Eigensinn und Buchkultur

Roland Reuß über den Preis des Buches und seinen Wert

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nicht ganz einfach, ein Buch unvoreingenommen zu rezensieren, in welchem man als Rezensent eine eher unheilvolle Rolle einnimmt. Nicht nur, dass man bei literaturkritik.de an dem, wie der Autor meint, tendenziell barbarisierenden Geschäft mit dem Reich des Digitalen selbst mitwirkt. Mehr noch besteht die Gefahr, dass man sich an Werbung beteiligt, die als solche bereits den Wert des Buches infrage stellt, und nicht lediglich – zulässige – Empfehlungen ausspricht. Deshalb sei vorweg klargestellt, dass der Rezensent Roland Reuß’ jüngstes Werk „Fors“ an dieser Stelle ausdrücklich nicht beworben wissen will. Dennoch ist es eine lohnenswerte Lektüre.

In Zeitungsbeiträgen, Interviews und nicht zuletzt mit seiner im Jahr 2012 gleichfalls bei Stroemfeld erschienenen Streitschrift „Ende der Hypnose“ hat sich der Heidelberger Germanist und Editionsphilologe Reuß inzwischen einen Namen gemacht als Streiter gegen einen Ausverkauf der Buchkultur unter den Vorzeichen der Digitalisierung. Auf die nostalgischen und kulturkonservativen Affekte vieler seiner Leser kann er sich dabei verlassen – auch wenn sie ihm nicht immer mit ganzer Entschlossenheit folgen mögen. Und auch der Rezensent muss gestehen, dass ihm ein gutes Buch, gut gedruckt und gut gebunden, von Wert ist. „Fors“ setzt diese Debatten, die getroffenen Entscheidungen und empfundenen Werthaltungen im Grunde schon voraus. Dass billig gedruckte und gebundene Bücher, dass elektronische Bücher überhaupt im Vergleich zu gedruckten und dass die Verlagerung des Buchhandels ins Internet verfallstheoretisch zu begreifende Entwicklungen sind, das ist hier nicht mehr eigens zu begründen. Im Zentrum steht vielmehr die Frage, was den besonderen inneren Wert des (gedruckten) Buches – im Unterschied zu seinem Preis – eigentlich ausmacht.

Wenn Wolfgang Kemp im Klappentext des Bandes mit den Worten zitiert wird, herumpolemisieren könne jeder, so trifft dies uneingeschränkt auch auf Roland Reuß zu. Seine passim anzutreffenden Spitzen gegen gegenwärtige Zustände in der Bücherwelt und den Wissenschaften sind ungerecht und pauschalisierend, und sie gefallen sich darin. Wer etwa das geltende Urheberrecht oder auch die deutsche Buchpreisbindung nicht für der Weisheit letzten Schluss halten sollte; wer von gedruckten auf elektronische Bücher umsteigt oder gar erstere zugunsten letzterer ganz aus seinen vier Wänden verbannt; wer Open Access für keine ganz schlechte Sache hält; wer überhaupt so etwas wie Kompromissbereitschaft gegenüber diesem digitalen Zeitalter zeigt und sich auf die gründlich verdorbene Kultur von Amazon, Google, Apple und so weiter einlässt – der muss nicht mit Reuß’ Wertschätzung rechnen. Wer umgekehrt solcherart Ressentiments nicht ertragen kann, sollte das Buch vielleicht lieber nicht lesen. Dennoch scheint es angeraten, sich von den angesprochenen Ausfällen des Autors nicht völlig abschrecken zu lassen. Man würde sonst, auch im Guten, einiges verpassen.

„Fors“ führt Reuß’ „Ende der Hypnose“ in der Auseinandersetzung mit dem britischen Schriftsteller und Kunsthistoriker John Ruskin (1819-1900) fort. Dieser – neben William Morris, Ezra Pound und William Shakespeare – steht im Mittelpunkt der Überlegungen zum Wert des Buches, und zwar mit seinen ab 1871 unter dem Titel „Fors Clavigera“ in monatlicher Folge gedruckten und veröffentlichten Briefen. Bis zu einem ersten psychischen Zusammenbruch im Frühjahr 1878 publizierte Ruskin insgesamt 87 dieser den „Workmen and Labourers of Great Britain“ gewidmeten Schriften. Weitere neun sollten, von weiteren Zusammenbrüchen gehemmt, bis 1884 folgen – mit dem bewusst dunklen Titel, Ruskins Hauptwerk.

