Aufklärung im 21. Jahrhundert durch Bildkritik

„BilderMacht“ thematisiert Bilder aus den letzten 100 Jahren

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts“ schrieb Paul Gerhard, Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg, ein umfangreiches Buch, das Analysen von Bildern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts zusammenstellt. Dabei handelt es sich um neu überarbeitete Aufsätze, die bereits an anderen Stellen erschienen oder diskutiert worden sind. Paul thematisiert „übliche Verdächtige“, analysiert jedoch auch Bilder, die nicht unbedingt als erstes genannt werden, wenn man einen „Kanon der Bilder“ der letzten einhundert Jahre bespricht. So bespricht sein erster Aufsatz „La fée électricité“, die visuelle Darstellung der Elektrizität, die die Alltagswelt der Menschen ungemein veränderte. Danach orientiert sich die Reihung der Kapitel chronologisch, wobei Kriegsbilder einen Schwerpunkt der Auseinandersetzung bilden, über die katastrophale Landung der Hindenburg in Lakehurst als transatlantisches Ereignis bis zum Irakkrieg, an dem Paul das Bild des „Kapuzenmanns“ als Folterwerkzeug und globale Protestikone bespricht. Vor dem Personen- und Ortsregister schließt das Buch mit einem Publikationsüberlick des Autors zur Visual History ab. Neben einer großen Zahl von Aufsätzen wird man auf fünf Sammelwerke, wie zum Beispiel den zweibändigen Bildatlas „Das Jahrhundert der Bilder“ oder sein Einführungsbuch „Visual History. Ein Studienbuch“ verwiesen. Hier dürfen auch seine sechs Monographien nicht unerwähnt bleiben, wie zum Beispiel zuletzt „Bilder des Krieges/Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges“ (2004) oder „Der Bilderkrieg. Inszenierungen, Bilder und Perspektiven der ,Operation Irakische Freiheit‘“ (2005).

Im Buch untermauert Paul mit der Überlegung Marshall McLuhans, dass die von der Gutenberg-Galaxie getragene Stafette an die „Kultur der Visualität“ im 20. Jahrhunderts übergeht, zum einen die Notwendigkeit, sich mit dem Visuellen beschäftigen, da im Laufe des 20. Jahrhunderts die „Kultur der Visualität“ die schriftliche Kultur überholt habe. Zum anderen thematisiert er damit die Uneinigkeit über das Ausmaß der Bedeutung(en) und Auswirkung(en) von Bildern. Dabei reichen Pauls Beschreibungen der visuellen Charaktereigenschaften von einer kontrollierenden über eine darstellende bis zu einer definierenden Macht. In 17 Aufsätzen zeigt der Autor, dass Bilder immer schon mehr gewesen sind als reine Repräsentation. Bereits Leonardo da Vinci beschreibt in „Trattato della Pittura“ aus dem Jahr 1270, dass Bilder Leben reproduzieren können. Sie gehen weit darüber hinaus, rein mediale Artefakte zu sein und beeinflussen uns Rezipierende ungemein: „Sie suggerieren uns, stärker als das Wörter vermögen, Augenzeugen von etwas zu sein, da sich der Betrachter auf Grund der eigenen, wenn auch indirekten Anschauung zu einen Urteil aufgerufen fühlt.“ Dabei übertrifft die Bildermacht nicht andere Formen von Macht, sondern ist lediglich eine nicht zu unterschätzende Form, die in wissenschaftlichen Analysen mehr beachtet werden muss.

Da sich Bilder von ihren Repräsentationen oft sehr stark emanzipieren, muss man ihren mobilen Charakter ernst nehmen. Das „Nachbeben der Bilder“ ist heute von einem solchen unvorhersehbaren Ausmaß, dass wir sowohl in einer gleichzeitigen als auch ungleichzeitigen Bilderwelt leben. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass diese Bilder einen eigenen Willen besitzen. Sie treten immer miteinander in Dialog und provozieren darüber hinaus Gegenbilder. Am mächtigsten treten bildliche Darstellungen auf, wenn sie nicht als Bilder wahrgenommen werden. In der alltäglichen Wahrnehmung kommt es nur zu oft vor, dass Bilder als Realität rezipiert werden und dadurch nicht nur unreflektiert wahrgenommen werden, sondern zusätzlich dazu auch Erinnerungen medialisieren. Bilder stehen demnach vereinzelt für Biografien, wenn wir an Flickr denken oder helfen, das Jahr Revue passieren zu lassen, wenn im Dezember die Zeitschriften und Zeitungen stark medialisierte Themen des vergangenen Jahres neu aufleben lassen. So werden vergangene Ereignisse mittels der verfügbaren Bildern diskutiert und die Diskussion durch sie strukturiert. So kann auch nur das thematisiert werden, was visuell verfügbar ist oder, anders ausgedrückt, haben Bilder die beste Chance, später wahrgenommen und erinnert zu werden.

Körperbilder haben dabei eine besonders große Chance Aufmerksamkeit zu erregen, wie es Paul in seinen Analysen über die „electrische Fee“ der Jahrhundertwende, das „Napalm-Girl“ oder den „Kapuzenmann“ von Abu Ghraib zeigt. Auch der Blick aus dem Bild ist ein Merkmal, das in seinen Studien zu finden ist. Dabei ist nicht nur das Fernsehen gemeint, durch das man in andere Orte sehen kann, sondern durchaus auch Bilder, die wiederum einen bestimmten Rahmen vorgeben, um in ein anderes Gebiet sehen zu lassen.

