Mittelalter – was ist das?

Epochenvorstellungen zwischen ‚Irrtum‘ und ‚Fakt‘ in einem Hörbuch von Karin Schneider-Ferber

Von Florian SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Mittelalter erscheint allgegenwärtig. Literatur, Filme, Computerspiele, Spielzeuge, Mittelaltermärkte und vieles mehr zeugen von seiner Omnipräsenz und damit von einem ebenso großen wie breiten öffentlichen Interesse, das sich in unterschiedlichen Präsentations- und Inszenierungsformen mittelalterlicher Vergangenheit offenbart. Auch in diachroner Perspektive erscheint das Mittelalter als eine Besonderheit, gilt es doch gemeinhin als eine Epoche, die seit ihrer ‚Erfindung‘ in der frühen Neuzeit äußerst intensiv rezipiert, adaptiert, instrumentalisiert und funktionalisiert worden ist. Auf die Frage, was das Mittelalter sei, finden Populärkultur, Fachwissenschaften, aber auch die Mittelalterdidaktik je nach Interessen mitunter deutlich verschiedene Antworten.

Allerdings stehen diese Antworten nicht separat neben-, sondern beeinflussen und bestimmen einander mit unterschiedlicher Intensität. Anzunehmen ist, dass gerade die Inszenierungen der Populärkultur das allgemein verbreitete Mittelalterbild nachhaltig prägen und damit einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das – mehr oder weniger reflektierte – Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft nehmen. Vorstellungen vom Mittelalter werden jeweils durch einen Dialog zwischen dem (vermeintlichen) Mittelalter und der Gegenwart hergestellt. In solchen Aushandlungsprozessen wird jedoch nicht immer die Zeitgebundenheit der eigenen Vorstellungen hinterfragt, so dass zwei gegensätzliche Pole eines Kontinuums erkennbar sind: Auf der einen Seite stehen Konstruktionen ohne wesentliches Interesse am historischen Mittelalter wie bei vielen zeitgenössischen Inszenierungen. Derartige Präsentationsformen entsprechen kaum dem historischen Mittelalter und sind eher als Aussagen über die Neuzeit zu verstehen. Auf der anderen Seite steht das Bemühen um eine Konstruktion einer Vorstellung, die eine Annäherung an das historische Mittelalter sucht, was das Anliegen der einzelnen Fachdisziplinen ist.

Das Hörbuch „Mythos Mittelalter. 10 populäre Irrtümer“ lässt sich zwischen diesen beiden Polen platzieren. Denn es geht von stereotypen, allgemein verbreiteten Annahmen über das Mittelalter aus, um dann in kurzen Beiträgen anhand von ‚Fakten’ und widerstreitender Interessen ein differenziertes Bild einer dynamischen Epoche zu entwerfen. Das Grundkonzept, an das ‚Vorwissen‘ der Hörenden anzuknüpfen und diesen dann die Möglichkeit zu geben, dieses Wissen zu erweitern, hat bereits zum Erfolg des Buches beigetragen, das diesem Hörbuch zugrunde liegt.

