Hundert Jahre Vergesslichkeit

Im Roman „Vergossene Milch“ lässt Chico Buarque einen Hundertjährigen sein Leben erzählen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ach, die Erinnerungen! Manchmal kugeln sie einem durch den Kopf, dass man nicht mehr genau weiß, was genau worauf folgt. Erst recht bei einem Hundertjährigen, der viele Erfahrungen nicht nur einmal gemacht hat. „Ich weiss nicht, ob ich Ihnen schon erzählt habe, wie ich Matilde in der Messe für meinen Vater kennengelernt habe“, fragt er seine fiktive Zuhörerschaft. Ja, er hat, mehrfach schon. Doch es sei ihm erlaubt, denn der Vater einerseits und Matilde andererseits sind die Kernfiguren in seinem ebenso tragischen wie komischen Lebensdrama.

Der Brasilianer Chico Buarque, auch bekannt als begnadeter Sänger, Gitarrist und Komponist, lässt ein Jahrhundert brasilianische Geschichte aus ungewohnter Optik Revue passieren. Sein greiser Erzähler, der mit einem Oberschenkelhalsbruch im Spital liegt, plaudert aus seinem Leben in der Hoffnung oder Erwartung, dass jemand mithört. Außer dem Autor scheint dies niemand wirklich zu tun. Was soll’s. Durch ihn vermittelt erfahren auch die Leser und Leserinnen, wie Eulálio Montenegro d’Assumpção, geboren am 16. Juni 1907, das Gewirr seiner Erinnerungen aufzufädeln versucht. Wiederholungen und Widersprüche miteingeschlossen. Erstere betreffen vor allem die besagte Szene mit Matilde, als er erstmals seiner späteren Frau gewahr wurde. Letztere kreisen um Matildes plötzliches Verschwinden, ohne dass ihr Mann Genaues über die nähern Umstände mitteilen könnte. Bloß Gerüchte ranken sich darum. Unter Hinterlassung eines Kleinkindes war sie krank geworden oder mit einem Liebhaber durchgebrannt oder oder oder. Auch wenn er mehrfach darauf zu sprechen kommt, gleicht keine Version der andern.

Das ist das private Schicksal, das Eulálio zu tragen hatte. Wie der glückliche Hans im Märchen tauschte er zeitlebens einen Wohlstand durch einen minderen ein, bis er schließlich aus dem Zimmer in den Flur des schmuddeligen Krankenhauses verlegt wird. Warum aber unglücklich sein darob, es ließ sich immer leben, und im Flur läuft nicht ständig jener Fernseher, der nur Fußball zeigt und ihn von „seinen Sachen“ ablenkt. Eulálio ist ein wirklich schräger, schusseliger Erzähler. Chico Buarques narrativer Dreh zeitigt interessante Nebenfolgen. Eulálio ist auch ein heimlicher Chronist seines Landes und seines sozialen Standes. Daraus bezieht dieser vordergründig leichte, komische Roman seinen Zündstoff.

Eulálio Montenegro d’Assumpção ist der Spross von zwei Familien aus der alten Aristokratie Brasiliens. Immer wieder vergegenwärtigt er sich Fotografien, auf der sein Grossvater im Gefolge von Kaiser Dom Pedro II. abgebildet ist, oder sein Vater „mit Zylinder zusammen mit Ministern und Botschaftern“. Sie erinnern an Zeiten, „als die Assumpçãos im Land das Sagen hatten“. Doch das ist lange her, die Familie verlor schon im Gefolge der Weltwirtschaftskrise 1929 ihr Vermögen und damit weitgehend auch ihre politische Bedeutung. Erhalten hat sich lediglich ein ganz natürlicher elitärer Dünkel gegenüber den minderen Klassen, allen voran denen aus dem Norden und natürlich den ehemaligen Sklaven. Im Brustton seines Gutmenschentums kann sich Eulálio darüber wundern, ja sogar freuen, dass im modernen Brasilien sogar Schwarze bei der Polizei Aufnahme finden, „gestern hätte sie die Regierung nur für die Stadtreinigung angestellt“.

„Vergossene Milch“ verknüpft die private Familienerinnerung mit der öffentlichen Geschichte. Der Roman erzählt von rassistischen Dünkeln und Rankünen, von Korruption, Betrug und dem schmählichen Niedergang eines einst renommierten Geschlechts, dessen letzte Enkel mit Drogen und Huren handeln. Es ist viel passiert seit der kolonialen Blütezeit, und zugleich wenig, lässt Buarque durchblicken. Das gesellschaftliche Bewusstsein der höhern Stände, also der weissen Brasilianer, hält sich im Kern unangefochten. Buarque erweist sich als ein subtiler Chronist der vielschichtigen Geschichte seines Landes, in der er selbst im Widerstand gegen die Militärjunta (1964-1985) seine Spur hinterlassen hat. Die Erzählung seines Greises, legitimer Repräsentant des kolonialistischen Brasiliens, verwirrt und verknäult sich derart, dass am Ende die Überlegenheit der Tradition nackt da steht und sich in den eigenen Hintern beißt. Buarque schildert es mit listiger Leichtigkeit und abgründigem Witz.

Titelbild

Chico Buarque: Vergossene Milch. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
208 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100463319

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