Reuß stellt seinen Lesern nicht nur verschiedene Interpretationsansätze den Titel betreffend vor, sondern macht sie überhaupt mit Entstehungsweise und Schreibbewegung von „Fors Clavigera“ bekannt, und mit dem darin gebundenen Zorn Ruskins. Darüber hinaus aber leitet Ruskin Reuß’ eigenen Versuch an, das Bestehende unserer Gegenwart auf seinen guten Sinn hin zu befragen, um das Neue, das sich scheinbar gegen dieses Bestehende richtet, wiederum daran zu messen. Ob das Ergebnis dieser Abwägung nicht bereits von vornherein feststeht, daran darf man als Leser seine Zweifel haben, aber man würde es sich doch zu leicht machen, Reuß’ Kritik an der sich digitalisierenden Gegenwart als bloße Borniertheit zu entlarven. Denn die Absicht, sich – auch in Anlehnung an Ruskin – aus der eigenen Verwicklung mit der Gegenwart zu befreien (sich aus ihrer Propaganda zu lösen, wie Reuß meinen würde) und diese mit ihrer Buchkultur nüchtern und sachlich zu betrachten, das ist ohne Zweifel berechtigt. Und ebenso: Sodann aufs Neue zu verstehen, mit welchen Gründen das (gedruckte) Buch einen besonderen Wert darstellt, den es zu erhalten gelte und politisch zu schützen. Dass dieser Ansatz dann jedoch zu einem negativen Urteil führen könnte und etwa die Wege der Vergangenheit für die Zukunft nicht die geeigneten sein könnten, das scheint bei Reuß nicht vorgesehen zu sein.

Wo „Fors Clavigera“ Ruskin zu einer Reflexion sozialer und ökonomischer Verhältnisse diente, die ihn wiederum zur Entwicklung einer Theorie vom Wert menschlicher Arbeit führte, wird das Werk von Reuß in seiner Diskussion über den Preis des Buches und seinen Wert aufgenommen. Er stellt seinen Lesern „Fors Clavigera“ als erstes Werk der Weltliteratur vor, für das der Autor in Zusammenarbeit mit seinem Verleger einen gebundenen Verkaufspreis (gegenüber dem Endkunden) durchgesetzt habe. Sehr zur Irritation des zeitgenössischen Publikums und allen voran des Buchhandels. Der zugrunde liegende Gedanke: Ein Buch sei keine Handelsware, deren Preis sich in einem marktförmigen Spiel von Angebot und Nachfrage zu bilden habe, sondern es habe einen „inneren Wert“, der nicht relativierbar sei und sich in einem angemessenen Preis niederzuschlagen habe. Denn das Buch sei seinerseits ein dauerhafter Zeuge für selbständige menschliche Arbeit und die in ihr enthaltene Sinn- und Werterfahrung des Menschen. Damit steht es insbesondere im Gegensatz zu den entfremdeten und versachlichten Arbeitsprozessen der Moderne; Reuß pflegt an diesem Punkt mit Ruskin die Tradition der Kapitalismuskritik des 19. Jahrhunderts und das Lob guter handwerklicher Arbeit. Das Buch steht insofern nur repräsentativ für jedes aus künstlerischer oder handwerklicher Tätigkeit hervorgehende Produkt.