In den einzelnen Beiträgen wird selten der Ursprung dieser ‚Irrtümer‘ ausgemacht. Eine Ausnahme bildet die Darstellung der wirkungsmächtigen Einschätzung von Francesco Petrarca, der das Mittelalter als störende Unterbrechung, also als Zwischenalter zwischen Antike und Renaissance betrachtete. Nicht reflektiert wird auch, wie es zur Entstehung und Verbreitung dieser ‚Irrtümer‘ gekommen ist. Positiv wertende Begriffe wie „Neugier“, „Kreativität“, „Risikobereitschaft“, „Bildungshunger“, „Karrierechancen“, „Innovation“ werden wiederholt auf Menschen und Gemeinschaften des Mittelalters angewendet, während andere Aspekte negativ bewertet werden, wenn von den eingeschränkten Rechten und Möglichkeiten diskriminierter Randgruppen, vom gewissen Hang zur Grausamkeit des Gerichtswesens oder von der „Pervertierung“ der Kreuzzugsidee die Rede ist. Auch wenn mit dem Übergang von einem Beitrag zum nächsten jeweils eine eher positiv-wertschätzende mit einer eher negativ-kritischen Haltung zu den dargestellten kulturellen Phänomen wechselt, ist das Hörbuch grundsätzlich um eine neutral-wertschätzende Position bemüht. Doch der Reihe nach: Wie es der Titel bereits benennt, folgen auf eine kurze Einleitung zehn Beiträge zu verbreiteten Mittelaltervorstellungen mit einer Dauer von circa sechs bis acht Minuten. In der Einleitung werden – wie am Ende des letzten Beitrags – die (Fachbuch-)Autorin (Karin Schneider-Ferber) und der Sprecher des Hörbuchs (Martin Falk) genannt sowie das Mittelalter als Epoche zwischen den Jahren 500 und 1500 definiert. Die Relevanz des Hörbuchs wird damit begründet, dass die Rezeption dieser Epoche aus heutiger Sicht durch die Antipoden Faszination einerseits und Schrecken andererseits geprägt sei. So überrasche das Mittelalter aufgrund seiner „Fremdartigkeit“ und „Exotik“ und zöge auf diese Weise den heutigen Menschen in seinen Bann. Aufgerufen werden Stereotype wie Minnedienst, Ritterlichkeit und religiöse Inbrunst bei der Suche nach Gott, die die heutige Perspektive vom Mittelalter prägten. Die differenzierte Auseinandersetzung mit ausgewählten thematischen Bereichen soll aufzeigen, dass das Mittelalter vielfältige Bezüge zur heutigen Lebenswelt aufweise.

Im Folgenden seien zentrale Aspekte der einzelnen Beiträge vorgestellt: Dass die vermeintlich mittelalterliche Vorstellung von der Erde als Scheibe nur eine nachträgliche Zuschreibung zu dieser ‚Epoche‘ ist, ist Teil des ersten Beitrags („Irrtum 1: Das Mittelalter war finster, und die Menschen waren dumm und ungebildet“), in dem Entdeckungsfahrten von den Wikingern, des portugiesischen Prinzen Heinrichs des Seefahrers und anderer, von Universitätsgründungen und universitärer Argumentationskultur die Rede ist. Im zweiten Beitrag „Der mächtige Kaiser herrschte unumschränkt über das Abendland“ werden die Verflechtung von weltlicher und geistlicher Macht sowie entsprechende Rivalitäten herausgestellt und betont, dass der Status des Kaisers keinen realen Machtzuwachs bedeutet habe. Im folgenden Beitrag wird eine Tendenz der allgemeinen Verbesserung der Lebensumstände trotz der Implikationen der bestehenden Ständegesellschaft festgestellt, die vor allem auf die Folgen der Klimaerwärmung im Hochmittelalter und der damit einhergehenden Agrarrevolution zurückgeführt wird. Im vieren Beitrag werden die verschiedenen Schichten der Stadtbevölkerung mit ihren jeweils unterschiedlichen Rechten und Möglichkeiten im Privat-, Gemeinschafts- und Berufsleben dargestellt. Die Technikaffinität und zunehmende Mechanisierung in der Produktion wird an der Textilbranche und am Buchdruck illustriert („Irrtum 5: Das Mittelalter war wenig innovativ und technikfeindlich“). Die Einführung von Inquisitionsverfahren und deren Bedeutung für den geregelten Einsatz von Foltermethoden stehen im Zentrum des sechsten Beitrags. Im Mittelpunkt des siebenten Beitrags stehen Möglichkeiten des Ausbruchs aus konventionellen Rollenschemata für Frauen und der Überwindung ihrer rechtlichen Benachteiligung. Im Beitrag „Irrtum 8: Das Mittelalter war eine zutiefst religiöse Zeit“ werden Ursprung und Wandel christlicher Glaubenspraktiken und -vorstellungen herausgestellt. Fortgeführt wird dies im folgenden Beitrag („Irrtum 9: Kreuzzüge waren religiöse Unternehmungen“), der von der zunächst religiös intendierten Kreuzzugsidee ausgeht, um dann deren politische Funktionalisierung im Laufe der Zeit offenzulegen. Das Hörbuch schließt mit einem Beitrag über den wiederkehrenden Widerspruch zwischen einer geistlichen Enthaltsamkeit einerseits und der Wahrnehmung politischer Aufgaben und Machtausübung andererseits, die wiederholt Kritik an der monastischen Lebensführung und eine Rückbesinnung auf geistliche Ideale provozierte („Irrtum 10: In den Klöstern herrschten skandalöse Missstände“).

