Sprachen-Clash, Code-Switching, Formen-Hopping

Uwe Hinrichs untersucht in „Multi Kulti Deutsch“ Migration als Faktor des Sprachwandels

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anders als es der griffige Titel erwarten lässt, will der Leipziger Balkanlinguist Uwe Hinrichs nicht wie ein Jahr zuvor die Potsdamer Germanistin Heike Wiese in ihrem viel beachteten und kontrovers diskutierten Band „Kiezdeutsch: Ein neuer Dialekt entsteht“ (München 2012) eine neue Varietät des Gegenwartsdeutschen aus der Taufe heben oder postulieren. Ihm geht es vielmehr darum, den gegenwärtigen Sprachwandel des Deutschen im Lichte verschiedener Migrantensprachen zu betrachten; es ist mithin ein Stück Sprachkontaktforschung. Hinrichs hätte die Studie wohl nicht geschrieben, hätte sein Essay „Hab isch gesehen mein Kumpel“, im Februar 2012 im „SPIEGEL“ veröffentlicht, nicht ein solch unerwartetes und stürmisches Echo gefunden. Das vorliegende Buch entfaltet das dort Gesagte auf breiterem Raum und mag so einer Versachlichung der Debatte, die immer schnell Sprachpfleger und -schützer auf den Plan ruft, dienen.

Hinrichs sieht als eine maßgebliche Ursache für den derzeit zu beobachtenden beschleunigten Sprachwandel im Deutschen, besonders in der gesprochenen Umgangssprache, die von den verschiedenen Migrantengruppen ausgehende Mehrsprachigkeit. Das führt unter anderem zur Entstehung von „Ethnolekten“ wie Türkisch-, Russisch- oder Jugoslavisch-Deutsch, wovon das „Kiezdeutsche“ nur eine Ausformung darstellt. Das „Code-Switching“, situativ gebundenes Wechseln zwischen den Sprachen, lässt das Deutsche nicht unberührt, Veränderungen sind auf allen Ebenen zu beobachten. Dass sie auf den deutschen Sprachgebrauch allgemein, über Migrantenmilieus hinaus, durchschlagen und immer auch der Diskurs über Multikulturalismus involviert ist, gibt dem Phänomen gerade seine kulturpolitische Bedeutung und sprachkritische Brisanz. Hinrichs zählt als wichtigste Befunde auf: „Abbau der Kasus, Erosion der Endungen, Abbau des grammatischen Zusammenhangs, Schwankungen beim Artikel, neue Rolle der Präpositionen, neue lexikalische Modelle, neue Fremdwörter aus anderen Kulturkreisen“. Diese Veränderungen leisten einem strukturellen Sprachwandel Vorschub, der woanders seine Ursachen hat und auch in anderen westeuropäischen Sprachen zu beobachten ist: dem Übergang vom „synthetischen“, kasus- und flexionsintensiven Sprachbau zum „analytischen“, worin das Englische am weitesten fortgeschritten ist.

Damit nachvollziehbar wird, wie und wodurch sich das Deutsche im Einzelnen umbildet, setzt Hinrichs, ein ausgewiesener Spezialist für Südslavische Sprach- und Übersetzungswissenschaft, sehr informative, mit Textproben angereicherte Kurzporträts der sieben einflussreichsten Migrantensprachen in ihren strukturellen Eigenarten samt des „Neuanglodeutschen“ – vom Türkischen über das Arabische bis hin zum Polnischen und den Balkansprachen (der eigentlichen Domäne des Forschers) – an den Anfang und gibt den Sprachkontakt-Analysen damit eine Tiefenschärfe, wie sie einschlägigen Untersuchungen zum Sprachwandel von germanistischer Seite abgeht. Vor diesem Hintergrund entfaltet Hinrichs im folgenden Kapitel, wie sich das Migrantendeutsch seit dem Gastarbeiterdeutsch der 1970er-Jahre in den einzelnen ethnischen Milieus entwickelt hat und wie sich das Code-Switching in der Interaktion mit dem Deutschen nach Maßgabe der jeweiligen Eigenarten der Herkunftssprachen darstellt. Dabei wird der sprachökonomische Faktor der Mehrsprachigkeit deutlich: „Mehrsprachigkeit erzeugt einen anderen Modus der Sprachverarbeitung: Sie fährt alles herunter, was dem geänderten Energiehaushalt Fremdsprache/Muttersprache zuwider läuft. Das mehrsprachige Hirn relativiert und simplifiziert alle hohen Kategorien automatisch, weil die kognitive Belastung zu hoch ist im Verhältnis zum kommunikativen Nutzen“. Wer sich einmal beim Erlernen einer Fremdsprache und deren Gebrauch beobachtet hat, kann diesen Befund nur bestätigen. Dass in Hinrichs’ Perspektive das Kiezdeutsch völlig anders interpretiert wird als in Heike Wieses Buch (für den Autor ein „Lehrbeispiel für eine […] ‚Linguistik der Political Correctness‘), nämlich auf seine nichtdeutschen Wurzeln hin, nimmt dabei nicht wunder.

