Artist am Abgrund

Zum Tode des Schriftstellers Hermann Burger. Ein Nachruf vor 25 Jahren

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Noch stehen wir unter dem Eindruck des Todes von Thomas Bernhard, da erreicht uns die nächste schreckliche Nachricht: Der Schweizer Hermann Burger ist am 28. Februar in seinem Wohnort Brunegg im Alter von 46 Jahren gestorben. Als Todesursache wird Herzversagen angegeben. Die deutschsprachige Literatur hat einen ihrer originellsten und skurrilsten Schriftsteller verloren, eines der größten Talente der in den vierziger Jahren geborenen Generation. Er war ein sprachgewaltiger Künstler.

Ähnlich wie bei Thomas Bernhard dominierte auch in Burgers Prosa die Suada der Verzweiflung, die Eloquenz der Todesangst. Aber während dem Bernhardschen Werk eine in der deutschen Gegenwartsliteratur einzigartige Negativität zugrunde liegt, folgte Burger einem anderen Impuls: Aller Bitterkeit zum Trotz war seine Weltsicht frei von Haß und wütender Ablehnung, frei von Negativitat.

,,Brunsleben“, der erste Band seiner Tetralogie „Brenner“, der in diesen Tagen ausgeliefert wird, endet mit den Worten: „Zur Asche sollt ihr werden, denn nirgendwo steht verbrieft, der Mensch habe ein Anrecht auf ein Quentchen Glück.“ Damit hat Burger indirekt den Urgrund seines epischen Universums angedeutet: Es ist nichts, anderes als die Hoffnung des Individuums, es werde ihm gelingen, den Gegensatz von Wollen und Können zu überwinden, es ist seine Sehnsucht nach dem, was man heute Selbstverwirklichung nennt und was man früher einfach mit dem Wort „Glück“ bezeichnete.

Diese auf jeder Seite seiner Prosa spürbare Sehnsucht verrät, was Burger in Wirklichkeit war: ein Geschlagener und ein Gezeichneter, ein Gejagter und ein Getriebener, einer der letztlich unheilbaren Monomanen. „Der Schriftsteller“, schrieb er klipp und klar, „ist kein vernünftiges Wesen.“ Er meinte damit nicht nur seine Zunft, er meinte zugleich sich selbst, In der Tat: Auf ihn konnte man sich nicht verlassen, er gehörte zu den ganz und gar unsicheren Kantonisten. Aber Literatur, die zählt, schreiben immer nur jene, auf die man sich nicht verlassen kann, weil sie, anders als die Ordentlichen und die Mittelmäßigen, unberechenbar sind.

Die Figuren, die seine Bühne bevölkern, sind wie ihr Schöpfer Hermann Burger: Sorgenkinder des Lebens, wunderliche und bisweilen nicht ganz seriöse Individuen, einsame und egozentrische Existenzen. Ob sie es wollen oder nicht – diese Sonderlinge am Rande der Gesellschaft agieren stets in einem isolierten Bereich, sie sind zu einem monologischen Dasein verurteilt. Verstoßene und Zerrissene sind sie wie der Held des Romans „Schilten“ (1976) ein Lehrer, der indes seine Schüler nicht für das Leben vorbereiten will, sondern für den Tod: Nicht Heimatkunde unterrichtet er, sondern Friedhofkunde. Ob Burgers Geschöpfe die Hilfe der Medizin in Anspruch nehmen oder nicht – Patienten sind sie allemal, seine Romane und Erzählungen sind Dokumente einer Obsession. Wenn zunächst seine Prosa vom Gespenst der Abstraktion bedroht war, so vermochte er dieses Gespenst in seinen späteren Bachern, in dem Erzählungsband „Diabelli“ (1979), der ihn bekannt gemacht hat, und in seinem reichsten und kuriosesten Buch, in dem Roman „Die künstliche Mutter“ (1982), lachend in die Flucht zu schlagen. Hier zeigte sich, daß Hermann Burger ein seltener Voge1 war – nämlich ein Philologe mit Gefühl, ein Wissenschaftler mit Verve, ein Germanist mit Geschmack.

