Scheiternde im Schatten

Drei neu aufgelegte Romane von Max Brod

Von Jan BehrsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Behrs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Max Brod ist uns als Autor weitgehend fremd geworden: Wenngleich wir es nicht mit einem Unbekannten zu tun haben, verschwindet sein literarisches Werk nahezu vollständig hinter dem seines Freundes Franz Kafka. Aufmerksamkeit für Brod ist meist maskierte Aufmerksamkeit für Kafka, etwa im Fall des in jüngster Zeit zum Streitfall gewordenen Brod-Nachlasses in Tel Aviv, von dem man sich in erster Linie Aufschlüsse für die Kafka-Forschung erhofft. Von dieser Sichtweise muss sich frei machen, wer an der im letzten Jahr begonnenen, auf immerhin zehn Bände angelegten Reihe von Brod-Neuausgaben Freude haben will: Zwar ist es durchaus möglich, die brodsche Prosa vor allem auf Übereinstimmungen mit dem Leben des Autors und damit auch mit Kafkas Leben zu lesen. Die Herausgeber der Einzelbände geben dieser Versuchung in ihren Nachworten gelegentlich nach, wenn etwa Hans-Gerd Koch die Schauplätze in „Die Frau nach der man sich sehnt“ mit den Routen der von Brod und Kafka gemeinsam unternommenen Reisen abgleicht. Weit kommt man mit dieser Vorgehensweise jedoch nicht: Dass Brods Literatur nicht im Vergleich mit der Kafkas aufgeht, erschließt sich schnell; es muss also darum gehen, den Autor und sein Werk auf eigenständiger Basis wertzuschätzen (oder gegebenenfalls auch zu verwerfen).

Worauf könnte eine solche Wertschätzung für den einstigen Erfolgsautor heute beruhen? Die bisher erschienenen Bände der von Koch und Hans-Dieter Zimmermann herausgegebenen Reihe lassen mehrere Antworten auf diese Frage zu. Zunächst wird bei Brod, insbesondere in den frühen Romanen „Jüdinnen“ (1911) und „Arnold Beer“ (1912), eine untergegangene Welt beschrieben, die für heutige Leserinnen und Leser interessant sein kann: Das Prag des frühen 20. Jahrhunderts mit seiner Mehrsprachigkeit, seinen Nationalitätenkonflikten und seiner habsburgischen Prägung ist ein durchaus faszinierender Schauplatz zwischen Vertrautheit und Fremdheit; selbiges gilt für den überwiegend von Juden besuchten Badeort Teplitz, in dem „Jüdinnen“ hauptsächlich spielt. Die Herausgeber haben den titelgebenden Romanen weitere Texte Brods beigegeben, die diesen Aspekt herausheben: Der Band „Arnold Beer“ enthält außerdem den kurzen Roman „Ein tschechisches Dienstmädchen“ von 1908 (Buchfassung 1909), der zu Brods bekannteren Werken zählt und den Konflikt zwischen deutscher Ober- und tschechischer Unterschicht in Prag auf differenzierte Weise thematisiert. Obwohl anders als andere deutsche Prager Autoren der Zeit kein Slawenhasser, lässt Brod keinen Zweifel daran, dass das auf extremer ökonomischer Ungleichheit basierende Verhältnis zwischen dem Wiener Bürgersohn William Schurhaft und dem Dienstmädchen Pepi Vlková zum Scheitern verurteilt ist. Aus dem durchaus nicht objektiven Blickwinkel des Erzählers Schurhaft werden – vor malerischer Prag-Szenerie – die von den Romanfiguren als natürlich wahrgenommenen Klassenunterschiede, die von Anfang an ein hässliches Ende nahelegen, gleichsam en passant überaus anschaulich. Eine vergleichbare soziologische Aufmerksamkeit kennzeichnet auch den Roman „Jüdinnen“. Hier ist es die Binnendifferenzierung des jüdischen Bürgertums zwischen Ärzten und Fabrikanten auf der einen und finanziell gefährdeten Kleinbürgern auf der anderen Seite, die den Figuren eine bestimmte Position in der Gesellschaft vorgibt oder zumindest nahelegt. Standesgemäße Hochzeiten erweisen sich in dieser Welt als wichtiger als die individuellen Absichten der Verheirateten, und mit großem Geschick gelingt es Brod, in der übersichtlichen Kulisse des Badeorts das Aufeinandertreffen verschiedener, in ihrer Alltagswelt in Prag voneinander getrennter Kreise in Szene zu setzen.