Im abschließenden Kapitel werden die Veränderungen im Deutschen detailliert im Lichte des Einflusses von Migrantensprachen dargelegt, von Verschiebungen im Kasussystem (Genitiv versus Dativ) über Kongruenzabbau (Markierungen, die man für die Verständigung nicht unbedingt braucht, werden zugunsten des Kontextes abgeschliffen) und Artikelkonfusionen bis zum Hin- und Herspringen zwischen alten und neuen Formen (Formen-Hopping).

Kritiker haben – sehr akademisch – eingewendet, dass die angeführten Belege nicht empirisch abgesichert und repräsentativ genug seien, um die Befunde zu stützen. Der Autor will jedoch nicht mehr als eine Bestandsaufnahme liefern und verlässt sich ganz zu Recht, von einigen wenigen streitbaren Beobachtungen abgesehen, auf seine langjährigen Beobachtungen und seine Intuition. Eine ausgedehnte Korpusanalyse hätte die Studie auf jeden Fall weniger lesbar gemacht und nicht ein allgemein interessiertes Publikum erreicht. Eine Gewichtung der Einflussfaktoren, die neben den Migrantensprachen dazu beitragen, dass das Deutsche unter den Bedingungen mehrsprachiger Milieus „offener, flexibler und kompatibler“ wird, wäre auch bei einer breiteren Materialbasis wohl nur schwer möglich; Hinrichs erkennt sie durchaus an (Anglisierung, Mediensprache et cetera) und erhebt keinen Ausschließlichkeitsanspruch. Ebenso schwer zu fassen ist die sprachsoziologische Dynamik, die Neuerungen aus dem mündlichen Sprachgebrauch und ihrem Umfeld schließlich Eingang finden lässt in „migrantenferne“ Sprechermilieus und dank welcher sie letztlich die Hoch- und Schriftsprache erreichen. Erst dann könnte man im Grunde davon sprechen, dass das Deutsche als Ganzes, und nicht nur einzelne, lokalisierbare Kommunikationsmilieus, sich verändert hat; Varietäten hat es ja schließlich immer schon gegeben.

Was unabhängig von der Validität des Beispielmaterials und davon, in welchem Maße man den Sprachkontakt mit Migrantensprachen für den strukturellen Umbau des Deutschen verantwortlich macht, ausgespart bleibt, ist die Frage nach sprachlicher Normativität und sprachkritischer Bewertung. Hinrichs kann es sich durchaus leisten, zunächst nur die Fakten sprechen zu lassen, so plausibel und aufschlussreich sind seine Analysen. Er schließt zwei naheliegende Wertungsattitüden (Sprachpflege-Blick und Political-Correctness-Blick) aus methodischen Gründen von vornherein aus. Diese Zurückhaltung ist etwas anderes als die notorische „Bewertungsallergie“ (Dieter E. Zimmer), die gemeinhin in der linguistischen Zunft vorherrscht, einhergehend mit einer Disqualifizierung von breitenwirksamen Sprachkritikern wie etwa Bastian Sick sowie weniger prominenten Sprachschützern, die sich der Artikulation von Sprachverfall-Bedenken in der Öffentlichkeit verschrieben haben. Auch der jüngst von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung publizierte „Erste Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ (Berlin 2013) gibt Zeugnis von diesem unverwüstlich optimistischen Tenor der Sprachexperten. Man versteht sich dort offenbar – um einen Vergleich eines der Mitautoren dieser Studie weiterzuführen – als Klaviertester, die einem heutigen Bösendorfer-Flügel (will sagen: der deutschen Sprache) tief befriedigt attestieren, er habe an Qualität nicht nur nicht nachgelassen gegenüber früheren Baureihen, sondern eher noch dazugewonnen. Das Problem liege halt nur an der mangelnden pianistischen Begabung vieler Benutzer, was einen Klaviertester wiederum nicht zu kümmern braucht.

Wie kommt es nun zu dieser signifikanten Diskrepanz von sprachpflegerischem Pessimismus und linguistischer Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Sprachentwicklung?

