Ein Buch des Dialogs

Hannah Arendts „Briefe an die Freunde“

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Mir ist, als müsste ich mich selbst suchen gehen. Kein Erfolg hilft mir über das Unglück, ‚im öffentlichen Leben‘ zu stehen hinweg.“ Mit diesen Worten beschreibt Hannah Arendt 1955 in einem Brief an ihren Mann Heinrich Blücher das Unbehagen, das sie angesichts ihrer zunehmenden Bekanntheit befällt. Glück fand die 1906 bei Hannover geborene und in Königsberg aufgewachsene Philosophin in Freundschaften, die sie zeitlebens pflegte und in die sie auch ihr politisches und theoretisches Denken hineintrug. „Wahrheit gibt es nur zu zweien. Ich allein jedenfalls könnte es nie“, schreibt sie in Anlehnung an Nietzsche in einem Brief, und trifft damit eine Aussage, die als übergreifendes Motto ihre vielen Briefwechsel zusammenhält und auf deren dialogisches Wesen verweist.

Hannah Arendt als Briefeschreiberin in einem transatlantischen Netzwerk ist nun in einer von Ingeborg Nordmann herausgegebenen Auswahl wieder zu entdecken. Obwohl der Großteil der aufgenommenen Briefe bereits veröffentlicht war, ermöglicht der Band dem Leser, neue Verbindungen herzustellen, verschiedene Briefwechsel der Autorin in ungewohntem Zusammenhang zu sehen. Inspirieren ließ sich die Arendt-Forscherin Nordmann für dieses Projekt von Rahel Levin Varnhagens „Buch des Andenkens“, einer zwischen 1787 und 1833 zusammengestellten Auswahl von Briefen ihrer Freunde – mit dem Unterschied, dass es im vorliegenden Fall nicht Arendt selbst war, die eine solche Ausgabe geplant hatte. Ob es, wie der Klappentext verspricht, eine „Auswahl ihrer schönsten Briefe“ ist, sei dahingestellt; deutlich wird hier in jedem Fall, inwiefern der Wert der oftmals nur brieflich aufrechtzuerhaltenden Freundschaft an die Erfahrung des Exils gebunden ist. Im August 1945 schreibt Arendt an Kurt Blumenfeld: „Wenn man Mobiliar hat, kann man sich gut daran gewöhnen, auch Menschen als Teile seines Mobiliars hinzunehmen. Wenn man aber ohne Mobiliar existiert, nämlich als Bohemien, ist die Sache erheblich schwieriger.“ Freundschaft gewinne in diesem Kontext nur noch an Bedeutung, selbst wenn sie „anders als auf des Messers Schneide […] kaum noch zu haben [ist].“

Der Band erlaubt Einsicht in das agile Denken einer deutsch-jüdischen Exilantin, die ihre philosophischen Studien mit zeitgeschichtlichen Überlegungen verbindet und dabei die Polemik nicht scheut. Dass Arendt in den Briefen zu einer ausgeprägten „Ungezwungenheit des Nachdenkens“ findet, so das Urteil Nordmanns, ist Satz für Satz nachzuvollziehen und steht im Kontrast zu den äußeren Zwängen des Exilantenlebens. Doch in Zeiten der Flucht und Entwurzelung wird der Brief zu einem Medium, das Zusammenhänge stiftet – die Herausgeberin drückt das in ihrem Vorwort sehr schön aus: „Diesen Zusammenhängen entspricht das, was Arendt Freundschaft nennt.“

Ihre engsten deutschen Freundschaften überstehen auch das Dritte Reich und das Exil. Nachdem Arendt 1928 bei Karl Jaspers promoviert wurde, 1933 zuerst nach Paris geflohen war und sich 1941 in New York niedergelassen hatte, knüpfte sie in der Nachkriegszeit an den früheren Austausch mit dem „sehr verehrten, lieben Herr Professor“ an: Die mit Jaspers bis zu dessen Tod gewechselten Briefe gehören zu den rührendsten und zugleich aussagekräftigsten dieser Edition, durchaus auch im Unterschied zu jenen an den früheren Lehrer und Geliebten Martin Heidegger.