Eine wesentliche Leistung Brods wäre also in der differenzierten, vorurteilsfreien Schilderung uns weitgehend unbekannt gewordener Gesellschaftsschichten und Schauplätze zu suchen. Der Verlag hebt diesen offenbar marketingrelevanten Gesichtspunkt hervor, indem er nostalgische Schwarzweißfotografien von Alt-Prag und Alt-Teplitz auf den Umschlägen abbildet. Die Anziehungskraft von Brods Prosa erschöpft sich jedoch nicht in der Beschwörung eines mondänen, mehr oder weniger goldenen Zeitalters; diese scheint nicht einmal sein Hauptanliegen zu sein. Liest man die bisher erschienenen Bände im Zusammenhang, wird vielmehr deutlich, dass sich die eigentliche Handlung jeweils im Innenleben seiner Hauptfiguren abspielt. Das sind stets suchende, mit sich im Unreinen befindliche junge Bildungsbürger, die man im Sprachgebrauch der Zeit als „durchgeistigt“ bezeichnen könnte. Der Autor selbst muss sich erstaunlich früh über diese wiederkehrende Eigenschaft seiner Helden im Klaren gewesen sein: Schon in seinem Roman „Schloß Nornepygge“ von 1908 lässt er den nachdenklichen Jüngling Wolder Nornepygge in einer Generalabrechnung mit der Gegenwartsliteratur darüber klagen, dass „Max Brod nur nachdenkliche Jünglinge“ schildere, was den derart Räsonierenden natürlich einschließt. Für solche Innenansichten einer in einer Krise befindlichen Jugend war Brod seinerzeit bekannt, und sie prägen auch die vorliegenden Texte. Das beginnt beim schon erwähnten William Schurhaft aus dem „tschechischen Dienstmädchen“, der von „wundervollen Zerflatterungen in meiner Seele“ berichtet: Seine Existenz nimmt er nicht in erster Linie wegen seiner unglücklichen Beziehung zu Pepi Vlková als problematisch wahr, sondern weil sein Seelenleben mit der auf Erwerb ausgerichteten Bürgerwelt, in der er lebt, nicht auf eine Linie zu bringen ist: „Aber meine Denkkraft will nun einmal mit dem Realen, mit den Intriguen des Lebens, nichts zu tun haben“. Nicht anders ist es bei Irene und Hugo, den Hauptfiguren von „Jüdinnen“: Auch sie befinden sich in einem krisenhaften Verhältnis zur umgebenden Gesellschaft, was sich nicht nur geistig, sondern auch körperlich bemerkbar macht: „[A]lle Glieder bewegten sich anmutsvoll, doch hatte man manchmal das ängstliche Gefühl, sie säßen irgendwie nicht ganz richtig und fest beisammen, sie könnten leicht einmal auseinanderfallen“, bemerkt der Erzähler an Irene. Solche fragilen, gefährdeten, immer etwas hysterischen Figuren begründeten den Ruf des Autors, der insbesondere unter den Frühexpressionisten in Leipzig und Berlin begeisterte Anhänger fand. „‚Nornepygge’ war kein Roman; ‚Nornepygge’ war mir… Nietzsche nennt das Dynamit“, schreibt Kurt Hiller in der Zeitschrift „Die Aktion“. Mit dem Roman „Arnold Beer“ jedoch beginnt Brod, seinen „Indifferentismus“ (so der zum Label gewordene Titel einer literarisch eher schwer genießbaren Novelle von 1906, die dem Band „Jüdinnen“ beigefügt ist) zu modifizieren. Arnold, zunächst ein getriebener, unkonzentrierter, instabiler Charakter wie seine literarischen Vorgänger, macht, nachdem sich das katastrophale Scheitern einer von ihm geplanten Flugschau deutlich abzeichnet, eine überraschende Wendung zum Konkreten, Soliden, Anständigen und kann seine Krise bewältigen: „Arnold fühlte Boden unter seinen Füßen, das war es, zum erstenmal“. Die Überwindung der Ziellosigkeit wird im Roman formal unkonventionell und ausgesprochen zwingend in Szene gesetzt: Während die ersten beiden Kapitel das Leben des Protagonisten aus der Vogelperspektive in recht locker skizzierender Weise in den Blick nehmen, gehört die gesamte zweite Hälfte des Romans der Schilderung eines kurzen Besuchs bei der Großmutter in Schlesien, der die Wandlung Arnolds zu einem mündigen Mitglied der Gesellschaft auslöst. Brod, der Schilderer bildungsbürgerlich-elitärer Innenwelten, schreckt hier vor detaillierten Beschreibungen dörflichen Elends und dem Einsatz von Dialekt nicht zurück, was dem Roman zu einer bewegenden Eindringlichkeit verhilft. Den expressionistischen Fans allerdings schmeckte diese Abkehr vom Indifferentismus nicht: „Angesichts der mitteleuropäischen Zustände […] Geschichtchen zu drechseln, Tatsächliches gemütlich zu schildern, Ausgedachtes gemütlich zu schildern […]: wir halten das einfach nicht aus“, schreibt wiederum Kurt Hiller.

