Ein Schicksal, zwei Mütter und eine Tochter

Zu Eleonora Hummels Roman „In guten Händen, in einem schönen Land“

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Waren die zwei ersten Romane von Eleonora Hummel – „Die Fische von Berlin“ und „Die Venus im Fenster“ – stark autobiografisch geprägt, so widmet sich die Autorin in ihrem jüngsten, im Steidl-Verlag erschienenen Roman dezidiert dem Schicksal zweier Frauen in sowjetischen Arbeitslagern. Gesteigert wird dieses Thema durch das Motiv des verlorenen Kindes: Hatte zuerst das System Olessia Lepanto die Tochter weggenommen und ins Heim gesteckt, so war es später die ehemalige Mitgefangene und Freundin, die das Mädchen der Mutter entfremdete.

Viktoria M. lebt in einem Heim in einer entlegenen Siedlung und kann aus dem Fenster nur Gleise im Schnee sehen. Dort soll sie und viele andere Kinder „zu guten Sowjetbürgern erzogen [werden], weil unsere Eltern uns kein Vorbild sind.“ Alle zwei, drei Jahre wird Viktoria von einem Heim ins andere geschickt, ihr Name wurde geändert, ihr Aufenthaltsort wird der Mutter verheimlicht. „In einem schönen Land“ herrscht das Gebot „Vergiss, wer du bist, vergiss, wo du herkommst, wir helfen dir dabei, ein neuer Mensch zu werden. […] Wir formen aus dir einen zukunftstauglichen Menschen, einen guten Bürger für dieses Land.“ Dabei hat „dieses Land“ das Kind der Mutter weggenommen und sie für den angeblichen Verstoß gegen die Gesetze jahrzehntelang als kostenlose Arbeitskraft für Schwerstarbeit in Lagern missbraucht.

Olessia Lepanto bekam ihre Tochter im Lager, weil sie sich all der Grausamkeit und Brutalität entgegensetzen wollte. Sie wurde für Spionage zugunsten ausländischer Geheimdienste angeklagt, dabei hatte sie nur einen fremdklingenden Namen und konnte Fremdsprachen – als Kind hatte sie englische und französische Gouvernanten. Sie wurde in eine aristokratischen Familie geboren, ihr Vater war Diplomat im Dienste des Zaren und sie wollte Schauspielerin werden. Die Revolution 1917 zwang ihre Eltern, die Villa in Petersburg zu verlassen und auf die Krim zu fliehen. Dieses Schicksal teilte auch die Familie Vladimir Nabokovs („Speak, Memory“). Die Flucht ihrer Familie vor dem Roten Terror thematisierte auch Alja Rachmanowa bereits 1931 in ihrem Tagebuchroman „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod.“ Anders als diese Autoren fokussiert Eleonora Hummel ihre Geschichte auf das Schicksal jener, die dem System nicht entkommen konnten. Die Turbinen diese Systems zermalmten und zerfleischten, als hätte Dante mit dem Satz „Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren!“ die stalinistischen Lager vor Augen gehabt.

Die Willkür des Systems war grenzenlos. Unter seine Räder kam auch Nina Belikowa, nur weil ihr Mann sie mit einer kurzen „peinlichen Befragung durch die Organe“ einschüchtern wollte. „Geläutert und lammfromm“ sollte seine Frau zu ihm nach Hause zurückkehren, aber das Ganze wurde zum Selbstläufer und Nina landete für zehn Jahre in Sibirien. Kurz nach ihrer Verhaftung erfährt sie vom Tod ihrer kleinen Tochter.

Der Alltag der Gefangenen, ihre schwere Arbeitsbedingungen und große Verzweiflung stehen zwar nicht im Mittelpunkt des Buches, jedoch gelingt der Autorin eine sehr plastische Schilderung der Zustände, denen die „Volksfeinde“ ausgesetzt wurden. Kurz vor ihrer Befreiung wird Nina von einer Mitgefangenen, Olessia Lepanto, gebeten, ihre ihr weggenommene Tochter zu suchen. Diese Bitte wird sinnstiftend für Nina, die keine Mühe und kein Geld scheut, um das fremde Kind zu finden. Schließlich wird Viktoria der Mutter von Nina zum zweiten Mal weggenommen. Das weggenommen beziehungsweise weggegebene Kind (Andreï Makine:„Le Testament français”) wird zum Sinnbild von Dantes Hoffnungen, die die Häftlinge in sibirischen Arbeitslagern fahren lassen mussten. Eleonnora Hummel schildert die Tragik dieser Geschichte ohne Pathos und unnötiges Psychologisieren. Die Ereignisse nehmen ihren Verlauf und werden konstatiert, das Leben geht weiter und gibt auch Olessia und ihrer Tochter eine Chance.

Den drei Frauengeschichten scheint jeweils eine andere stilistische und erzählerische Perspektive zugrunde zu liegen: Die Geschichte von Olessia ist die längste und vollständigste, die Sprache ist eloquent, durchsetzt von Zitaten – Dante, Puschkin, Achmatowa –, wogegen Ninas Schicksal nur fragmentarisch, in kurzen Sätzen und in einfacher Sprache erzählt wird. Dass in Viktorias Geschichte Gedanken, Reflektionen und seelische Erlebnisse dominieren, dass die Sprache dieser Passagen von indoktrinierten Parolen bis zur philosophischen Tiefe schwankt, illustriert die Entwurzelung und eine permanente innerliche Zerrissenheit dieser Protagonistin. Mit wenigen Kunstgriffen gelingt der Autorin ein realistischer, ja dokumentarischer Epos von drei starken und lebenswilligen Frauen. Es ist ein trauriges, jedoch hoffnungsvolles Buch, wie es das Leben selbst diktierte.

Titelbild

Eleonora Hummel: In guten Händen, in einem schönen Land.
Steidl Verlag, Göttingen 2013.
362 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783869306629

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