischen Texten, in der es um die psychische Verfassung der Gesellschaft als ganzer geht. Von hier führt eine Linie zu späteren Texten wie „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921) oder „Die Zukunft einer Illusion“ (1927), in dem Freud über die Entstehung der Religion spekuliert. Wie die meisten kulturtheoretischen Werke Freuds wurde es weit über die Psychoanalyse hinaus rezipiert. Auch darum ist „Totem und Tabu“ eine gelungene Wahl dafür, um die Vorzüge der „Wiener interdisziplinären Kommentare“ zu demonstrieren. Das, soviel sei schon verraten, ist aber nur zum Teil gelungen.„Totem und Tabu“ ist ursprünglich eine Sammlung von vier Abhandlungen, die 1912 und 1913 in der psychoanalytischen Zeitschrift „Imago“ erschienen. Obwohl sie sich auch für die Einzellektüre eignen, greifen die Themen doch ineinander und bauen die Texte in der Argumentation aufeinander auf. Sie alle versuchen, frühe Fundamente der Kultur aus Prozessen der menschlichen Psyche herzuleiten. Die Prämisse hierfür ist, dass die Grundzüge auch der „modernen“ Gesellschaft um 1900 aus „primitiven“ Vorformen ablesbar sind. Die notwendigen Daten dafür liefert die Ethnologie: So seltsam die Bräuche der exotischen Kulturen auf den „zivilisierten“ Betrachter der Zeit wirken, so sehr lassen sich aus dem vermeintlich Fremden auch Rituale der eigenen Kultur ableiten, denn die menschliche Psyche funktioniert universal nach denselben Regeln.

Allerdings setzt Freud die Angehörige der „primitiven“ Kulturen nicht schlechthin dem modernen Menschen gleich. Das verrät schon der originale Untertitel des Buches: „Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker“. Freud eignet sich hier die Theorie des einflussreichen Darwin-Popularisierers Ernst Haeckel (1834-1919) an, der die Parallele zwischen der Phylogenese und der Ontogenese eines Lebewesens betont. Das heißt, in der Entwicklung des einzelnen Individuums wiederholt sich die seiner ganzen Gattung. Die „primitiven“ Stämme anderer Kontinente repräsentieren damit eine frühere Stufe unserer eigenen „Hochkultur“. Und wenn die westliche Kultur um 1900 für den „erwachsenen“ Zustand des zivilisierten Menschen steht, so lautet der Umkehrschluss, dann ist der „Wilde“ ein Kind. Die exotische Kultur wird damit zwar als Forschungsobjekt ernst genommen, aber nicht als gleichberechtigt anerkannt. Ist das aus heutiger Sicht rassistisch? Ja. Aber Freud bewegt sich damit auf der Höhe seiner Zeit. Nicht umsonst argumentiert Haeckel in seinem Bestseller „Die Welträtsel“ (1899), die Geisteskraft des „Wilden“ stehe näher am Affen als an den Angehörigen der Zivilisation. Das ist missverstandener, trivialisierter Darwin, und es lässt sich hervorragend zur Rechtfertigung einer kolonialen Praxis heranziehen. Nun ist Freud sicher kein Anhänger von Rassismus und Kolonialismus, aber seine Argumentation setzt sie voraus, ob er sich dessen bewusst wird oder nicht.

Der erste Abschnitt „Die Inzestscheu“ sucht zu erhellen, warum die Clans „primitiver“ Gesellschaften, die sich über ihr gemeinsames Totemtier definieren, weitreichende Regeln zur Exogamie aufstellen – das heißt, nur Heiraten außerhalb des eigenen Clans sind erlaubt. Dass auf diese Weise der Inzest unterbunden werden soll, ist offensichtlich. Aber warum ist das Exogamie-Gebot oft so weitreichend, dass es viel mehr als nur den Geschlechtsverkehr zwischen Verwandten ersten Grades unterbinden soll? Hier überträgt Freud Erkenntnisse, die er in der Psychologie des Individuums gewonnen hat: Mutter und Schwester sind in der Regel die ersten sexuellen Objekte des Mannes, und er löst sich später in einem Reifungsprozess davon ab. Dem Neurotiker gelingt dieser Prozess jedoch nicht, oder er macht ihn sogar wieder rückgängig. Die Parallele zu den „Wilden“ besteht für Freud nun darin, dass sie auf einer frühen Stufe der Entwicklung stehengeblieben sind, ihre inzestuösen Wünsche demnach nie überwunden haben, weshalb das Gebot der Exogamie besonders stark sein muss.

