Es hätte viel schlimmer kommen können

„Liebes Leben“: die letzten Erzählungen der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der mit Spannung erwartete Erzählungsband von Alice Munro,  die im vergangenen Jahr den Nobelpreis erhielt, liegt nun seit Dezember 2013 vor. Der S. Fischer Verlag hat sich bemüht, ein schön gestaltetes Buch auf den Markt zu bringen, angenehm luftig gesetzt, ausgestattet mit Lesebändchen. Die vierzehn Erzählungen der Kanadierin haben die gewohnte Qualität, von einem Nachlassen der schöpferischen Kräfte in hohem Alter ist nichts zu spüren. Wer allerdings dem Klappentext glauben möchte, dass der Band „mit einem furiosen Finale“ endet, wird enttäuscht. Die letzten vier Geschichten, von denen es heißt, dass Munro endlich in ihnen „so persönlich wie nie von sich selbst erzählt“, gehören zu den schwächsten. Man kann hier den Eindruck haben, Munro hätte auf das Leben anderer schärfer geblickt als auf das eigene. Besonders die titelgebende Story „Liebes Leben“, die kurz nach der Bekanntgabe der Nobelpreisjury in der F.A.Z. als Vorabdruck zu lesen war, macht ratlos. An das Vermeiden markanter Pointen ist man bei Munro gewöhnt, man schätzt diese Eigenschaft sogar, weil dadurch die Geschichten an Subtilität gewinnen. Die Titelgeschichte aber, die über die Kindheit von Alice auf der elterlichen Farm erzählt, verliert sich in mehreren Untergeschichten, von denen eine Episode fast schauerlich wirkt. Am Ende gelingt die Zusammenführung der Erzählstränge nicht, alles bleibt richtungslos.

Auch die drei verbleibenden autobiographischen Stories, „die ersten und letzten – und die persönlichsten − Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe“, so die Selbstaussage der Autorin, haben etwas seltsam Unausgereiftes. Als hätte irgendjemand Alice Munro einen falschen Rat erteilt, der sie dazu verleitete, autobiographisch zu schreiben. „Das Auge“ erzählt von der Liebe des kleinen Mädchens Alice zu seinem schwarzen Kindermädchen Sadie, das bei einem Unfall stirbt. Nach dem Tod Sadies nimmt die Mutter Alice mit zu der Trauerfeier und zwingt die unvorbereitete Tochter, in den offenen Sarg zu blicken. Das schafft Alice nur mit Hilfe eines Tricks, indem sie sich einbildet, die Tote würde ihr zublinzeln. Interessant an dieser Geschichte ist nur der unverhohlene Sadismus der Mutter, die aus Eifersucht auf eine Liebe zwischen ihrem Kind und einem schwarzen Mädchen durchsetzt, dass Alice Sadie für immer zerstört sieht. Nur so meint die Mutter, die Konkurrentin loswerden zu können.

Die Story „Nacht“ stellt das vierzehnjährige Schulmädchen Alice vor, das in einem heißen Sommer unter Schlaflosigkeit leidet. Die Unruhe, die Alice nicht mehr loslässt, hat nur oberflächlich mit der Hitze des Sommers zu tun. Viel mehr quält sie der drängende Wunsch, ihre jüngere Schwester zu erwürgen, die unter ihr im Stockbett liegt. Als die Schlaflosigkeit bis in die Morgendämmerung anhält, beschließt Alice, das Bett zu verlassen und die Nächte draußen auf dem Gelände vor der Farm zu verbringen. Nach einem ihrer vielen nächtlichen Streifzüge trifft Alice auf der Terrasse ihren Vater. Als sie ihm ihre mörderischen Phantasien gesteht, reagiert er sehr gelassen: „Menschen haben Gedanken, die sie lieber nicht hätten. Das passiert im Leben.“ Und tatsächlich funktioniert die Enddramatisierung, Alice kann wieder schlafen. Der springende Punkt der Geschichte, der leider zu kurz kommt, ist der, dass der Vater selbst in einer Krise steckt. Seine Farm ist bankrott, an seiner Frau zeigen sich die Symptome einer schweren, unheilbaren Krankheit. Die realen Schwierigkeiten der Familie scheinen die quälenden Phantasien der Tochter zu vertreiben, obwohl der Vater sie mit keinem Wort ausgesprochen hat. Der Schluss der Story vereint Unvereinbares: Magie und Psychoanalyse. Gehören beide Arten, das Leben zu betrachten, für Munro zusammen?

