Wem soll man glauben?

Nach seiner Trilogie um den sowjetischen Geheimdienstoffizier Leo Demidow lässt Tom Rob Smith seinen aktuellen Thriller „Ohne jeden Zweifel“ in Schweden und England spielen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seiner Trilogie um den russischen Geheimdienstoffizier Leo Demidow – „Kind 44“ (2008), „Kolyma“ (2009) und „Agent 6“ (2011) – hat der britische Autor Tom Rob Smith (geboren 1979) die stalinistische und poststalinistische Sowjetunion als Hintergrund für eine spannende Thrillerhandlung entdeckt. Nicht ganz auf dem literarischen Niveau seiner älteren und erfahreneren Kollegen Martin Cruz Smith (bisher erschienen acht Bände von dessen Arkadi-Renko-Serie) und Robert Littell („Das Stalin-Epigramm“, 2009), beschreibt er die Konflikte seines anfänglich angepassten Helden mit einem immer unmenschlicher werdenden totalitären System. Das setzt gelegentlich ein bisschen zu sehr auf actiongeladene Knalleffekte, weiß seine Leser aber alles in allem gut zu unterhalten und sie bezüglich Totalitarismus jeglicher couleur zu sensibilisieren.

Rob Smith’ neues Buch „Ohne jeden Zweifel“ – dessen deutsche Ausgabe übrigens früher erschien als das englischsprachige Original – geht nun einen ganz anderen Weg. Zu Anfang nicht weniger spannend als die Geschichte aus einem fremden Land und zu einer Zeit, die nicht die unsere ist, beschränkt es sich in jeder Hinsicht – die Zahl der Schauplätze, der Figuren und Konflikte erscheint genauso reduziert wie die der handelnden Personen – und kommt fast als ein Psychokammerspiel daher, in dem ein Sohn von seinen Eltern auf eine schwierige Probe gestellt wird.

Daniel ist Designer und arbeitet für eine Londoner Firma, die Hausdächer zu Gärten umgestaltet. Die Eltern des 29-Jährigen, Chris und Tilde, haben, durch die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise schwer gebeutelt, ihre kleine Gärtnerei verkauft und sind in Tildes Vaterland Schweden gezogen. Ein Hof war dort billig zu haben und das Paar träumt nun davon, daraus eine Touristenattraktion zu machen, liegt der Ort doch abgeschieden in der weitläufigen südschwedischen Landschaft, ideal für Menschen, die ihre Ruhe suchen, Natur genießen und Lachse in dem das Grundstück tangierenden kleinen Fluss angeln wollen. Doch schon bald erreichen Daniel, der einen Besuch bei den Eltern hinauszögert, weil er bei dieser Gelegenheit endlich seine Homosexualität bekennen müsste, beunruhigende Signale.

Es ist der Vater, Chris, der den Sohn als Erster anruft, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass seine Mutter in der Einsamkeit des schwedischen Landlebens gravierende Persönlichkeitsveränderungen erlitten habe. Sie fühle sich verfolgt und bedroht, wittere hinter harmlosen Nachbarn tückische Verbrecher und habe sogar das Vertrauen in den eigenen Mann verloren. Zu ihrem Schutz habe man sie daraufhin in die Obhut einer psychiatrischen Anstalt geben müssen, aus der sie aber wieder entkommen konnte. Kurz darauf klingelt es an der Tür von Daniels Londoner Wohnung, die er sich mit seinem Lebenspartner, einem zehn Jahre älteren Anwalt, teilt, und die Mutter steht fast ohne Gepäck vor ihrem Sohn. Aus ihrer Erzählung, die die ersten beiden Drittel des Romans ausmacht, ergibt sich ein völlig anderes Bild der Ereignisse. Demnach habe sich Chris mit einem missgünstigen und tyrannischen Nachbarn gegen sie verschworen und sich von diesem Håkan Greggson in Verbrechen hineinziehen lassen, die die Männer nun vertuschen wollen, indem sie Tilde hinter den Mauern einer Nervenheilanstalt für immer verschwinden lassen wollten.

Wenig später taucht auch noch der Vater auf, in seinem Gefolge ein prominenter Arzt, der Chris Einschätzung von Tildes Erkrankung teilt. In der Erzählung der Mutter zählt er aber mit zu den Verschwörern, die die Frau aus Angst vor der Entdeckung von Taten, für die offensichtlich ein Pädophilenring verantwortlich ist und dem die Männer alle angehören sollen, für immer mundtot machen wollen. Daniel muss sich entscheiden.

Rob Smith’ Roman, der die Spannung, die er am Anfang aufbaut, nicht ganz bis zum Finale halten kann, glänzt mit der Beschreibung einer Landschaft, in der sich Reelles und Märchenhaftes vermischen. In dieser Szenerie begegnet eine Frau den Schrecken ihrer Kindheit wieder. Um sich ihnen zu stellen – Tildes Vater, zu dem sie die Beziehungen abgebrochen hat, lebt noch in Schweden, Daniel wird ihn gegen Ende des Romans besuchen, wenn er die Wahrheit hinter den Geschichten, die ihm seine Eltern auftischen, vor Ort überprüft – ist sie zu schwach. Ob sich in der Gegenwart aber tatsächlich wiederholt, was damals wohl geschah und über Jahrzehnte verdrängt wurde, ist die Frage, die den Leser bis zum Romanschluss bei der Stange hält.

Vergangenheit und Gegenwart, Krise und Erholung, Erfundenes und Reelles, ursprüngliche Natur und degenerierte Kultur – Tom Rob Smith’ aktueller Thriller widmet sich großen Themen. Die Story, die er erzählt, hat ein paar logische Schwachstellen und hier und da ein Motiv oder eine Figur zu viel, fesselt aber bis zum Ende. Ein paar literarische Bilder sind schief – etwa das von einer Stimme, die sich „wie Hände um den Hals“ legt –, aber insgesamt darf man gespannt sein, wie es mit einem der begabtesten jungen britischen Thrillerautoren nun weitergeht.

Titelbild

Tom Rob Smith: Ohne jeden Zweifel. Thriller.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Kemper.
Manhattan Verlag, München 2013.
383 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783442546787

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