Es ist nun aber hinzuzusetzen, dass „Fors“ unverkennbar mit großer Lust an der Idiosynkrasie geschrieben wurde. Ja, der Eigensinn und das Widerstreben angesichts einer möglichen, zu kurz greifenden Vereinnahmung durch den Leser (oder gar gegen den Leser überhaupt?), ist Reuß’ Buch in enger Anlehnung an Ruskin programmatisch eingeschrieben. Das mag sich zum einen in dem von Reuß selbst besorgten Satz des Buches mit verschiedenen Typen, Mondsichel-Fußnoten und der penetranten Kennzeichnung erwähnter Trademarks dokumentieren. Aber das widerspenstige Moment entspricht auch der wiederholten Polemik gegen eine Einebnung von Verständnisdifferenzen im Sinne der Vorstellung, man müsse seinen potentiellen Leser irgendwo „abholen“. Nein, man hat sie zu befremden! Und daran, so scheint es geraten, sollte sich der Leser seinerseits erfreuen, zumal die Reuß’sche Idiosynkrasie dann immerhin für die ansonsten zu bedauernde Abwesenheit von Ironie zu entschädigen vermag. „Fors“ praktiziert entschiedene Dialogverweigerung. In keinem Moment zeigt das Buch das leiseste Interesse daran, sich mit den angeprangerten Verfallsstrukturen der Gegenwart anzufreunden. Die damit verbundene Selbstzufriedenheit kann man als fragwürdig empfinden oder wahlweise beneiden, aber sie ist nicht hintergehbar. Wem sie freilich nicht zugänglich ist, dem bleibt sie auch nach der Lektüre unzugänglich. Proselyten werden nicht gemacht.

Mancher Leser mag daher verwirrt zurückbleiben. Was ist denn nun etwa gegen Entfremdung und Entseelung im durchkapitalisierten und durchdigitalisierten Buchmarkt zu tun? Mit Ebook-Boykott, Buchpreisbindung und einer Sondergesetzgebung gegen Internet-Versandbuchhändler kann es doch wohl nicht getan sein. Ja, es scheint nach der Lektüre eher noch zweifelhafter, ob es überhaupt geeignete Mittel geben könnte, um den Verlust einer intrinsischen Werterfahrung gegenüber Büchern oder anderen künstlerisch-handwerklich geschaffenen Dingen zu kompensieren. Es kann daher auch keineswegs überzeugen, dass etwa die Buchpreisbindung diesem Zweck dienen könnte, obwohl Reuß sie vehement verteidigt. Wo er einerseits mit ganzem Willen zu einer idiosynkratischen Teilnahmeverweigerung auftritt, da nimmt es sich andererseits doch merkwürdig aus, wenn er konkrete Maßnahmen der politischen Gemeinschaft (Buchpreisbindung) verteidigt. Seine Invektiven können dem Ziel der Rechtfertigung dieser Maßnahmen, ihren Sinn zu aktualisieren, nicht nur nicht dienen, sondern sie neigen eher noch dazu, sie zu unterlaufen. In besonders absurder Weise wird dies deutlich, wenn Reuß zur Verteidigung der Würde des Buches wider ihre betriebswirtschaftlich betriebene Ausbeutung Kants Unterscheidung aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zitiert: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde.“ – Aber bedeutet das nicht, dass ein Buch, mit oder ohne Preisbindung, eine Würde gerade nicht haben kann? – Und ist es nicht eher die Reuß-Ruskin’sche Perspektive auf das Buch, die es seines inneren Wertes entkleidet und zu eigenen Zwecken instrumentalisiert, denn eine diesem inneren Wert gegenüber ganz unempfindliche kapitalistische Versachlichung?

Es fällt schwer, die Schärfe recht ernst zu nehmen, mit der Reuß eine Strategie der Nicht-Kooperation im digitalen Zeitalter einfordert: Wo Ruskin einst als erster Professor für Kunstgeschichte über Gletscher, Steine und Blätter vortrug, da stellt Reuß nun fest, dass ein Widerstand gegen die Widrigkeiten des Internets von innen heraus – im Sinne einer Subversion – nicht möglich sei. Sich von Google, Microsoft, Apple, Facebook, Twitter abzuwenden, das sei zwar ein notwendiger erster Schritt, aber es genüge nicht. Und vollends zur „Pflicht“ werde die Nicht-Kooperation im Kampf gegen die Monopolbildungsabsichten von Unternehmen wie Amazon. Wie soll man dieses harsche – ein Wort von Reuß über Ruskin – Entweder-Oder also aufnehmen? Nähme man Reuß beim Wort, könnte man getrost das von ihm postulierte Gebot der Nicht-Kooperation auch auf seine eigenen Idiosynkrasien anwenden. Dem Vorwurf eines nützlichen Idiotentums dürfte man auf diese Weise aber auch nicht entgehen.

Titelbild

Roland Reuß: Fors. Der Preis des Buches und sein Wert.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2013.
304 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783866001626

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