Wie die Sterne stehn

In seinem Roman „Im Stein“ ringt Clemens Meyer mit einer pikanten Materie

Von André SchinkelRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schinkel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er hat’s wieder getan. Wuchtig, in Ziegelsteingröße kommt Clemens Meyers neuer Roman daher – nach dem rasanten Debüt „Als wir träumten“, dem Bestseller „Die Nacht, die Lichter“, der als Tagebuch bemäntelten Textsammlung „Gewalten“ ist „Im Stein“ sein viertes Buch. Kaum eines wurde hierorts so heiß erwartet, und mindestens das Cover des Bands hält den Grad der Erwartung aufrecht: Aus der wabernden Schwärze sticht ein menschliches Auge hervor, dem eine Tränenspur entspringt.

Der Inhalt des Romans ist starker Tobak, er kündete sich überdies im Vor-Werk schon an, dort lagen die Plätze der Verlockung noch tief in der Stille, nun sind sie aufs Tablet einer Provinz-Metropole gehoben. In 22 zumeist monologisch gehaltenen Kapiteln entwirft Meyer das ominöse Sexgewerbe-Gebaren von „Eden-City“, einer Großstadt in der Tiefebene, am Ende der Jetztzeit. Sprachlich partiell auf höchstem Niveau, krankt das Buch immer mal wieder an seinem Bramarbasieren und ins Deklinieren dessen, von dem man meint, es sollte schlicht jedes Gelüst befriedigen; nur um festzustellen: es bleibt nach wie vor reichlich Anlass zum Unglück.

Mutig, diese Wahl, in der sich gern bedeckt haltenden Selbstkolportage dieses Landes, in dem man, natürlich! zum Reden in den Puff geht … und im aufkommenden Sturm, der sich soeben gegen das Gewerbe, nicht immer zu Diensten seiner im weitesten Sinn ‚dienenden Insassen‘, wie man angesichts des virulenten Fernsehgekreisches zum Thema verwundert feststellen darf, zusammenbraut. Und zugleich muss die Frage gestellt sein, inwieweit Meyer damit das ominöse Gerede vom großen ‚Zeitroman‘ bedient. Allenfalls, und das ist der Punkt und die Leistung von „Im Stein“, schließt der Text in seiner Befindungs- und Beobachtungsgabe an die Blickachsen des größten mitteldeutschen Dichters des letzten Halbjahrhunderts an: die Höllenvisionen eines Wolfgang Hilbig erfahren eine gewisse, etwas durchscheinende Teleportation ins neue Jahrzehnt.
Jene Stadt, sie trägt zahlreiche Elemente der ungleichen mitteldeutschen Schwestern Halle, Leipzig, Chemnitz in sich, ist als Gesellschaftsbild ein großer Gefühls- wie Gelüstpool zugleich – Huren und Zuhälter kommen hier zu Wort, der Alltag von Freiern und Bikern schleppt sich oder klingelt durch die engbedruckten Zeilen. Ja, nicht zuletzt aufgrund seiner Fülle ist „Im Stein“ ein schwerwiegendes Stück Lesestoff, in literaturbeflisseneren Zeiten hätte man wohl zwei Bände draus gemacht, um Eden City ein wenig mehr Raum zu lassen, sich zu entblättern (sic!) und: etwas atmen zu können.

Auf der anderen Seite ist die Atemlosigkeit eines der treibenden Stilmittel des Buchs. Im Ton und in der Abfolge entwickelt „Im Stein“ nicht ganz den Sog der Vorgängerbände, für die das Erzählwunderkind Meyer vielfach ausgezeichnet wurde. Das wird sicher darin liegen, dass sich ein tatsächlicher Plot nicht entfaltet, vielmehr handelt sich um eine Folge mosaikartig aneinandergestellter Selbstverortungen, die zeitweise miteinander Fühlung aufnehmen. In „Gewalten“ klingt das Sujet schon vehement an: dort nimmt das Zittern der Begierde nach käuflichem Sex den Umweg über die Börde-Provinz.
Clemens Meyer, in Halle geboren, in Leipzig aufgewachsen und verwurzelt, ein Seitenspross der aufs Hervorbringen bedeutender Künstler abonnierten Möhwald-Dynastie, schlägt in seinem Roman einen so zärtlichen wie rabiaten Bogen – seine ‚Klienten‘ treten als zutiefst menschliche Wesen auf. Ob man alles, was man hinter Bordelltüren so zur Druckentlastung der Freier unternimmt, wissen mag, sei dahingestellt. Vielleicht ist es gut, drüber gesprochen zu haben. Es bleibt vor allem die Faszination, wie Clemens Meyer mit der ihm gegebenen Sprachkraft und Erzählgabe arbeitet. Inzwischen ist ein weiteres, schmales Buch des Autors in einem Leipziger Verlag erschienen: mit demTitel „Rückkehr in die Nacht“ impliziert es irgendwie die Besinnung auf die berückenden Hallräume der Erzählungen Meyers, die ihn mehr noch als sein Debüt berühmt gemacht haben.

Wie die Sterne stehn in Eden-City, man mag es sich zuweilen, auch weil einem das Schicksal der in diesen Roman Eingeschlossenen beschäftigt, nicht ausmalen – Fakt ist jedoch, dass unter eben diesen Sternen auch der um ein Haar unerkannt gebliebene Outlaw-Erzähler Meyer einhergeht … und von den Göttern geliebt wird. Soeben wurde die Vergabe des hochrenommierten Bremer Literaturpreises an den Verfasser von „Im Stein“ bekannt: eine Ehrung, die Meyer nicht zuletzt aufgrund der gewaltigen Phalanx an Vorpreisträgern, in die er sich nun einreiht, freuen wird. Möge es sein, dass man sich gewärtig macht: diese Preisung, sie wäre bei „Die Nacht, die Lichter“ schon fällig gewesen.

Titelbild

Clemens Meyer: Im Stein. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
560 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783100486028

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