Im zweiten Abschnitt widmet Freud sich dem Ursprung des Tabus, was etwas ganz anderes meint als unser heutiger Sprachgebrauch, nämlich absolute religiöse oder moralische Verbote, die Freud mit dem Völkerpsychologen Wilhelm Wundt als Wurzel der ältesten menschlichen Gesetze deutet. Dieses setzt Freud mit der Zwangsneurose gleich – wie dem Neurotiker seien dem „Wilden“ der Ursprung und die genaue Funktion des Tabus unbekannt. Lust und Verbot bleiben dennoch miteinander verkettet, die gewaltsam unterdrückte Lust verlangt nach Abfuhr. Damit verwandt ist die Angst vor Geistern, in der die Aggressivität der Hinterbliebenen gegenüber den Verstorbenen auf diese selbst projiziert wird. Was wir in den Toten fürchten, ist also in Wahrheit unser eigener Hass gegen sie.

Der dritte Abschnitt widmet sich dem Animismus und der Magie, die mit der Religion und der Wissenschaft gemein haben, dass sie eine grundsätzliche und befriedigende Erklärung der Welt liefern wollen. Kern des Animismus ist der Glaube an die Allmacht der Gedanken, der sich in der Praxis der Magie ausdrückt. Auch hier lässt sich der Wilde wieder mit dem Neurotiker und dem Kind gleichsetzen, die ebenfalls daran glauben, dass ihre Gedanken einen ganz praktischen Effekt auf die Welt ausüben. Wieder einmal ist damit im „Wilden“ etwas erhalten geblieben, dass der „gesunde“ Angehörige der Zivilisation hinter sich gelassen hat. Fantasie und Denken bleiben narzisstisch, sie werden nicht durch einen Abgleich mit der Realität korrigiert.

Mit der vierten und wohl wichtigsten Abhandlung kehrt Freud zum Totemismus zurück. Aber er tut mehr: Vom Totemismus aus will er die Entstehung von Kultur und Religion überhaupt erklären. Das Totemtier symbolisiert die Identität des Clans, aber es begründet zugleich ein soziales System: seine Angehörigen halten sich für blutsverwandt und stellen deshalb enge Regeln zur Exogamie auf, das heilige Tier darf meist nicht gegessen oder getötet werden. Der Ursprung des Totemismus, so spekuliert Darwin, liegt vermutlich in der von Darwin postulierten „Urhorde“, in der ein Männchen alle Weibchen für sich reklamiert und seine Söhne damit ausstößt und zur Exogamie zwingt. Die Söhne, so Freud, töten nun den Vater und verspeisen ihn in einem kannibalischen Akt. Von ihrer Reue überwältigt, inszenieren sie nun den Vater als Gott und entwickelt einen elaborierten Kult, in dem die Tötung des Vaters im rituellen Opfer wiederholt wird – allerdings meist nicht mehr als wirkliches Menschenopfer, sondern als das des (heiligen) Tieres. Alle Kultur und Religion sind für Freud aus diesen Anfängen entstanden, haben also letztlich den Mord zum Fundament. Sichtbar wird das noch in der griechischen Tragödie, die den Opfertod des „Vaters“ – vor allem natürlich bei Sophokles im Oedipus Rex – für das Wohl der Gemeinschaft sichtbar herausstellt. Auch hier gibt es wieder ein Äquivalent in der Moderne, nämlich die Tierphobie als infantile Wiederkehr der Angst vor dem überhöhten Vater, die als Aggression auf ein anderes Objekt abgeleitet wird.