Stark ist Alice Munro in den Stories, die eine lange Spanne des Lebens beschreiben: eines missglückten Lebens. In dem nicht autobiographischen Teil des Buches gibt es davon einige. Jüngere Leser werden sich weniger von ihnen angesprochen fühlen, obwohl Munro sich bemüht, umgangssprachliche Ausdrücke zu benutzen – vielleicht um das Lebensgefühl der Jüngeren zu treffen. Für ältere Leser sind diese Geschichten ein großer Gewinn, weil Munro das Scheitern im Leben als normal ansieht und Menschen, die offenen Auges bis ins hohe Alter hinein dieselben Fehler machen, nicht pathologisiert.

Eine wunderschöne Geschichte, interessant für alle Generationen, ist Dolly. In ihr treten Munros Klugheit und Ironie besonders hervor. Die siebzigjährige Ich-Erzählerin, die sich mit ihrem Mann Franklin zusammen bereits eine Grabstelle gekauft hat, wird von einer Kosmetikerin aufgesucht, die ihr „irgendeine Lotion“ verkauft. Nach einem zweiten Besuch springt das Auto der Kosmetikerin nicht an und die Werkstatt hat schon geschlossen. Wohl oder übel muss das alte Paar Dolly eine Nacht als Gast aufnehmen. Beim ersten Zusammentreffen der drei in der Küche stellt sich heraus, dass Dolly eine frühere Geliebte Franklins ist. Die Ich-Erzählerin übersteht den gemeinsamen Abend bei Plauderei und einem Essen. Sie hält es mit Dolly sogar eine Zeit lang allein aus, da Franklin sich schon früher zum Schlafen zurückzieht. Auch die Nacht verläuft ohne Anzeichen einer Krise. Beim Aufwachen am nächsten morgen nimmt die Frau als erstes die muntere Stimme ihres Mannes und das Lachen von Dolly wahr, die es sich bei einem Frühstück in der Küche gemütlich gemacht haben. Die Vertrautheit, die in dem Reden und Lachen zu liegen scheint, wird zum Wendepunkt der Geschichte. „Alle Sicherheit und Heiterkeit des Abends hatte mich verlassen“, reflektiert die Ich-Erzählerin. Als sich Franklin dann auch noch bereit zeigt, Dollys Auto in eine Werkstatt zu bringen, und seine frühere Geliebte auffordert, ihn zu begleiten, entgleisen die Gefühle der Ich-Erzählerin vollständig. Allein zurückgeblieben, schreibt sie einen Brief an Franklin, der immer plumper in seinen Anschuldigungen gegen ihn gerät. Sie verwirft den Brief, setzt sich in ihr Auto, verlässt die Stadt und quartiert sich in einer anderen in einem Motel ein, in dem sie sich scheußlich fühlt. Hier wird der Brief frankiert und abgeschickt. Nach einer Nacht, in der sie mit Hilfe von Schlaftabletten zur Ruhe kommt, weiß sie, dass sie „einen schrecklichen Fehler begangen“ hat, und kehrt nach Hause zurück. An Dolly verschwendet sie keinen weiteren Gedanken mehr, bis sie auf der Auffahrt ihres Hauses Dollys Wagen sieht. Noch einmal, in Sekundenschnelle, durchleidet sie die ganze Krise. Als Franklin sich bei ihrer Ankunft auch noch den bösen Scherz erlaubt, anzudeuten, er sei Dolly verfallen, bricht für die Ich-Erzählerin die Welt abermals zusammen. Sobald sie die Situation begreift, heult sie vor Erleichterung. Franklin legt die Arme um sie und erklärt ihr, „wir können uns Kräche nicht leisten“. Sie stimmt dem zu: „Wahrhaftig nicht. Ich hatte vergessen, wie alt wir waren, hatte einfach alles vergessen. Und gedacht, ich hätte alle Zeit der Welt, um zu leiden und zu klagen.“

Neben den biographischen Stories, die vielleicht auch deshalb enttäuschen, weil der Verlag eine hohe Erwartungshaltung geschürt hat, gibt es in „Liebes Leben“ einen beträchtlichen Teil routinierter Erzählungen, von denen man meint, sie schon einmal gelesen zu haben. Sie könnten von Anne Tyler, Joy Williams oder eben von Alice Munro stammen. So geläufig sie erscheinen, so schnell sind sie vergessen.