Welcher Gesamteindruck ergibt sich? Dieses Hörbuch ist ein reines Vorlesehörbuch, das ausschließlich die Stimme des Vorlesers und keine weitere Vertonung bietet. Die einzelnen Beiträge weisen eine angemessene Länge auf, so dass sie zugleich kurzweilig als auch informativ sind. An nur wenigen Stellen wird deutlich, dass es sich bei den einzelnen Beiträgen um Zusammenschnitte unterschiedlicher Leseaufnahmen handelt, wenn Pausen zwischen zwei Sätzen akustisch zu kurz geraten sind oder die Intonation zweier Sätze sich zu deutlich unterscheidet. Insgesamt wird der Text in einem raschen, aber meist leicht verständlichen Tempo vorgetragen. Die einzelnen Beiträge bieten sehr viel Informationen, was einerseits zu wiederholtem Hören einlädt, andererseits aber wegen des Vorlesetempos auch so gedeutet werden kann, als ob die einzelnen Beiträge wegen der gebotenen Kürze im Sinne einer Kurzweiligkeit nicht länger hätten werden dürfen. Die schnörkellose Art des Vortragens weist erfreulicherweise keinen dezidiert didaktischen Impetus auf. Die einzelnen Hörbeiträge sind unterschiedlich strukturiert und folgen verschiedenen rhetorischen Prinzipien. Zum Teil werden die Inhalte über einzelne historisch wirkungsmächtige Figuren personalisiert wie im Fall des Klosterlebens über Benedikt von Nursia, zum Teil werden die Inhalte an exemplarischen Gebieten wie der Textilbranche illustriert, oder es werden auch nur unterschiedliche Aspekte eines Themas ausgebreitet. Das Darstellen von der Übernahme und der Abgrenzung von Traditionen sowie der Entwicklung von Innovationen und Prozessen, die auf widerstreitende Positionen zurückgeführt werden, zeichnen das lebendige Bild eines dynamischen Zeitalters. Auch wenn der Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Raum liegt, wird immer wieder die europäische Dimension des mittelalterlichen Lebens deutlich. Jeder Beitrag ist in sich abgeschlossen; doch durch die Wiederaufnahme einzelner Aspekte in anderen Beiträgen ergibt sich durch das Hören des gesamten Hörbuchs ein weiter differenziertes Bild. Das Hörbuch bietet geschichtliches Grundlagenwissen. Dies wird aber nicht zum Beispiel über Zitate historischer Personen oder mittelhochdeutsche Textbeispiele veranschaulicht. Das Anliegen des Hörbuchs kann es nicht sein, wissenschaftliche Detailanalysen zu geben, so dass es nicht verwundert, dass einzelne Begriffe, Ereignisse, Datierungen und Lokalisierungen oftmals, aber nicht in jedem Fall er- beziehungsweise geklärt werden. Allerdings werden nicht alle Stereotype wie Minnedienst und Ritterlichkeit, die in der Einleitung genannt wurden, dann auch aufgearbeitet. Auch werden die anfangs postulierten Bezüge zur Gegenwart in der Regel nicht expliziert. Diesen offenen, nicht abgeschlossen Charakter des Hörbuchs könnte man als Manko werten. Doch wird dadurch zugleich auch der Eindruck des Prozesshaften der Auseinandersetzung mit dem Mittelalter erweckt, der zu einer weiteren Beschäftigung mit dieser ‚Epoche‘ einlädt. Nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch für die Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins kann dieses Hörbuch guten Gewissens nicht nur der breiten Öffentlichkeit, sondern auch jedem empfohlen werden, der ein Studium mit Mittelalter bezogenen Inhalten beginnt. Letzteres sicherlich nicht als Teil der akademischen Lehre, aber doch um die vielfältigen Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit kulturellen Phänomenen dieser lebendigen ‚Epoche‘ aufzuzeigen.

Titelbild

Karin Schneider-Ferber: Mythos Mittelalter. 10 populäre Irrtümer.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2010.
68 min, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783534601394

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