Einen ersten Eindruck von Arendts geistiger Unabhängigkeit auch in der Freundschaft gibt ein Brief an Jaspers vom 1. Januar 1933, in dem sie auf seine im Vorjahr erschienene Studie „Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren“ eingeht; eine Stellungnahme, die ihr bereits durch den Titel erschwert werde. Jaspers habe versucht, in Weber das „deutsche Wesen“ darzustellen: „Sie werden verstehen, dass ich als Jüdin dazu weder Ja noch Nein sagen kann […] Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das kann und muss ich einstehen. Aber ich bin zur Distanz verpflichtet“. Wenige Tage später führt sie die Überlegungen an Jaspers gerichtet fort: „Deutschland im alten Glanze ist Ihre Vergangenheit, welches die meine ist, ist kaum mit einem Worte zu sagen; wie überhaupt jede Eindeutigkeit – sei es die der Zionisten, der Assimilanten oder die der Antisemiten – die wirkliche Problematik der Situation nur verdeckt.“

Zu den weiteren Briefpartnern, mit denen Arendt in unterschiedlichem Maße zwischen Privatem und Intellektuellem changiert oder beides vermischt, zählen unter anderem Walter Benjamin, der ältere Freund und Zionist Kurt Blumenfeld in Jerusalem, die Schriftsteller Hermann Broch, Mary McCarthy und (als letzter Briefpartner) Uwe Johnson, sowie Gershom Scholem, dessen äußerst aufschlussreicher Briefwechsel mit Arendt erst 2010 von Marie Luise Knott herausgegeben und ausführlich kommentiert wurde. Nordmann lässt anhand weniger ausgewählter Briefe an Scholem aufscheinen, inwiefern jüdische Zeitgeschichte und Politik nach Auschwitz beide Briefpartner umtrieb, aber auch voneinander entfernte. Offensichtlich wird dies an Scholems Reaktionen 1946 auf Arendts Aufsatz „Zionism Reconsidered“ und 1963 nach Erscheinen ihres Berichts „Eichmann in Jerusalem" - wobei der Leser diese Reaktionen aus Arendts Briefen rekonstruiert, da die Stimmen der Briefpartner grundsätzlich nicht aufgenommen werden (was angesichts der Suche nach einer „Wahrheit zu zweien" bedauerlich ist).

Auf Scholems Vorwurf, sie liebe das israelische Volk nicht, entgegnet sie scharf, sie habe niemals „irgendein Volk oder Kollektiv ‚geliebt‘, weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder sonst was in dieser Preislage. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig. Zweitens aber wäre mir diese Liebe zu den Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt. Ich liebe nicht mich selbst und nicht dasjenige, wovon ich weiß, dass es irgendwie zu meiner Substanz gehört.“ Mit Emphase hebt sie im selben Brief hervor, „dass ich […] immer nur im eigenen Namen spreche“.

Im eigenen Namen sprechen, die eigenen Positionen so klar es geht zu markieren und zu verteidigen, zugleich aber das Terrain der Freundschaft für wertvoller zu erachten als die in es hineingetragene politische Auseinandersetzung: Dieser Drahtseilakt gelingt Arendt in den Briefen immer wieder, wenn auch nach der Eichmann-Kontroverse der Kontakt zu Scholem erlischt. Doch die mit dem früh nach Palästina emigrierten Gelehrten geführten Briefgespräche thematisieren auf paradigmatische Weise eines der spannendsten Motive von Arendts Schreiben: die Konditionen des Jüdischseins nach 1945. An ihrer Zugehörigkeit lässt Arendt, gerade auch angesichts der Angriffe Scholems, keine Zweifel. Im Juli 1963, also nach Erscheinen des in jüdischen Zirkeln heftige Polemiken auslösenden Eichmann-Berichts schreibt sie: „Judesein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens und ich habe an solchen Faktizitäten niemals etwas ändern wollen.“ „Historisch wie politisch“, so äußert sie auch gegenüber Jaspers, orientiere sie sich „von der Judenfrage her“. Diese Orientierung macht es für sie 1946 auch offensichtlich, dass Juden in Europa nicht mehr als Deutsche oder Franzosen oder anderes leben könnten, „als ob nichts geschehen sei“. Dolf Sternbergers briefliches Angebot, die in Heidelberg von ihm zum Zwecke der „geistigen Erneuerung“ der Deutschen herausgegebene Zeitschrift „Die Wandlung“ zu leiten, schlägt sie aus, „weil ich mich nun mal entschlossen habe, mich für jüdische Politik verantwortlich zu fühlen und zwei miese Völker sind zu viel für einen einzelnen Menschen“. Auch gegenüber den zionistischen Freunden, wie Kurt Blumenfeld in Israel, scheut sie nicht anzuecken: Die zionistische Bewegung, so schreibt sie im Januar 1956, sei tot: „Es gibt kein europäisches Judentum mehr und wird es vielleicht nie wieder geben. Aber die Lüge in Israel ist, dass man diese Vergangenheit, der man seine eigene Entstehung verdankt, verleugnet und sich statt dessen eine großartigere Herkunft andichtet – biblisch alttestamentarisch. Gerade damit träumt man sich aus der wirklichen Geschichte heraus und versteht die eigene Realität nicht mehr.“