Alice Munro ist eine Autorin der Menschenstudien. Natur scheint sie wenig zu interessieren. Oft teilt sie ihren Lesern gar nicht mit, wo sich ihre Helden gerade befinden, ob sie in einem Schneesturm dem Mann begegnen, dem sie später verfallen wie Anna Karenina oder in lauen Lüften schaukeln wie Effi Briest, bevor sie von ihren Eltern an einen unmöglichen Mann verheiratet wird. In der Erzählung „Amundsen“ ist das anders. In ihr wird die Spannung von Anfang an durch Naturbeschreibungen erzeugt. „Dann trat Stille ein, die Luft wie Eis. Zerbrechlich aussehende Birken mit schwarzen Flecken auf der weißen Rinde und irgendeine Sorte niedriger, wuscheliger Nadelhölzer, zusammengerollt wie schlafende Bären. Der zugefrorene See nicht eben, sondern aufgeworfen entlang des Ufers, als hätten sich die Wellen im Augenblick des Niedersinkens in Eis verwandelt.“ Ohne die Beschreibung der Landschaft, des tiefen Winters, wäre die Story, die in einem Lungensanatorium spielt, atmosphärelos. Meisterlich verbindet hier Munro die klare, abweisende Natur mit dem absonderlichen Charakter des leitenden Arztes, der der Ich-Erzählerin einen Heiratsantrag macht und ihn ohne Nennung eines Grundes zurückzieht. Die junge Frau verliert durch seine Willkür ihn und ihren Arbeitsplatz. Sie verliert eigentlich alles, nur ihre Liebe zu ihm nicht.

Die Erzählung „Corrie“ zeigt die Autorin Alice Munro auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Hier begegnet der Leser ihrer abgrundtiefen Klugheit, ihrer Hellsichtigkeit, die sich bis hin zu einer gewissen Grausamkeit steigern kann. Corrie, die sechsundzwanzigjährige Heldin der Story, ist körperbehindert. Ihr Vater, mit dem sie zusammen in gesicherten finanziellen Verhältnissen lebt, macht sich Sorgen um ihre Zukunft. Er ist sich im Klaren darüber, dass er seine Tochter nur schwer wird verheiratet können. Diese Sorge teilt er bei erster Gelegenheit seinem Gast Howard Ritchie mit, einem Architekten, der in der Stadt den Auftrag zur Sanierung eines Kirchturms angenommen hat. Howard ist wenig älter als Corrie, „aber schon mit einer Frau und kleinen Kindern ausgestattet“. Aus welchem Grund die beiden sich ineinander verlieben und wie tief diese Liebe geht, teilt Munro nicht mit. Aber das Verhältnis zwischen dem verheirateten Mann und der behinderten Frau dauert über Jahrzehnte an. Mit einer Besonderheit: Corrie muss Howard zwei Mal im Jahr, im Februar und im August, eine größere Geldsumme für eine angebliche Erpresserin geben, die als Gegenleistung Stillschweigen über die Affäre bewahrt. Als diese Frau stirbt, ist Corrie wie befreit. In ihrem Glücksgefühl entwirft sie Briefe: „Die Tage der Erpressung sind vorüber. Der Ruf des Kuckucks hallt durchs Land.“  Howard befindet sich zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie in einem zweiwöchigen Urlaub. Corrie belässt es bei den Entwürfen; sie will nicht riskieren, dass die Briefe in falsche Hände geraten. Die folgende Nacht ist kurz und voller Erkenntnisse. „Sie weiß etwas. Sie ist im Schlaf darauf gekommen.“ Es hat nie eine Erpresserin gegeben. Nach zwei Wochen gehen Kurzmitteilungen zwischen den Liebenden hin und her, in denen Corrie Howard über den Tod der Erpresserin informiert und Howard Corrie versichert: „Jetzt alles gut, sei froh. Bald.“ Das ist ein entsetzliches Ende. Nichts ist ausgesprochen und doch alles festgelegt. Corrie wird weiterhin die Geliebte eines verheirateten Mannes sein, der sich für seine Liebe hat bezahlen lassen. Aber es ist auch das Gegenteil wahr – was für ein Glück, ihn nicht ganz zu verlieren nach all den Jahrzehnten. „Zu spät, um etwas anderes zu tun. Denn es hätte schlimmer kommen können, viel schlimmer.“ Das ist die Lebensphilosophie von Alice Munro.

Titelbild

Alice Munro: Liebes Leben. 14 Erzählungen.
Übersetzt von Heidi Zerning.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
320 S., 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783100488329

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