Aus heutiger Sicht ist sicher vieles an Freuds Ansatz zu kritisieren: Zum einen ist die Gleichsetzung von „Wilden“, Kindern und Neurotikern problematisch, und stellenweise erkennt Freud an, dass die vermeintlich „ursprünglicheren“ Kulturen genauso lange existieren wie jene der europäischen Länder auch und ebenfalls auf eine lange Entwicklung zurückblicken. Das gilt aber nur dort, wo er argumentieren will, dass ihre Kulte ebenfalls das Ergebnis langwieriger Transformationen sind. An anderen Stellen scheint er diese Einschränkung wieder zu vergessen, weil sonst seine Ausführungen keine Gültigkeit mehr beanspruchen könnten. Zum anderen bezieht er sich auf populäre, ja schematische Formen des Darwinismus, die sich weniger der Subtilität und vorsichtigen Argumentation Darwins zu verdanken scheinen als den manchmal grellen Popularisierungen seiner Anhänger. Natürlich ist wieder einmal der Mann der „Normalfall“, den Frauen gilt allenfalls ein Nebeninteresse. Und schließlich verlässt sich Freuds Spielart der Ethnologie alles in allem mehr auf Spekulation als auf Empirie. Im Gegensatz dazu stehen die Beobachtungen an Kindern und Neurotikern, die seiner eigenen Praxis entstammen. Man muss aber Freud zugutehalten, dass er sich dabei auf dem Stand der damaligen Ethnologie bewegt, dass er ausgiebige Quellenstudien bei Autoren wie James Frazer, Wilhelm Wundt und seinem Schüler und Konkurrenten C.G. Jung betrieben hat. Auf diese Weise untermauern Psychoanalyse und Ethnologie einander: Freuds Diagnosen an Individuen im Wien der Jahrhundertwende liefern Mechanismen, mit denen sich das kollektive Verhalten noch der fernsten Völker erklären lässt. Umgekehrt scheinen die ethnologischen Befunde eine universale conditio humana zu demonstrieren. Auch das pathologische Verhalten des Einzelnen ist damit anthropologisch grundiert.

So fragwürdig das aus heutiger Sicht anmutet, für Freud ist „Totem und Tabu“ höchst produktiv. Das gilt für das Konzept des Narzissmus, das er hier zum ersten Mal anspricht, und es gilt vor allem für sein erwachtes Interesse an kollektiven psychologischen Prozessen. Der Großteil seiner vorher entstandenen Texte ist empirisch ausgerichtet und anhand tatsächlicher Fälle entwickelt. Es geht vorher in der Regel „nur“ um das Individuum und seine Leiden. Hier beschreibt Freud die Prozesse, die sich zuvor „nur“ im Einzelnen abspielen, zum ersten Mal als kollektive – und noch dazu als solche, die ganze Kulturen stiften können. „Angewandte Psychoanalyse“ nennt das Herausgeber Herman Westerink und kann gut zeigen, wie Freud hierbei Anregungen von Anhängern und Freunden aufnimmt, um seine eigene, komplexere Theorie zu entwickeln.