Vor allem aber: Das Artistische war sein Element. „Hätte manmich“, sagt eine seiner Figuren, ,,die Welt erschaffen lassen, ich hatte sie von Anfang an als Circus erschaffen…“ Noch am Rande des Abgrunds fungierte Burger, besessen und doch in bester Laune, als ein souveräner magister ludi. Zu beneiden war dieser Spielmeister freilich nicht. Man müßte blind und  taub sein, um nicht zu spüren, dass hier einer am Werk war, der sich nicht schonen konnte keinen Augenblick zögerte, seine ganze Existenz zu gefährden. Er gehört zuden Artisten, die aufs Ganze gehen müssen und stets nur ohne Netz arbeiten können.

Damit hat es zu tun, daß Burger in unseren Kulturbetrieb, den er keineswegs gemieden hat, nicht recht paßte: Obwohl ein promovierter und habilitierter Gemanist, der sein Brot als Dozent, Redakteur und Kritiker verdiente, blieb er ein Außenseiter des literarischen Lebens – er befremdete, ohne ein Fremdling zu sein. Vielleicht war er zu sehr mit sich selber beschäftigt, um andere Menschen wahrzunehmen. Er hat viel gelitten, aber die Leiden anderer zu erkennen, auch der ihm Nächsten, war ihm nicht gegeben. An Kafkas berühmtes Wort „Schreiben als Form des Gebetes“ anknüpfend, hat er sein Schreiben als eine Form von ,,Selbstgesprächstherapie“ definiert.

So ist denn auch nahezu jede seiner Arbeiten autobiographisch – zumal der Roman „Die künstliche Mutter“, die höchst vertrackte Geschichte eines Dozenten, dessen Leben im Zeichen einer Frau steht, aber nicht einer, die er liebt, die er vielmehr haßt: Er ist ein Muttergeschädigter, der gejagt wird wie Orest, der Sohn Klytämnestras – nur eben nicht von Erinnyen, sondern von Traumata und Komplexen. Seit Jahren von Arzt zu Arzt, von Labor zu Labor wankend, landet er, der ,,Omnipatient“ in einem (von Burger erfundenen) unterirdischen Gotthardsanatorium: Ihn, den mit der Impotenz . geschlagenen Intellektuellen, zieht es dorthin wie einst den Tannhäuer inden Venusberg.

Ähnlich wie in der ,,Künstlichen Mutter“ wimmelt es auch in dem Roman „Brunsleben“ von kulturgeschichtlichen Reminiszenzen, literarhistorischen Analogien und allerlei Verweisen und Anspielungen. Leicht machte es Burger niemandem – weder seinen Kritikern noch seinen Lesern und am allerwenigsten sich selber. Zwischen einer zuweilen schon hypertrophen Beredsamkeit und einer mitunter erschreckenden Sprachlosigkeit schwankend, artikulierte er sein Lebensgefühl.

Auf die Frage, was sein größtes Unglück sei, antwortete Burger: ,,Eine moderne Zivilisationskrankheit: die Depression“. Im letzten Brief an mich – er ist vom 10.Februar datiert – schrieb Burger: „Der depressive Zyklus hat sich trotz neuer chemotherapeutischer Erkenntnisse in den letzten Jahren so eingespielt, daß mir wie 1988 eine Schaffensperiode von ungefähr vier Monaten bleibt.“ In diesen Monaten des vergangenen Jahres hat er neben dem Roman ,,Brunsleben“ auch eine umfangreiche Abhandlung verfaßt: einen Traktat über den Selbstmord. Wir werden Hermann Burger nicht vergessen.

Anmerkung der Redaktion: Marcel Reich-Ranickis Nachruf erschien am 3. März 1989 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Wir danken Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung in literaturkritik.de.