Aus einem fremden Land

Günter Grass und Peter Rühmkorf lesen Gedichte des Barock

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie wäre es, wenn wir einen Abend lang Lyrik aus einem Land hörten, in dem religiöser Fanatismus und Machtgeilheit herrschen, das von Krieg und Seuchen verwüstet ist, und auf dessen Zukunft niemand mehr einen Pfifferling wettet? Nein, die Rede ist nicht von Syrien oder Afghanistan, sondern von unserer eigenen Vergangenheit – dem Deutschland des Dreißigjährigen Krieges. Literaturgeschichtlich nennt man diese Zeit Barock. Das lässt an üppig ausgestattete Kirchen, prachtvolle Residenzen und die Kunst der Fuge denken, was aber erst später geschah. Die Autoren, von denen hier die Rede ist, mussten oft genug aus ihrer Heimat fliehen, dienten gegen ihren Willen in Landsknechtheeren oder starben an der Pest. Leider begegnet man ihnen meist nur noch in Literaturgeschichten oder den Einführungsveranstaltungen des Germanistikstudiums, da man an einem barocken Sonett vorzüglich erklären kann, wie diese Gedichtart funktioniert. Damit hat es sich in der Regel auch schon. Dabei war die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts eine echte Blütezeit der deutschen Literatur, was aber lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen wurde. Denn sie war so ganz anders als die vermeintlich absoluten Gipfel von Weimar oder der „staufischen“ Klassik.

Wenn Günter Grass und Peter Rühmkorf im vorliegenden Hörbuch Gedichte dieser Epoche lesen, gehen zwei Kenner der Materie zu Werk. Schon Oskar Matzerath, Hauptfigur der „Blechtrommel“, ist ein später Nachfahre von Simplicius Simplicissimus, der als Titelfigur in Jakob Christoffel von Grimmelshausens monumentalem Roman von 1669 den Krieg aus der Perspektive des naiven Außenseiters schildert; nicht zu vergessen auch „Das Treffen von Telgte“ (1979), eine meisterhafte Erzählung vom Ende des Dreißigjährigen Krieges, in der Grass die Dichter der Zeit höchstpersönlich auftreten lässt. Dass der 2008 verstorbene Peter Rühmkorf ebenfalls ein Kenner des literarischen Barock war, mag weniger bekannt sein; aber als einer der großen Lyriker der alten BRD war er in der Geschichte der Gattung zuhause wie wenige andere. Und, nein, Rühmkorf liest nicht aus dem Jenseits. „Komm, Trost der Nacht“ ist der Mitschnitt einer Lesung aus dem NDR-Funkhaus Hannover von 1998, aufgenommen zum 350. Jahrestag des Westfälischen Friedens, mit dem der Krieg in Münster und Osnabrück offiziell beendet wurde. Schon vor zehn Jahren hatte der Hörverlag diese Aufnahmen auf CD veröffentlicht, nun erscheinen sie, weil längst vergriffen, bei Steidl neu aufgelegt.Und, ja, wer sich freudig oder entsetzt im Studium mit den Klassikern der Barocklyrik auseinandersetzten muss, wird ihnen hier wiederbegegnen, sei es Martin Opitz’ „Ach Liebste, lass uns eilen…“ oder Andreas Gryphius’ „Threnen des Vaterlandes“, sicher eines der beliebtesten Klausur-Sonette der deutschen Uni-Germanistik. Manchmal kommt man sich als Hörer denn auch vor wie in der Deutschstunde, wenn Grass und Rühmkorf dem Publikum Lebensdaten und Biografie „ihrer“ Autoren referieren oder sich in ein, zwei sinnfreien Seitenhieben zur Rechtschreibreform ergehen, die anno 98 die Gemüter kochen ließ. Aber das hier ist viel mehr: Am stärksten sind die beiden Vorleser, wenn sie die germanistischen Evergreens beiseitelassen und Unerwartetes vortragen: Opitz’ Beschreibung der Pest im schlesischen Bunzlau, Friedrich von Logau, der einen vierbeinigen „Kriegs-Hund“ von sich selbst sprechen lässt und damit ganz nebenbei bitterböse Kritik am Adel betreibt, oder Grimmelshausens wunderschönes „Komm Trost der Nacht, o Nachtigall“, tief religiös und gleichzeitig eine Feier der Lyrik überhaupt. Hörenswert auch ein Gedicht des Erfurters Kaspar Stieler:

Wer will, kann ein gekröntes Buch
Von schwarzen Kriegeszeiten schreiben;
Ich will auf Venus Angesuch
Ihr süsses Liebeshandwerk treiben.
Ich brenne. Wer nicht brennen kann,
fang’ ein berühmter Wesen an.

In dem Puzzle, zu dem sich die Gedichte fügen, wird ein Land hörbar, das sehr fremd ist – so präsent sind Krieg und Gefahr, dass in „Nun ruhen alle Wälder“, Paul Gerhardts bekanntem Kirchenlied „die güldnen Waffen“ ums Bett gestellt werden müssen, damit an einen ruhigen Schlaf erst zu denken ist. Und gleichzeitig feiern Texte wie Paul Flemings „Wie Er wolle geküsset seyn“ oder Georg Greflingers „Als Flora eyferte“ die Liebe als etwas, was sich der Düsternis ihrer Zeit entgegensetzen lässt. Diese Lyrik steht im Schatten der klassisch-romantischen Tradition, die über viele Generationen den deutschen Schulunterricht prägte; dementsprechend verlangt der Sound der barocken Lyrik ein wenig Geduld, bis man sich an ihn gewöhnt hat. Aber es ist ein Schatz, der hier zu hören ist – einer, der nichts zu tun hat mit den üblichen Klischees vom barocken „Schwulst“. Trotz aller Fremdheit wird in diesen fast vierhundert Jahre alten Gedichten ein Zauber hörbar, den wohl nur die wenigsten dieser fernen Lyrik zugetraut hätten.

Titelbild

Günter Grass / Peter Rühmkorf: Komm, Trost der Nacht. Günter Grass und Peter Rühmkorf lesen Barocklyrik.
Steidl Verlag, Göttingen 2013.
1 CD, 68 min, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783869306155

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