Damit Bilder jedoch Bedeutung erhalten, ist ihre Nutzung und Verteilung wesentlich. Ihr Machtpotenzial wird gerade durch den sozialen Gebrauch der Rezeption und Benutzung hergestellt. Dabei müssen die Bilder aus der allgemeinen Bilderflut herausragen und zu Ikonen werden. Ein Ergebnis, das sich dabei ablesen lässt, ist nicht die unmittelbare visuelle Abbildung der Geschichte. Bilder erzeugen dadurch erst Geschichte und setzen als Ikonen Zäsuren einer Geschichtsschreibung. So können Bilder der Beschreibung zur Tat werden, wie zum Beispiel die Fotos der „Mushroom Clouds“ die Wirksamkeit der Waffe Atombombe zeigen. „Das Bild war die Tat“, wobei die Verbreitung der Bilder „Erzeugnisse einer geplanten Bildakt-Politik der USA, mit der vor allem der Sowjetunion Stalins signalisiert werden sollte, wer die Herren der künftigen Weltordnung sein würden.“ Im Fokus steht die gewaltsame Tat, die sich so schnell und eindrucksvoll wie möglich verbreiten soll. Ziel dabei ist zweierlei, zum einen der Welt die Machtposition und die abschreckende Tat vorzuführen und zum anderen den Feind zu demoralisieren. Durch die Visualisierung von Kriegen entstand eine neue Realitätsebene, die eine Wirksamkeit aufweist, die mit der Lenkung von Geldströmen und dem militärischen Waffengebrauch durchaus vergleichbar ist. Ganz gleich, ob Diktaturen oder Demokratien, beide sind auf die visuellen Repräsentationen angewiesen, um überdauern oder zumindest bestehen zu können. Daraus folgt eine Visual Reality. „Diese Visual Reality ist ein Konglomaterat (sic) von völlig unterschiedlichen technisch und elektronisch generierten, von zwei- und dreidimensionalen Bildräumen mit verschiedenen Immersionsgraden. Es sind dies die klassischen Bildräume der Zeitschriften, Magazine, Kataloge und Werbeprospekte, der Anschlagflächen und Litfaßsäulen, die modernen technischen und elektronischen Bildräume des Kinos, des Fernsehens und des Computers, aber auch die dreidimensionalen Bildwelten des Panoramas, des Museums und des Schaufensters sowie nicht zuletzt die privaten Bildräume des Fotoalbums. Diese verdichten sich bei den Rezipienten zu sich gegenseitig ergänzenden, sich z. T. Überlagernden, assoziativ funktionierenden, zumeist chaotisch strukturierten virtuellen Realitäten, in denen sich immer mehr Menschen mit stets zunehmender Zeit orientieren und bewegen.“ In den letzten 100 Jahren – ungefähr der zeitliche Rahmen der im Buch zusammengeführten Analysen – hat diese visuelle Realität keine geringe Veränderung erfahren. Dies ist auch der Grund, warum die Anzahl der visuellen Ikonen immer weiter zunimmt. Denn spätestens seit dem Fernsehen wurden Aufnahmen auch nur deshalb gemacht, um Ikonen für die Öffentlichkeit herzustellen. Nach Paul ist in diesem Zusammenhang auch das Paradox zu erkennen, dass zwar immer mehr Bilder produziert, jedoch zur gleichen Zeit immer weniger Bilder kommuniziert werden. Dies steht für eine uniformierte Globalisierung. Die Produktion von Ikonen wird dadurch wesentlich erschwert, sodass der Autor das Bild des „Kapuzenmanns“ von Abu Ghraib sogar als die erste wahrhaftige globale Ikone des digitalen Zeitalters sieht, im gleichen Satz jedoch schreibt, fast prophezeit, dass sie eine der letzten sein werde. Der Alltag ist durch und durch vom Visuellen geprägt, wobei wir Menschen stetig aktiv an der Produktion oder vielmehr Reproduktion des Bildlichen mitarbeiten. Deshalb verbindet Paul den Aufklärungsbegriff im 21. Jahrhundert stark mit Bildkritik.

In Anlehnung an W. J. T. Mitchells Überlegungen, was Bilder von uns als Rezipierende wollen, stellt Paul Bilderanalysen vor, die zeigen, dass Bilder immer in einem sozialen Kontext entstehen und über uns genauso bestimmen können, wie wir über sie. Das bedeutet, dass Bilder, wenn überhaupt, nur zu einem bestimmten Ausmaß beherrscht werden können, und darüber hinaus auch herrschen. Sie beeinflussen und bestimmen in einem starken Ausmaß. Wenn wir dies akzeptieren, müssen wir einsehen, dass das Visuelle keinen geringeren Einfluss auf uns ausübt als die Sprache. Man sollte nur die Diskussion meiden, das eine oder das andere als übergeordnet zu betrachten. „Bildwissenschaften“ oder „Visual Studies“ fordern eine Fokussierung des Visuellen ein, da es viel zu sehr vernachlässigt wurde. „BilderMACHT“ zeigt, wie erste Schritte in diese Richtung aussehen können. Es führt uns das transformative Potenzial eines Bildes vor, das sich nicht nur in verschiedenen Materialien wiederfindet, sondern auch aufgeführt wird und transnational rezipiert wird. Die Macht der Bilder, ihre aktive und generative Kraft, wird dadurch transparent und regt zum weiteren Nachdenken an.

Titelbild

Gerhard Paul: BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
676 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312128

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch