Bruchstücke einer Konfession:

Büchners Werke und Briefe in der neuen Reclam-Ausgabe

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bücher über Büchner und kein Ende. Auch im Doppelgedenkjahr 2012/2013 hat es nicht an Publikationen über diesen unklassischen Klassiker, entlaufenen Romantiker und Modernisten avant la lettre gefehlt. Um nur einige der bekanntesten und besten zu nennen: Der Mainzer Germanist Hermann Kurzke hat in seiner stattlichen Biografie die These vom religiösen Bürger Büchner in Umlauf gebracht. Jan-Christoph Hauschild hat, neben seinem Büchner-Buch „Verschwörung für die Gleichheit“, auch „Georg Büchners Frauen“ observiert, die realen und die Geschöpfe der Fantasie. Und wie steht es um die Edition des Autors? Ariane Martin, ausgewiesene Büchner-Forscherin, hat in der renommierten Reihe der gediegen eingebundenen und trotzdem erschwinglichen Reclam-Ausgaben einen Band mit Büchners „Sämtlichen Werken und Briefen“ herausgegeben. Warum sollte man diesen Band, wenn es doch so viele andere prächtige Ausgaben gibt, konsultieren?

Einer meiner früheren Professoren hat die Studierenden manchmal etwas verunsichert, wenn er sagte: „Trau niemals Gedrucktem“. Für wen sollte diese editionskritische Warnung eher gelten als für Georg Büchner? Es kann ja gar nicht die Rede sein von einem Werk aus einem Guss, glockenrund zu Lebzeiten und wohlklingend durch fast zwei Jahrhunderte, die uns von ihm trennen, gerettet. Die Überlieferungslage ist ein Trümmerfeld. Handschriften fehlen, sind verbrannt oder verschollen, nicht vollständig lesbar oder in der Zuordnung der Teile unklar, die Erstdrucke sind unzuverlässig, im Textbestand reduziert oder zensiert. Und wenn eines der Werke, das Revolutionsdrama „Danton’s Tod“, auch glücklicherweise nicht als Fragment zu uns gekommen ist, weil es – eine große Ausnahme in der Büchner-Überlieferung – tatsächlich eine Handschrift gibt (faksimiliert in Band 3.1 der „Marburger Ausgabe“), so existiert doch von den anderen literarischen Werken keine einzige Textfassung, die den Charakter des Ganzen und Fertiggemachten trüge. Büchners literarische Werke sind Fragmente, konzeptionell oder intendiert.

Aus dieser Überlieferungsnot macht Ariane Martin die Tugend einer kritischen Leseausgabe. Sie bietet die fiktionalen Werke, das 1835 als Zeitschriftendruck und Buchausgabe veröffentlichte Drama „Danton’s Tod“, das Lustspiel „Leonce und Lena“ (Journaldruck 1838), die Novelle „Lenz“ (erstpubliziert 1839) und die Arbeitertragödie „Woyzeck“ (postum 1879 erschienen) sowie das politische Manifest „Der Hessische Landbote“ (Juli 1834) auf der Textgrundlage bestehender Editionen. Das sind, bis auf die Edition von „Lenz“, die dem Erstdruck folgt, allesamt die bewährten Reclam-Studienausgaben. Auch die nicht zeitlich, sondern nach Adressaten geordneten Briefe – von 70 überlieferten Texten sind lediglich 13 Handschriften erhalten – folgen einer RUB-Ausgabe von Ariana Martin aus dem Jahr 2011. Hinzu kommen die Texte aus der Schulzeit, ein paar Albumblätter und die Zürcher Probevorlesung.

Was diese Ausgabe von anderen unterscheidet und oft gewinnbringend abhebt, ist zunächst die bei aller Leserfreundlichkeit weder auf Werkganzheit noch auf sture Buchstabenphilologie schielende Darbietung der Texte. Der „Woyzeck“ liest sich hier als eine Emendierung der vier Handschriftenentwürfe, die man durchaus sinnvoll entstehungschronologisch studieren kann. Die Kommentare sind wohltuend knapp eingeleitet, skizzieren souverän die komplexe Überlieferungslage und liefern Grundinformationen zu Einflüssen, Quellen und zur zeitgenössischen Rezeption. Ein nützliches Buch also und eine profunde Büchner-Edition, der Leser und Forscher gleichermaßen gut trauen können.

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Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe.
Herausgegeben von Ariane Martin.
Reclam Verlag, Stuttgart 2012.
821 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783150108208

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