Jüdisch sein heute

Zur zeitgenössischen jüdisch-amerikanische Literatur

Von Deborah FerjencikRSS-Newsfeed neuer Artikel von Deborah Ferjencik

Im Jahr 1977 sprach der amerikanische Literaturkritiker Irving Howe seine berühmte Vorhersage aus, die den Untergang der jüdisch-amerikanischen Literatur prophezeite. Howe rechnete damit, dass den Folgegenerationen der jüdischen Immigranten aus Ermangelung eigener Erfahrungen schlicht der literarische Stoff ausgehen würde.

Mehr als 35 Jahre später erweist sich seine Theorie als überholt durch eine neue Generation von jüdisch-amerikanischen Autoren. Denn selbstverständlich beschäftigen sich auch die geistigen Enkel der jüdischen Einwanderer, also die dritte Generation, mit ihrer Identität und ihrer Stellung in der amerikanischen Gesellschaft. Doch anders als bei ihrer Vorgängergeneration geht es ihnen nicht mehr so sehr um Fragen der Assimilation in die amerikanische Gesellschaft, wie sie so oft in Werken von amerikanischen Klassikern wie Saul Bellow oder Philip Roth thematisiert wurde. Vielmehr stellt sich für junge jüdische Amerikaner die Frage, was für sie heutzutage ‚jüdisch sein‘ bedeutet. Die Suche nach einer Antwort erlebt man in den Werken dieser jungen amerikanischen Juden als klassische ‚Coming of Age‘ Geschichten. Dabei kann dieses Heranwachsen und die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität ganz unterschiedlich verlaufen, auch ganz unterschiedlichen Ausgang nehmen. Der amerikanische Literaturkritiker Morris Dickstein beschreibt dies folgendermaßen: „Jewish life in America has become far more assimilated, but younger Jewish writers have both taken advantage of this and sharply criticized it. They have turned to Israel, to feminism, to the Holocaust, to earlier Jewish history and to their own varied spiritual itineraries, ranging from neo-Orthodoxy and mysticism to Eastern religion, as a way of redefining their relation to both Jewish tradition and contemporary culture. If they have lost the old connection to Europe, to Yiddish or to immigrant life, they have begun to substitute their own distinctive Jewish and American experiences.”[1]

Und in der Tat scheint es so zu sein, dass sich zwar eine klar erkennbare junge Generation jüdischer Autoren in Amerika abzeichnet, deren Gemeinsamkeit die Neugier und kulturelle Rückbesinnung ist. Jedoch bestehen innerhalb dieser Autorengruppe durchaus deutliche Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen Thematik und Herangehensweise. Ganz plakativ könnte man das Nebeneinander von drei Untergruppen behaupten: erstens, die Vergangenheitszugewandten, deren Suche nach der eigenen Identität sie nach Europa und in die Welt der Großeltern zurückführt. Zweitens, die nach vorne Strebenden, die auf kreative und zum Teil skurrile Weise versuchen, ganz neuartige und eigene Formen von amerikanischer ‚Jewishness‘ zu entwerfen. Schließlich gibt es drittens noch die Gruppe der russischen Neueinwanderer, junge Juden die erst seit kurzem in Amerika leben, auf die im Grunde das Prinzip der ‚dritten Generation‘ auch nicht zutrifft, und die ihre ganz eigenen Geschichten von Neubeginn und Identitätsfindung  zu erzählen haben.

Innerhalb der ersten Gruppe bieten solch populäre Autoren wie Jonathan Safran Foer oder auch Dara Horn einen guten Ansatz. In ihren Romanen beschreiben sie etwas, das für das (mehrheitlich) noch junge jüdische Amerika eine wichtige historische Zäsur darstellt: die Migration ihrer Vorfahren und somit das Verlassen des alten Kontinents und den Wiederbeginn in der ‚Neuen Welt‘. Diese Migration hat zwar zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus verschiedenen Gründen stattgefunden, doch unabhängig von Ursache und Zeitpunkt setzt ab dem Moment der Ankunft in Amerika eine typische kulturelle Dynamik der Immigration ein.

Die erste Generation von Einwanderern erreichte die USA in dem Bewusstsein, dass sie Neuankömmlinge und somit Außenseiter waren. Sie trugen die direkten Erinnerungen an die alte Welt mit sich, aber oftmals haderten sie mit der ‚Neuen Welt‘. In der Literatur sind die Werke von Henry Roth (Nenn es Schlaf), Mary Antin (The Promised Land) Beispiele für die erste Generation. Sie schreiben typischerweise über Erlebnisse der Ankunft und des weiteren Lebens von jüdischen Einwanderern aus Osteuropa, die wie die Autoren selbst um die Jahrhundertwende und bis in frühe 20. Jahrhundert nach Amerika kamen.

Die zweite Generation hingegen war bereits in Amerika geboren, betrachtete jedoch die Herkunft der eigenen Eltern oft als Manko und bemühte sich darum, ganz als Amerikaner zu gelten, also vollständig assimiliert zu sein. Alles was im eigenen Zuhause und an der eigenen Familie fremdländisch erschien, wollte diese Generation nun verbergen und hinter sich lassen. Der amerikanische Historiker Marcus Lee Hansen stellte hierzu sehr treffend fest:

„The sons and daughters of the immigrants were really in a most uncomfortable position. […]Whereas in the schoolroom they were too foreign, at home they were too American. […] That problem was solved by escape. […] He [the son] wanted to forget everything: the foreign language that left an unmistakable trace in his English speech, the religion that continually recalled childhood struggles, the family customs that should have been the happiest of all memories.”[2]

Die zweite Generation versuchte demnach alles daran zu setzen, ihre (kulturelle) Herkunft zu verleugnen, um in die neue Gesellschaft assimiliert zu werden. Dieses Phänomen bestätigt sich in zahlreichen Werken und Zitaten von jüdisch-amerikanischen Autoren, die der zweiten Generation angehören, jedoch in Bezug auf ihr Alter teilweise bis zu 40 Jahre auseinanderliegen. Typische Beispiele sind Autoren wie Saul Bellow, aber auch weniger bekannte Schriftsteller wie Lev Raphael, die immer wieder betonen, dass ihre Herkunft und ihre Kultur etwas sind, das weitgehend nicht zu erwähnen ist und zurückgelassen werden soll. Saul Bellows Aussage „For I thought of myself as a Midwesterner and not a Jew […]”[3] spricht hier Bände.

Die darauffolgende Generation, also die dritte Generation, sieht sich wieder in einer völlig anderen Position. Diese jungen Männer und Frauen sind ganz selbstverständlich Teil der amerikanischen Gesellschaft und versuchen nun oft vielmehr ihre jüdische Identität zu ergründen, die ihre Vorfahren teilweise versucht hatten zu verheimlichen. Wieder fasst Hansen die Dynamik dieser Generation treffend zusammen:

“They do not have the same reasons or complexes that encourages the second [generation] to make a complete break. They are as American as any of their neighbors. There is no accent in speech caused by the intermingling of two tongues. No feeling of inferiority troubles them in the presence of persons of Mayflower or Knickerbocker descent. They have a healthy curiosity to know something of the family saga.”[4]

Das prägende Merkmal dieser dritten Generation ist also ihre Neugier und Offenheit für all die Dinge, die sie mit ihrer Großelterngeneration verbinden.

Das Shtetl als stereotyper Lebensraum

Für die Narrative mancher amerikanischer Juden, denen die persönlichen Erinnerungen schon fehlen, spielt dabei die Beschäftigung mit der europäischen Vergangenheit auf der Suche nach ihrer eigenen jüdischen Identität oft eine große Rolle. Diese Beschäftigung geschieht durch Fiktion, story-telling, Reise und Übertragung. Insbesondere in der typischen Lebensform des Shtetls taucht die europäische Herkunft immer wieder in jüdisch-amerikanischer Literatur auf. Das Shtetl als Motiv in der Literatur ist ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie Grenzen verschwimmen und Gemeinsamkeiten hervortreten. Denn das Shtetl ist etwas Typisches: typisch jüdisch, typisch europäisch. In der amerikanischen Imagination ist es ein Archetyp vormaligen jüdischen Lebens und der eigenen Herkunft. Immer wieder begegnet man in den Romanen amerikanischer Juden dem Shtetl-Leben. Auch in der Literatur der jüngeren Generation, die das Shtetl selbst natürlich nicht mehr kennt, oft nicht einmal aus direkten Erzählungen. Mit dem Shtetl wird also ein stereotyper jüdischer Lebensraum imaginiert, oft in direktem Kontrast und als Gegenentwurf zum heutigen modernen und urbanen Leben in der amerikanischen Großstadt. Das jüdische Europa, die Alte Welt, ist der Herkunftsort, der ehemalige Lebensraum, und darum auch ein ständiger Bezugspunkt in den Erzählungen des amerikanischen Judentums. Beispiele sind Jonathan Safran Foers Roman „Alles ist erleuchtet“ oder auch Dara Horns „Die kommende Welt“, in denen immer wieder zum Teil lange vergessene Familiengeschichten in die Erzählung des Heranwachsens eingeflochten werden. Für ihre Protagonisten steht daher die eigene Identitätssuche immer im Einklang mit der persönlichen Familiengeschichte. Bei Jonathan Safran Foer begibt sich der Held des Romans auf den Weg in die Ukraine, um die Relikte des längst zerstörten Shtetls Trachimbrod zu erkunden, aus dem seine Großeltern stammten. In Dara Horns „Die kommende Welt“ hingegen wird ein altes Chagall-Bild zur Projektionsfläche der europäischen Herkunfts- und Familiengeschichte.

Selbstgestaltung oder Orientierungslosigkeit

Einen völlig anderen thematischen Ansatz hingegen wählen Autoren der zweiten Gruppe, wie Gideon Lewis-Kraus, Lisa Schiffman oder auch Shalom Auslander. In ihren Texten erschaffen sie ein völlig neues amerikanisches Judentum, teilweise gänzlich losgelöst von der Eltern-, bzw. Großelterngeneration. Zugespitzt gesagt, geht es ihnen darum, sich vom Bild des osteuropäischen Einwanderers mit schweren Erinnerungen an die Alte Welt zu lösen. Die Protagonisten wollen ihre Identität selbst erschaffen oder neu definieren. Stellvertretend für eine Generation von säkularen jungen Juden zeichnet Lisa Schiffmans Werk „Generation J“ das Bild einer jungen Frau auf der Suche nach ihrer persönlichen Verbindung zum Judentum, welche bisweilen fast absurde Formen annimmt. Lisa Schiffman definiert jüdische Identität aus einer Vielzahl an Möglichkeiten heraus:

„Assimilation wasn’t something we strove for; it was the condition into which we were born. We could talk without using our hands. When we used the word schlepp, it sounded American. Being Jewish was an activity: Today I’ll be Jewish. Tomorrow I’ll play tennis. […] To us, anything was possible.“[5]

Shalom Auslander hingegen beschreibt in seinem Buch„Eine Vorhaut klagt an“ aus dem Jahr 2007– der englische Originaltitel lautet übrigens „A Foreskin’s Lament“, stellt also ganz klar einen Verweis auf Philip Roths Klassiker „Portnoy’s Complaint“ aus dem Jahr 1969 dar – seine Kindheit und Jugend in einer orthodoxen Familie und Gemeinde in Monsey, New Jersey und seine Versuche aus dieser Welt zu flüchten. Diese Versuche der Eigengestaltung könnte man allerdings auch eine Orientierungslosigkeit nennen, die in gewissem Gegensatz zum Shtetl-Leitmotiv der in Rückschau verhafteten anderen Autorengruppe steht.  

Sony vs. Borschtsch

Betrachtet man jedoch die derzeitige Generation junger und neuer jüdischen Autoren genauer, so darf man gewiss nicht die Gruppe der russisch-jüdischen Einwanderer außer Acht lassen, die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nach Nordamerika eingewandert sind. Zwar handelt es sich hierbei um eine neue Generation von Immigranten der ersten Stunde, jedoch ist diese Gruppe altersbedingt dennoch mit den Autoren der sogenannten ‚dritten Generation‘ verbunden. In den Texten dieser Schriftsteller, wie etwa Gary Shteyngart oder Lara Vapnyar, wird auch mit Problemen der Assimilation und Fragen zur eigenen Identität gekämpft, allerdings ohne sich dabei auf die persönliche und teilweise verklärte Familiengeschichte und die Herkunft aus dem Shtetl zu berufen. Für diese Autoren existiert das Shtetl als Ursprungsort nicht mehr. Vielmehr wird in der Literatur der ‚russisch-jüdisch-amerikanischen‘ Autoren der Weg von der sozialistischen Großstadt in die kapitalistische Großstadt beschrieben. Ganz anders erscheinen die Herausforderungen und Wünsche dieser neuen Immigranten als es noch bei der russischen Immigrationswelle nach der Jahrhundertwende der Fall war. Jene jüdischen Einwanderer gelangten seinerzeit noch in der Armut und Not der Lower East Side Manhattans an, die im Grunde ein fast homogenes jiddisches Ghetto darstellte, in dem sich neben der Sprache auch zahlreiche Lebensweisen zunächst erhielten. Das pure Überleben, Geldverdienen durch einfache Handarbeit oftmals in der Textilindustrie und das Erlernen der englischen Sprache und der amerikanischen Gepflogenheiten standen hier im Vordergrund. Dabei zeigt sich unter anderem bei Gary Shteyngarts „Handbuch für den russischen Debütanten“, dass es der neuen Generation jüdischer Immigranten nicht mehr nur um eine einfache Existenzgründung geht, sondern auch um den ‚richtigen‘ Status im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. So schreibt Shteyngart:

“The delivery of this Sony Trinitron is possibly the happiest moment of my life. Finally, in a real sense, I become a naturalized citizen of this country. I turn it on, and I never turn it off. For the next ten years, I will write almost nothing.”[6]

Sony statt Borschtsch, New York University statt Textilfabrik. Es wird deutlich, dass diese heutigen Immigranten mit einem ganz anderen Anspruch leben, was die Assimilation in die amerikanische Gesellschaft betrifft. Shteyngart und Co. unterwandern somit das frühere Bild des russischen Einwanderers und liefern eine völlig andere Sicht auf die Stellung amerikanischer Juden in der heutigen amerikanischen Gesellschaft.

So groß letztlich auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen von Autoren sein mögen, ihnen gemein bleibt die Suche nach einer neuen jüdischen Identität für junge Menschen im heutigen Amerika. Diese Suche und Gestaltung wird zum prägenden Merkmal der gesamten Generation amerikanischer Juden, die in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgewachsen sind. Die Autoren haben sich neue Ansätze und Darstellungsweisen jüdischer Kultur erschaffen und zeigen fortwährend auf, wie vielfältig jüdisches Leben in den USA heute gelebt und interpretiert werden kann. Sie sorgen dafür, dass der skeptisch in die Zukunft blickende Literaturkritiker Irving Howe mit seiner Prophezeiung vom Ende der jüdisch-amerikanischen Literatur zum Glück letztendlich nicht Recht behalten sollte.

Literaturhinweise:

Jonathan Safran Foer: Alles ist erleuchtet
Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003
384 Seiten, 22,99 €

Dara Horn: Die kommende Welt
Aus dem amerikanischen Englisch von Christiane Buchner
Berlin Verlag Taschenbuch, Berlin 2007
384 Seiten, 10,95 €

Lisa Schiffman: Generation J
HarperOne, New York 1999
176 Seiten, 9,43 €

Shalom Auslander: Eine Vorhaut klagt an
Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld
Berlin Verlag Taschenbuch, Berlin 2010
304 Seiten, 9,99 €

Gary Shteyngart: Handbuch für den russischen Debütanten
Berlin Verlag, Berlin 2003
496 Seiten, 11,90 €

Anmerkungen:

[1] Morris Dickstein, The Complex Fate of Jewish-American Writer, in: The Nation, 4.10.2001. (http://www.thenation.com/article/complex-fate-jewish-american-writer-0, Stand: 13.01.2014)

[2] Marcus Lee Hansen, The Problem of the Third Generation Immigrant, in: Peter Kivisto and Dag Blanck (Hgs.), American Immigrants and their Generation. Studies and Commentaries on the Hansen Thesis after Fifty Years, Urbana 1990, S. 192/193.

[3] Saul Bellow, Starting Out in Chicago, in: Derek Rubin (Hg.), Who We Are. On Being (and Not Being) a Jewish American Writer, New York 2005, S. 5.

[4] Marcus Lee Hansen, Who Shall Inherit America?, in: Peter Kivisto and Dag Blanck(Hgs.), American Immigrants and their Generation. Studies and Commentaries on the Hansen Thesis after Fifty Years. Urbana 1990, S. 209.

[5] Lisa Schiffman, Generation J, New York 1999, S. 4.

[6] Gary Shteyngart, The Mother Tongue Between Two Slices of Rye, in: The Threepenny Review, Spring 2004. (http://threepennyreview.com/samples/shteyngart_sp04.html, Stand 13.01.2014)

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz