Eine Momentaufnahme. Keine Geschichte

Die von Jan Bürger herausgegebenen Briefe zwischen Alfred Andersch und Max Frisch legen Zeugnis ab von den Höhen und Tiefen der Beziehung zwischen zwei Großen der deutschsprachigen Literatur nach 1945

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Max Frisch (1911–1991) 1965 zusammen mit seiner künftigen Ehefrau Marianne Oellers sein neues Haus im Tessiner Dörfchen Berzona bezieht – pünktlich an seinem 54. Geburtstag übrigens –, da unternimmt er diesen Schritt nicht zuletzt auf Anraten eines Mannes, den er seit 1957 näher kennt und der selbst seit sieben Jahren mit seiner zweiten Frau und zwei Kindern im Valle Onsernone lebt: Alfred Andersch (1914–1980). Andersch hatte den Kollegen bei einem Besuch Frischs in Berzona auf das Anwesen aufmerksam gemacht, das dieser schließlich 1964 kaufte und von einem ortsansässigen Architekten nach seinen Vorstellungen umbauen ließ. Fortan pflegte man ein freundschaftliches Verhältnis, traf sich zum Essen, Wandern und Bocciaspielen, politisierte und versuchte sich einzumischen in die Dinge der Welt.

Der jetzt erschienene Briefwechsel dieser im Wesentlichen doch sehr unterschiedlichen, die deutschsprachige Nachkriegsliteratur auf je eigene Weise prägenden Schriftsteller gibt einen guten Einblick in die Höhen und Tiefen einer Beziehung, die – mit Unterbrechungen – anhielt bis zum Tode von Andersch am 21. Februar 1980. Versammelt wurden von dem Marbacher Germanisten Jan Bürger 52 Dokumente, die außer den erhalten gebliebenen Briefen auch Notizen Frischs, seine Zürcher „Laudatio auf Alfred Andersch“ aus Anlass von dessen 65. Geburtstag im März 1979, den am 25. Februar 1980 im „Corriere del Ticino“ in italienischer Übersetzung erschienenen „ Nachruf auf Alfred Andersch“ sowie das Faksimile eines zugunsten von Anderschs Frau Gisela ausgestellten Schecks über 20.000 Franken, der zur Deckung von Arztrechnungen für den Freund gedacht war, von der Adressatin aber nicht eingelöst wurde, umfassen.

36 der 52 Dokumente stammen aus der Feder von Frisch und seiner Frau Marianne – eine Ansichtskarte aus New York hat Letztere allein an die Familie Andersch nach Berzona geschickt –, 12 Briefe – die meisten davon aus der Zeit vor dem Zerwürfnis zwischen den beiden Autoren Anfang der 1970er-Jahre – tragen die Unterschrift von Andersch, zwei kurze Mitteilungen nach dessen Tod hat seine Frau, die Malerin Gisela Andersch, an Frisch adressiert, und ein Dokument – das Begleitschreiben zu einem offenen Brief an den französischen Kulturminister André Malraux, der in der Basler „National-Zeitung“ vom 15.11.1960 veröffentlicht wurde – trägt die Unterschrift beider Autoren.

Das deutliche Ungleichgewicht, das den „Briefwechsel“ damit prägt, liegt nicht darin begründet, dass Frisch von den beiden Schriftstellern der „Schreibfreudigere“ gewesen wäre oder größeres Interesse an der Aufrechterhaltung der Freundschaft gehabt hätte als Andersch, auch wenn sich dessen Mitteilungen alles in allem ein wenig trocken-geschäftsmäßiger lesen als jene des Briefpartners. Stattdessen muss man wohl dem Herausgeber Jan Bürger zustimmen, wenn der in seinem informativen, den Band einleitenden Essay davon spricht, dass man es hier mit einem „Briefwechsel in der Epoche des Telefons“ zu tun habe. Außerdem war der Fußweg zwischen den beiden Anwesen in dem wenig mehr als 80 Seelen zählenden Tessiner Bergdorf in gut 10 Minuten zu bewältigen, persönliche Treffen zwischen den beiden Autoren und ihren Familien also ohne große Anstrengungen jederzeit möglich. Dass man sich dennoch über lange Zeitabschnitte hinweg mied, lag aber hauptsächlich daran, dass aus der schönen Utopie, die Alfred Andersch 1964 in einem Brief an Hans Magnus Enzensberger ironisch formulierte – man solle sich im deutschsprachigen Raum schon einmal daran gewöhnen, „dass die deutsche Literatur in Zukunft in Berzona“ stattfinde –, auf Dauer nichts wurde.

Denn bei den beiden Männern, die sich hier auf das Projekt einer Schriftsteller-Freundschaft einließen, handelte es sich – zumindest was Max Frisch betrifft, weiß man das aus zahlreichen anderen Quellen – um leicht verletzbare und dann häufig überreagierende Charaktere. So ist es vielleicht nur ein Zufall, dass die zwischenmenschliche Eiszeit, die im Winter 1971/72 einsetzte und über Jahre hinweg anhielt – erst in Max Frischs „Laudatio auf Alfred Andersch“, gehalten im Züricher Muraltengut am 9. März 1979, ein Jahr vor Anderschs Tod am 21. Februar 1980, hört man dann wieder von einer „Zweite[n] Freundschaft“ –, diesmal von Andersch ausging.

Was war passiert? Für sein „Tagebuch 1966–1971“ hatte Frisch, weil er die Beziehung zu Andersch für ein wichtiges Ingredienz seines Lebens hielt, auch ein knapp dreiseitiges Porträt von Andersch geschrieben. Außerordentlich kühl und distanziert nimmt er darin eine Bestandsaufnahme ihrer Beziehung vor. Das Wort „Freundschaft“ fällt nicht ein einziges Mal. Stattdessen ist von „Nachbarschaft“ die Rede und davon, wie „unergiebig“ sich Frisch in Gesprächen mit dem anderen vorkomme. Es ist ein typischer Frischtext – im Grunde fast mehr auf die eigenen Unzulänglichkeiten abhebend als auf die des Beschriebenen –, und doch legt ihn sein Verfasser noch vor Lektorierung und Drucklegung des Tagebuchs Andersch mit der Bitte vor, Kenntnis zu nehmen und zu entscheiden, ob er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden solle oder nicht. Wahrscheinlich hat er sogar mit der Ablehnung gerechnet, zumindest klingt das in den Begleitzeilen an. Als sie dann prompt erfolgt, ist er dennoch überrascht, hält allerdings Wort und nimmt den Abschnitt komplett aus dem Typoskript heraus.

Vor allem dass Frisch eine jahrelange „Beziehung“ in eine „Momentaufnahme“ gepresst hat, irritiert Andersch: „Bei unserer Beziehung handelt es sich um eine Geschichte. Etwas, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat. 1962–1971. Rom – Berzona […] Du hast es vorgezogen, anstatt eine Geschichte zu schreiben, eine Momentaufnahme zu knipsen. Andersch im Jahre soundsoviel an dem und dem Tag. Ich erkenne mich darauf nicht wieder. Jeder Deiner ach so höflichen Sätze enthält eine falsche Nachricht.“

Max Frisch kann nicht wissen, dass Andersch sich just in der Zeit, als sie sich über diese kleine Porträtskizze zerstreiten, um die Schweizer Staatsbürgerschaft bemüht, und er ihm also einen Bärendienst erweist, indem er formuliert: „Er schätzt die Schweiz; sie beschäftigt ihn nicht.“ Hätte er es gewusst, wäre jene Passage vielleicht noch ein wenig apodiktischer ausgefallen, denn der Schweizer, der gerade in jener Zeit eine äußerst kritische Haltung gegenüber seinem Vaterland hat, kann nicht verstehen, wie ein Mann mit der Biografie und Lebenserfahrung von Alfred Andersch das Problematische an seinem neu gewählten Vaterland einfach zu übersehen scheint.

In der Dokumentation dieses Zerwürfnisses hat der „Briefwechsel“ zwischen Alfred Andersch und Max Frisch seine stärksten Seiten. Eine ganze Reihe der restlichen Dokumente ist ziemlich unergiebig. Aus ihnen allein hätte sich die Publikation wohl schwerlich begründen lassen. Immerhin hat der Herausgeber große Sorgfalt walten lassen und dem Textkonvolut einen fast 60 Seiten umfassenden Apparat angehängt. Darin finden sich fast genauso viele Anmerkungen wie das Bändchen Seiten hat. Von Vorteil ist das Personen- und Werkregister, eine Üblichkeit, die man leider im fast gleichzeitig erschienenen Berliner Tagebuch Frischs ( Max Frisch: Aus dem Berliner Tagebuch. Herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014) – in welchem man übrigens einen Abschnitt aus dem Jahre 1972 finden kann, darin sich der Autor noch einmal mit der Tessiner Episode, nun aber wesentlich kritischer Alfred Andersch gegenüber, auseinandersetzt – schmerzlich vermisst.

Titelbild

Alfred Andersch / Max Frisch: Briefwechsel. Herausgegeben von Jan Bürger.
Diogenes Verlag, Zürich 2014.
176 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068795

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