Die jüdische Erfahrung, wenn man sie so nennen darf, dient in den Briefen auch als Bindeglied zwischen deren privatem Gehalt und dem philosophisch-politischen Denken, dem sie Ausdruck verleihen. Hier laufen die Briefe häufig parallel zu zeitnahen Veröffentlichungen Arendts: Sowohl ihre große Studie „The Origins of Totalitarism“ (1951, deutsch: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“) als auch ihr vielleicht wichtigstes philosophisches Werk „The Human Condition“ (1958, deutsch: „Vita activa oder Vom tätigen Leben“) klingen neben dem schon erwähntem Eichmann-Bericht in den Briefen an oder werden konkret thematisiert. So lässt sich an der chronologisch angeordneten Briefauswahl auch die intellektuelle Entwicklung nachvollziehen, und diese zugleich mit spezifischen Erfahrungen verbinden. Zu denken ist hier an die rund zwanzig Europa-Reisen, die Arendt ab 1949 unter anderem für die mit der Rettung des jüdischen Kulturguts betraute European Jewish Cultural Reconstruction Corporation unternimmt. Die aus Trümmerlandschaft, Wirtschaftswunder und Restaurationsstimmung gewonnenen Reiseeindrücke verarbeitet sie in Briefen. Auch Denkfiguren, die Arendts theoretische Produktion markieren, werden vor Briefpartnern ausgelegt: Der Paria etwa, den sie in Essays der 30er und 40er Jahre (veröffentlicht in „Die verborgene Tradition“) entworfen hat, findet auch in die Briefe Eingang als jemand, der sich der modernen Anfälligkeit für kollektive Ideologien entgegenstellt und dessen Verortung am Rande der Gesellschaft nach Auschwitz allein noch eine „menschenwürdige Existenz“ ermöglicht. Auch der Schritt vom „radikalen Bösen“, von dem Arendt Anfang der 50er Jahre noch ausgeht (in einem Brief an Jaspers schreibt sie, das Böse habe sich „als radikaler erwiesen als vorgesehen“), hin zur „Banalität des Bösen“ wird in den Briefen mitgegangen. „Kein Adler, eher ein Gespenst“: Mit dieser lakonischen Einschätzung beschreibt Arendt als Beobachterin des Jerusalemer Prozesses im April 1961 den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in einem Brief an Jaspers. 1963 verteidigt sie gegenüber Scholem ihre Perspektive, und korrigiert damit ihre frühere von Kant beeinflusste Annahme der Radikalität des Bösen: Dieses sei immer nur extrem, aber nicht radikal, weil es keine Tiefe besitze: „Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert.

Neben diesem werkbezogenen Gehalt der Briefe ist in ihnen zudem eine autoreflexive Dimension angelegt, die sich in Form wiederholter Überlegungen über das Wesen der Freundschaft – ein „Lebensthema“ der Denkerin – und des Briefeschreibens äußert. Faszination und Abstoßung zeigen sich gleichermaßen, wenn Arendt von einer „schwer beschreibbaren Hemmung gegen Briefschreiben“ ausgeht; oder wenn sie ihrem Briefpartner Blumenfeld einen „Eros der Freundschaft“ zuschreibt, den sie doch selbst ausstellt. Die Herausgeberin hebt in ihrem klugen Nachwort die Beweglichkeit des Mediums Brief „zwischen dem Privaten und Öffentlichen, zwischen dem Sichentfernen und Sichzeigen, zwischen Fremdheit und Nähe“ hervor, die bei Arendt fassbar wird.

Von Rahel Varnhagen schrieb die Denkerin in ihrer „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“, sie habe „einen Platz gefunden in der Geschichte der europäischen Menschen“, weil sie sowohl an ihrer Unabhängigkeit als auch an ihrer jüdischen Herkunft festgehalten habe. Ähnliches lässt sich von ihrer Biografin behaupten.

Titelbild

Hannah Arendt: Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde.
Hrsg. von Ingeborg Nordmann.
Piper Verlag, München 2013.
464 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783492055420

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