Der Bruch mit der Avantgarde war sowohl für Brod als auch für sein Werk nicht von Nachteil: Seine wohldurchdachte (und auch publizistisch klug in Szene gesetzte) Hinwendung zu einer welthaltigeren Literatur, die er in den folgenden Jahren in einer ganzen Reihe von Romanen verwirklichte, brachte ihn rasch auf den Gipfel seiner Anerkennung als Schriftsteller. Der Roman „Die Frau nach der man sich sehnt“ von 1927 zeigt, was unter diesen Bedingungen vom für das Frühwerk typischen „nachdenklichen Jüngling“ bleibt, nämlich überraschend viel: Der Protagonist dieses Romans, Erwin Mayreder, blickt zwar mit einem gewissen Abstand auf sein (Liebes-)Leben zurück, von dem er einem namenlosen Erzähler berichtet, doch der verzweifelte Drang zum Absoluten bei gleichzeitig klarem Blick auf die Zumutungen der Realität macht Mayreder zu einem typisch brodschen Helden. Dass er, dessen Leben von der Suche nach einer perfekt zwischen Lust und Vernunft ausbalancierten Liebe – einem „tertium mysticum“, wie er selbst sagt – bestimmt ist, dem Erzähler in einem Pariser „Bummslokal“ begegnet, in dem Touristen unter dem Vorwand erotischer Raffinesse zum Geldausgeben genötigt werden, sagt bereits viel über die Vereinbarkeit seiner Ideale mit der Realität, die in diesem Roman als kapitalistisch-warenförmig dargestellt wird: Mit einer Welt, in der Frauen als „Typenprodukte wie Ford-Automobile“ konsumierbar erscheinen, kommt Mayreder nicht zurecht. Im Gegensatz zu früheren Romanen ist sein Scheitern jedoch ausgesprochen handlungsreich angelegt: Brod gelingt die Balance zwischen langen philosophischen Monologen und einem unterhaltsamen Plot, der Mayreder und seine Traumfrau, die kapriziöse Stascha, durch ganz Europa hetzt, wobei ihnen schnell ein enigmatischer Verfolger auf den Fersen ist. Angesichts dieses Thriller-Potentials überrascht es nicht, dass der Roman bald nach Erscheinen verfilmt wurde. Der überdeutlichen Hinweise auf den Film in Nachwort und Klappentext und des Marlene-Dietrich-Fotos auf dem Cover hätte es aber dennoch nicht bedurft: Glaubwürdige Figuren, ein unerschrockener Umgang mit der kitschverdächtigen Wahre-Liebe-Thematik sowie eine im Vergleich zum Frühwerk gezügelte und dadurch umso eindringlichere Metaphorik lassen das Buch durchaus auch für sich genommen bestehen. Franz Hessel spricht in einer zeitgenössischen Rezension, die der Ausgabe als Vorwort beigegeben ist, von der „leidenschaftlichen Exaktheit“ des Romans – diese Formulierung kann uneingeschränkt auch für Brods Gesamtwerk stehen.

Die Neuausgaben geben einem größeren Publikum die Gelegenheit, diesen leidenschaftlich-exakten Autor wiederzuentdecken, und das kann angesichts der Unbekanntheit des brodschen Werks und der Seltenheit vor allem seiner frühen, im Charlottenburger Axel Juncker Verlag erschienenen Schriften nur gelobt werden. Einige Bedenken bleiben bestehen: Für eine Leseausgabe (und nur um eine solche kann es sich bei dieser Reihe handeln, die leider auch nicht völlig frei von Druckfehlern ist) hätte es sich angeboten, die Rechtschreibung den geltenden Regeln anzupassen und insgesamt eine umfassendere Kontextualisierung anzustreben, als die sehr knappen Nachworte leisten können. Was die Textauswahl angeht, scheinen die Herausgeber eine gewisse Abneigung gegenüber den fantastischeren und spekulativeren Werken des Autors zu hegen und den „psychologischen Realisten erster Klasse“, wie es im Nachwort zu „Jüdinnen“ heißt, zu bevorzugen. Dieses Geschmacksurteil ist legitim, aber eben doch ein Geschmacksurteil, und wenn es dazu führt, dass Meisterwerke wie „Reubeni, Fürst der Juden“ (1925) und vor allem das auch literaturgeschichtlich so bedeutsame „Schloß Nornepygge“ nicht neu aufgelegt werden, wäre das zu bedauern. Für das Frühjahr 2014 sind zunächst der psychologisch-realistische Roman „Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung“ von 1931 sowie gesammelte Essays zu Kunst und Ästhetik angekündigt – es ist zu hoffen, dass diese Bände im Verbund mit den bereits erschienenen bewirken können, dass dieser wichtige Autor ein Stück aus Kafkas Schatten heraustritt.

Titelbild

Max Brod: Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden. Roman.
Mit einem Vorwort von Peter Demetz.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
348 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312685

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Titelbild

Max Brod: Die Frau nach der man sich sehnt. Roman.
Mit einem Vorwort von Franz Hessel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
342 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313330

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Titelbild

Max Brod: Jüdinnen. Roman.
Mit einem Vorwort von Alena Wagnerová.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
344 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311930

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