Der einleitende Kommentar zu dieser Ausgabe stammt vom erwähnten Herman Westerink, einem ausgewiesenen Freud-Spezialisten, und neben Friedrich Schipper einer der beiden Vorsitzenden der Herausgeberkommission, welche die neue Reihe betreuen soll. Das spricht dafür, dass die Einleitung zu „Totem und Tabu“ beispielhaft für das sein soll, was wir als Leser von den folgenden Bänden erwarten können. Tatsächlich merkt man Westerinks Erläuterungen an, dass er ein wirklicher Kenner nicht nur Freuds, sondern des ganzen Kontextes ist, in dem „Totem und Tabu“ entstanden ist. Gemessen an den im Vorwort formulierten Ansprüchen – Diskussion der Aktualität, Interdisziplinarität, Betonung des Wiener Kontextes – ist sie dennoch nur teilweise gelungen. Wie das? Westerink gibt vorzüglich Auskunft über die Entstehung des Textes. Er dokumentiert seine Vorstufen ebenso gründlich wie den Konflikt mit seinem Schweizer Meisterschüler Jung. Einerseits entwickelt Freud seine Vorstellungen in der genauen Auseinandersetzung mit Jungs Arbeiten, zum anderen treten gerade im Gebiet der kollektiven Psyche die Meinungsverschiedenheiten offen zutage, die im Konflikt und schließlich in der Feindschaft zwischen beiden münden. Und ein besonderer Vorzug sind natürlich Westerinks genaue Kenntnisse der Wiener Reaktionen auf „Totem und Tabu“, namentlich die Theologen Wilhelm Schmidt (den Freud später seinen „Hauptfeind“ nannte) und Karl Beth. Mögen sie aus heutiger Sicht vor allem von lokalem Interesse sein, handelt es sich doch genau um die Welt, in der Freud seine Ideen weiterentwickelte. So detailliert Westerink aber das lokale Echo beschreibt, so oberflächlich und knapp bleibt er, wenn es darüber hinaus geht. Wir erfahren kaum mehr, als dass viele Ethnologen Freuds Thesen ablehnten, kaum aber ihre Begründungen. Westerink führt aus, dass der Sozialanthropologe Bronislaw Malinowski starke Kritik an Freud übte, einiges von dessen Thesen aber bei Feldforschungen in Melanesien bestätigt fand. Welche davon genau, müssen wir allerdings raten. Dass Freuds Impulse später von Claude Lévi-Strauss aufgenommen werden, wird erwähnt, aber nicht, in welcher Weise. Von Alfred Kroeber wird berichtet, dass er „Totem und Tabu“ abgelehnt habe, aber nicht, dass seine Kritik viele Ethnologen überzeugte, sich dieser Ablehnung anzuschließen. Ohnehin scheint es zuweilen, als seien Rezeptionszeugnisse für Westerink vor allem dann von Interesse, wenn sie Freud zustimmten – ausgenommen von offensichtlichen Ignoranten wie Wilhelm Schmidt, der sich durch den Wortlaut seiner Ausführungen und Ernest Jones’ Behauptung, er habe sich gar im Vatikan für die Ablehnung der Psychoanalyse eingesetzt, selber diskreditieren darf. Vollends unter den Tisch fällt leider die Erörterung der Aktualität von Freuds Buch, die die Herausgeber als erstes Ziel in ihr Vorwort geschrieben haben, und die sie als wichtigstes Kriterium für ihre Auswahl der Texte angeben. Welches Echo findet „Totem und Tabu“ in der heutigen Psychoanalyse? In der Ethnologie? In den Gender Studies oder kulturhistorischen Studien? All dies sind interessante und triftige Fragen. Von Westerink werden sie leider mit keinem Wort bedacht; der neueste Text, auf den er in seinen Ausführungen zur Rezeption eingeht, stammt von 1972. Ihm sind drei Sätze gewidmet; alles andere ist in ein paar knappe Fußnoten abgedrängt. Dabei wäre dieser Punkt – die Aktualität von „Totem und Tabu“ – gerade dann wichtig, wenn es doch um die interdisziplinäre Relevanz von Freuds Arbeiten gehen soll, die die neue Reihe besonders hervorheben möchte; die knappe Bibliografie im Anhang bleibt unbefriedigend. So verdienstvoll und gelungen der Einstieg insgesamt ist, hier darf in den nächsten Bänden der Reihe gern noch nachgebessert werden.

Titelbild

Sigmund Freud: Totem und Tabu.
Herausgegeben von Friedrich Schipper und Hermann Westerink.
V&R unipress, Göttingen 2013.
213 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783847100218

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