Ein Meisterwerk des absichtslosen Erzählens

Georg Klein parodiert in „Die Zukunft des Mars“ das Genre Science-Fiction

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Nichtleser und Nichtkenner des Genres der Science-Fiction-Literatur entgeht dem Rezensenten wahrscheinlich manche Delikatesse dieser mutmaßlichen Parodie des Genres, doch kann nach überaus angenehmer Lektüre berichtet werden, dass Georg Klein mit „Die Zukunft des Mars“ ein wunderbares, bestens unterhaltendes Buch geschrieben hat. Er erweist sich damit nach dem Agentenroman „Libidissi“ und dem Detektivroman „Barbar Rosa“ wiederum als der Autor, der einen Metaroman über Genreliteratur schreiben kann, ohne dass es langweilig oder gar unleserlich verkopft wäre. Hier ist Lesen noch ein echt intelligentes Vergnügen.

Es beginnt mit den Schreibnächten eines Marsbewohners, der sich heimlich das Lesen und Schreiben angeeignet hat, was ihm nur möglich war, weil er eine „Nothelferstelle“ antreten konnte und dort in die Obhut Smosmos kam, der überraschenderweise als Barmherzige Schwester quasi der Chef der Nothelfer geworden war. Dank dieses „Heimlichtuers“ erfahren wir einiges über das Leben auf dem Mars, der durch Kolonisten der Erde vor langer Zeit besiedelt worden war. Durch ein nicht näher bezeichnetes Ereignis muss es jedoch irgendwann einmal eine Unterbrechung in der Beziehung zur Erde gegeben haben. Denn wenn nun jemand von der Erde kommt, ist er auf dem Mars nicht lebensfähig. Entscheidend ist, dass die jetzigen Marsbewohner Analphabeten sind und die 56 heiligen Bücher, aus denen der Heimlichtuer sein Wissen über die Erde bekommt, lediglich verehren, aber nicht verstehen. Der Heimlichtuer will aber verstehen und er tritt in einen imaginierten Dialog mit den Erdbewohnern, denen er die Marsgesellschaft erklären will, also uns Lesewilligen. Aber immer wieder trifft er auf für ihn Unverständliches bei seiner Lektüre, wie zum Beispiel Geld. „Ich verstehe nicht, was Geld ist. Erneut habe ich darüber nachgegrübelt, aber ich begreife sein Wesen nicht, obwohl sich in den Heiligen Büchern reichlich Beispiele für seinen Gebrauch finden.“ Auf wunderbar verdrehte, aber durchaus logische Weise versucht der Heimlichtuer hinter das Geheimnis des Geldes zu kommen: „Geld ist offenbar in besonderer Weise beweglich, wie auf vielen emsigen Füßchen unaufhörlich vorwärtsstrebend. Obwohl Ihr Euch diese tippelige Zukunftsflucht auf mannigfaltige Weise zunutze macht, seid Ihr zugleich auf sorgend ängstliche Weise um den Bestand des Geldes, fast um seinen Stillstand bemüht. Auf widersprüchlich sinnige Weise scheint es Schwundgeld und Bleibgeld in einem zu sein.“ Wann hat man solch unbekümmert kluges Fabulieren zuletzt gelesen? Der Heimlichtuer führt aufs Schönste vor, wozu unabhängiges Denken in der Lage ist. Nach knapp hundert Seiten und acht Schreibnächten muss man sich jedoch schon vom Heimlichtuer (vorerst) verabschieden, nicht ohne Vorstellungen vom Marsleben und seinen totalitären Gebräuchen entwickeln zu können.

Der zweite Teil, „Zum Mars“ überschrieben, spielt auf der Erde in einer vielleicht gar nicht allzu fernen Zeit, erzählt im eindeutigen Ton des Erfundenen. Die Russischlehrerin Elussa ist aus der chinesischen Provinz Sibirien ins Freigebiet Germania gekommen und gibt einem alten Mann, der ein „Elektronisches Hospital“, eine Art Reparaturladen betreibt, Russischunterricht. Sie ist sich aber nicht sicher, ob Spirthoffer, der Betreiber des Ladens, nicht eigentlich etwas anderes will. In diesem Teil dampft und raucht es an allen Ecken und Enden, hier gibt es Intrigen und Agenten, dass es eine für den Leser erfreuliche Bewandtnis hat. Mit Spannung verfolgt man die Volten der Handlung, die nicht immer zufriedenstellend aufgeklärt werden, was man sich geradezu dankbar erliest. Zeitweise erinnert die Sprache, die Klein für lange Passagen wählt, an den nüchternen Ton des Reportierens, den Peter Weiss in seiner „Ästhetik des Widerstands“ mit ganz eigenem Pathos kultiviert hat. Auch in diesem Detail erweist sich Georg Klein als der große Ironiker der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Der dritte Teil des Romans, dem das schöne Zitat von Friedrich Nietzsche aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ vorangestellt ist, „Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein“, spielt wieder auf dem Mars, nun jedoch aus der Perspektive von Alide, der Tochter von Elussa, die ganz offensichtlich im Stil von Raumschiff Enterprise von Spirthoffer auf den Mars gebeamt worden sein muss. „Die fremde, kühle Luft schmeckt süß. Aber die süße, fremde Luft tut auch ein bisschen weh. Also versucht Alide ganz sacht, nicht mehr über die Lippen, sondern bloß noch durch die Nasenlöcher in die Tiefe ihres Körpers hineinzuschnaufen. Es hilft sofort. Das Zwicken in der Brust lässt nach.“ Fast überflüssig ist es zu sagen, dass natürlich auch noch Elussa auf dem Mars ankommt und dass der Heimlichtuer mit den Abkömmlingen der Erde zusammentrifft. Was wäre das auch für eine Geschichte, die nicht die Zufälle und Irrtümer von Begegnungen und Geschehnissen erzählerisch ausschlachten würde. Georg Klein lässt sich solche Gelegenheiten nicht entgehen, zum Glück für die Leser seines herrlich absichtslosen Romans, der mit dem vierten Kapitel endet, das so heißt wie der ganze Roman, „Die Zukunft des Mars“. Da kommt es zum literarischen Showdown, der schnurstracks mit diesem Ende an den Anfang führt: „Alidchen schweigt. Aber schon zuckt ihr Mund, als liege das Nächste, was gesagt sein will, bereits auf ihrer Zungenspitze. Ich kann es kaum erwarten. Du kannst es kaum erwarten. Also, Alidchen: Komm schon. Spann uns nicht auf die Folter. Sprich!“

Es wäre kein Fehler, dieser Aufforderung zu folgen und den Roman noch einmal von vorne zu beginnen, denn beim zweiten Lesen wird dieser große und großartige Roman von Georg Klein ein ganz neuer Roman, den wir mit nicht weniger Vergnügen durchpflügen können als beim ersten Lesen.

Das liegt nicht zuletzt auch daran, weil Georg Klein ein Meister des absichtslosen Erzählens ist, der ohne Teleologie auskommt und der sich um die Wirklichkeit so wenig wie möglich schert. Gerade deshalb erfahren wir über das Leben an und für sich eine ganze Menge.

Nicht nur der Roman verdient jedes Lob und jede Empfehlung, sondern auch der Rowohltverlag, der mit der Typografie und der Einbandgestaltung von Lisa Neuhalfen eine perfekt zum Inhalt passende Form gefunden hat, wodurch dieses schöne Buch zu einem Gesamtkunstwerk geworden ist.

Titelbild

Georg Klein: Die Zukunft des Mars.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2013.
377 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498035341

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