Der Sprachforscher hat schon deswegen einen genuin anderen Blick auf die Sache als der sprachbewusste Sprachbenutzer, insofern er quasi berufsbedingt von Neuerungen im Sprachgebrauch lebt: wieso sollte er die SMS-Sprache von Jugendlichen oder deren Slang in urbanen Milieus kritisch bewerten, wenn er darin doch neue Forschungsgegenstände findet, an denen er sich akademisch profilieren kann? Für ihn ist der faktische Sprachgebrauch immer auch schon gerechtfertigt, oder vielmehr: es stellt sich die Frage nach richtigem und falschem, gutem und schlechtem Deutsch gar nicht. Wie nach einem Bonmot Optimismus nichts anderes ist als ein Mangel an Informationen, ist umgekehrt für einen renommierten Sprachwandelforscher wie Rudi Keller Sprachverfall nichts anderes als der „allgegenwärtige Sprachwandel, aus der historischen Froschperspektive betrachtet“, mithin lediglich eine Wahrnehmungstäuschung. Dem sprachbewussten Laien geht es jedoch gerade um das, was sich kommunikativer Nützlichkeit entzieht – um das, was früher einmal, vor einer kommunikativ gewendeten linguistischen Stilistik, die jeden normativen Anspruch aufgegeben hat, Stil hieß. Er sieht einen Unterschied zwischen „geschockt“ und „schockiert“, zwischen „zeitgleich“ und „gleichzeitig“, „Sinn machen“ und „Sinn ergeben“, auch wenn man sich mit beiden Varianten verständlich machen kann. Für ihn ist die Gleichstellung in der Schreibung von „freisprechen“ versus „frei sprechen“ zum Beispiel ein Verlust an Differenzierung, was der Linguist beziehungsweise Rechtschreibreformer als lernerfreundliche Vereinfachung begrüßt. (Zugespitzt und über Stilfragen hinausgehend: Der gewachsene Sprachbau einer Sprache, ihr innerer Reichtum und ihre Differenziertheit, verstanden als bewahrenswertes Kulturgut, ist mit „kommunikativem Erfolg“ nicht nur nicht zu rechtfertigen, sondern geradewegs nicht kommensurabel, ebensowenig wie der literarische Kanon einer Kultur mit merkantilem Erfolg beim Lesepublikum.) Kommunikativ gesehen, ist der größte Teil dessen, was die Grammatik einer Sprache kodifiziert, redundant, zumindest im mündlichen Sprachgebrauch, da der Kontext meist für Eindeutigkeit sorgt, wie der „foreigner talk“ beweist. So gesehen können Sprachkritik und Sprachwissenschaft kategorial nie zusammenkommen.

Gerade die Rechtschreibreform ist ein Beispiel dafür, was Uwe Hinrichs einmal nebenbei feststellt: „Es gibt keine eindeutige, einziggültige Norm mehr und das Norm-Bewusstsein als solches ist deutlich gelockert“. Die Rechtschreibreform hat musterhaft bestätigt und überboten, was Rudi Keller einmal als Prinzip ungesteuerten Sprachwandels so gefasst hat: „Die systematischen Fehler von heute sind mit hoher Wahrscheinlichkeit die neuen Regeln von morgen“, indem sie es als willentlichen Akt ins Werk gesetzt hat: die Fehler von gestern sind die neuen Orthografieregeln von heute. Andere Beispiele für eine sprachliche Normenerosion wären das „Globalenglisch“ („English as a lingua franca“, siehe dazu den Artikel von Hilmar Schmundt im „SPIEGEL“ 14/ 2008) oder das „Netzwerk Leichte Sprache“ (s. dazu den Artikel von Moritz Kohl in „DIE ZEIT“, 24.7.2013). Stets geht es darum, dass eine bisher fraglos geltende Norm (die im alten Duden kodifizierte Orthografie, das „British English“ als eine für alle Lerner anzustrebende Zielgröße, fachsprachlicher Standard in wissenschaftlichen und behördlichen Texten) aufgeweicht und an die (vermeintlichen) Bedürfnisse von Lernern zugunsten von schnellem kommunikativen oder kognitiven Erfolg angepasst wird. Es ist dies ersichtlich ein Prozess, der weit über linguistische Fragen hinausführt, den Umgang mit Standards im Bildungs- und Erziehungswesen berührt und nur angemessen verstanden werden kann, wenn man den Wandel von Normativität in der Gesellschaft und den Autoritätsschwund normgebender Instanzen in verschiedenen Feldern kultursoziologisch in den Blick nimmt. Das kann in dieser Besprechung freilich nicht geleistet werden.

Titelbild

Uwe Hinrichs: Multi Kulti Deutsch. Wie Migration die deutsche Sprache verändert.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
294 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406656309

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch