Flimmernde Erscheinungen

Vom neuen Zeitungslesen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Können Sie sich noch an Mister Warburton erinnern? Auf ihn war ich in meiner ersten Glosse im Juli 2009 zu sprechen gekommen.

Mister Warburton war jener britische Kolonialoffizier in der Erzählung von W. Somerset Maugham, der einmal monatlich die gesammelten Ausgaben der „Times“ und des „Observer“ von London per Schiff geschickt bekam. Jeden Morgen las er die tägliche Zeitung, – jedoch war es die Ausgabe von sechs Wochen zuvor! Nie las er die Zeitung vom nachfolgenden Tag, auch wenn er sie unschwer hätte in die Hand nehmen können.

Mittlerweile verhalte ich mich zuweilen wie das Gegenteil von Mister Warburton: Ich lese die Zeitung vom nächsten Tag!

Nach monatelangem Werben hatte mich die „F.A.Z.“ weich gemacht: Zum 31. Juli 2013 bestellte ich ein iPad und abonnierte die Zeitung in digitaler Version („E-Paper“). Und seitdem kann ich, wenn ich will, bereits nach 21 Uhr die Ausgabe vom nächsten Tag lesen. Zuweilen habe ich dabei ein schlechtes Gewissen, weil ich an Mister Warburton denken muss: Nicht einmal den nächsten Tag können wir abwarten, wie ginge es uns mit sechs Wochen „Verspätung“?

Ich lese schneller, oberflächlicher und überall

Der größte Vorteil dieser Art von Zeitungslektüre ist die Zeitersparnis. Bevor ich mich dazu entscheide, einen Artikel anzutippen, um ihn gut lesbar zu vergrößern, habe ich ihn in dieser kleinen Schrift mit den Augen bereits einmal gescannt. Und im Zweifel sage ich mir: Muss ich das wirklich wissen, wie es derzeit um … steht? Die Punkte stehen dann für ganze Länder oder kleine Gemeinden, für Promis oder für neue technische Geräte. Brauchte ich früher, als es noch dieses raschelnde Papier gab, mindestens eine Stunde für eine Ausgabe, so kann es heute sein, dass ich nach fünfzehn Minuten „durch“ bin. Ob das die Marketing-Leute „dieser Zeitung“ wollten? Die Journalisten sicher nicht.

Vorteilhaft ist weiterhin, dass man das kleine Gerät (fast) überall hinnehmen kann. Ob man nun beim Arzt wartet oder im Zug sitzt, ohne langes Gefalte und Geknicke klappt man es auf, tippt darauf und schon geht’s da weiter, wo man aufgehört hat.

Vorteilhaft ist auch, dass der Papiermüll erheblich reduzierter geworden ist. Das merkt man erst, wenn man mal eine Zeitung zum Einpacken braucht: Es gibt keine mehr.

Man kann sich die Tageszeitung nicht mehr teilen

Bevor das kleine schwarze Kästchen Einzug hielt, war es ein ewiger Konfliktherd: Wer bekommt welches Buch zuerst? Das hat sich nun erübrigt. Allenfalls der Streit, wer das Tablet zuerst in die Hand nimmt. Aber lesen kann nur einer zu einem Zeitpunkt. Das ist ein echter Nachteil: Es gibt kein gemeinsames Zeitungslesen mehr! Man bräuchte zwei dieser Wunderdinger.

In diesem Zusammenhang muss ich immer an meine guten Freunde Lew und Rose Coser denken, beides mittlerweile verstorbene Soziologen, die an der State University of New York in Stony Brook lehrten. Um den Streit um das erste Leserecht zu beenden, hielten sie einfach zwei Abonnements der „New York Times“. In ihrer stillen Lesestunde bei einer Tasse Kaffee durfte man sie unter keinen Umständen stören, allenfalls das Rascheln beim Umblättern war zu hören. Jahrelang hatte Lew Coser prophezeit: Wenn ich keine Lust mehr auf die Zeitung habe, werde ich sterben. Genauso kam es: Kurz nachdem er sich nicht mehr für die aktuelle Ausgabe der Zeitung interessierte und sich die ungelesenen Exemplare stapelten, starb er, am 8. Juli 2003.

Das Ärgerlichste an der „E-Paper“-Ausgabe jedoch ist die Tatsache, dass der Bildschirm zuweilen ganz verschwommen ist, man den Text nur lesen kann, wenn man ihn anklickt. Und richtig wütend kann ich werden, wenn es – einigermaßen häufig – ein plötzliches Verschwinden der ganzen „Zeitung“ gibt: Ärgerlich tippe ich dann auf die Nachfrage, ob dieses unerwartete Schließen der App gemeldet werden soll. Ja, das soll es, und beheben sollen sie in der Redaktion solche Pannen, bitte!

Praktisch und unsinnlich

Es ist kein Zeitungslesen mehr, es ist Informationen aufnehmen und einzelne Artikel – sehr viel weniger als früher – gründlich lesen und aufheben („Merkzettel“). Es fehlen das Knistern, der Geruch, die grauen Finger (bei der „New York Times“ sind sie schwarz), die sinnliche Freude am Layout. Das Beste wäre, man hätte beides: die gedruckte Zeitung zum „richtig“ Lesen und das iPad für unterwegs.

Aber, – würde ich überhaupt wieder zurückgehen? Es ist schon sehr praktisch, dass ich – wenn ich etwas ergänzend nachschlagen will – einfach die Zeitung wegwische, Wikipedia oder Google aufmache, nachschlage und –lese und wieder da fortfahre, wo ich stehen geblieben bin.

Gespannt bin ich, wann man in der Werbung zum ersten Mal einen Menschen – einen jener „klugen Köpfe“ also – nicht hinter der gedruckten Zeitung sondern hinter dem iPad sieht. Bis dahin freue ich mich daran, die bunten ersten Seiten alle untereinander zu sehen: Mit einem einzigen Wisch fahren sie alle vor meinen Augen vorbei.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.