Back to the future

Jürgen Lodemanns Essen-Krimis

Von Christian JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 5. Mai 1970 fand ihre Beisetzung statt, 1975 feierte sie Auferstehung in einem Buch, das ihren Namen in die Öffentlichkeit trug: Anita Drögemöller und Die Ruhe an der Ruhr. Zwei Jahre danach war auf der Grundlage dieser Geschichte ein ebenso betitelter Film entstanden.

Eine nicht schlechte Karriere für eine Dame aus dem Rotlicht-Milieu, allerdings eine aufgestiegene vom Straßenstrich nach Bredeney, in eine Villa mit allen Schikanen, wie einem Beobachtungszentrum im 1. Stock, die es gestattet, die Vorgänge im darunter gelegenen Geschoss nicht nur zu beobachten, sondern auch zu filmen. In diese Anlage stolpert der Polizist Langensiepen, der sich mit dem Verschwinden einer lokalen Gangstergröße befasst. Innerhalb kürzester Zeit verfällt er der selbstbewussten, wortgewaltigen und lustvollen Anita, die ihm die Augen dafür öffnet, dass es mit der Moral nicht ganz so einfach sei, auch dass ihm sein kleinbürgerliches Familiendasein möglicherweise nicht reiche, wird rasch deutlich. Langensiepen begreift nun die Gangster und die Kunden der Drögemöller aus Industrie und Politik als gleichermaßen widerwärtigen Ausdruck der kapitalistischen Verhältnisse. Und während sich die Stadtlandschaft Essens auch aus der zeitlichen Distanz nachvollziehen lässt, ist der politisch-kulturelle Blick eine echte Zeitreise in die frühen 1970er Jahre. Eine Zeit, in der jedem Auszubildenden klar war, dass der Meister sein natürlicher Feind im Klassenkampf ist, und wer einen Fabrikherren als „Arbeitgeber“ verharmloste, bekam heftigst vermittelt, dass die Kapitalisten die Arbeit nehmen und andere sie geben. Kurzum, an der linken Heimatfront herrschte begriffliche Klarheit und zumindest denkbar war auch eine ganz andere Gesellschaft als die der Ausbeuter, selbst die SPD war nominell noch für demokratischen und internationalen Sozialismus und Verstaatlichungen. Wie fremd ist dieser Blick auf die Klassengesellschaft 40 Jahre später geworden, dabei ist Lodemanns Perspektive nicht theorieschwer-orthodox, sondern kommt mit geradezu selbstverständlicher Leichtigkeit daher, mischt sich in die Figurenrede, in ihren naturalistisch nachgestellten Dialekt und die Liebeserklärungen an denselben. Darüber gerät der eigentliche Fall – Verstrickungen der aufstrebenden Unterwelt mit der nur scheinbar geordneten Oberwelt – fast aus dem Blick. Stattdessen entsteht ein Sittengemälde, das Essens Süden in einer Weise zeigt, wie man es aus Brechts fiktiver Stadt des käuflichen Vergnügens, Mahagonny, kennt. Der Norden dagegen ist noch das Kohle geschwängerte Proletarierterritorium. Der geschichtliche Surplus zu Brechts in den letzten Jahren der Weimarer Republik entstandenen Oper besteht darin, dass Lodemann ausweist, wie die „Wirtschaft“ mit dem Nationalsozialismus zusammenhing und ihre Macht von daher bewahrte.

Anita Drögemöller wird der ganzen Kamarilla schließlich zu gefährlich, nicht zuletzt, da klar wird, dass sie mit dem Polizisten Langensiepen kooperiert, ihm ihre Geschichte (und den Körper) feilbietet. Der Polizist begreift dies allerdings zu spät, weshalb der Roman mit der Prolepse ihrer Beisetzung beginnt. Sprachlich bewegt sich der Autor virtuos zwischen verschiedensten Ebenen, ist voller Freude am Sprachspiel und den daraus sich ermöglichenden Witzen, scheut auch eher slapstickhaften Humor nicht, so wenn der amerikanische „Weiß-Presi“ Anita aufsucht, und diese erst zur Sache kommen will, wenn er gelobt hat, sich für „Peace for Wittnam“ einzusetzen.

Wohl nicht zufällig erinnert die Anlage der Figur an den Fall Nitribitt, dem 10 Jahre später der Fall Matura folgte: Lodemann will an der Nobelhure den grundsätzlich kriminellen Charakter der westdeutschen Gesellschaft bzw. der dort herrschenden Klasse zeigen und auf eine bizarre Art tut er dies höchst vergnüglich.

Das Bizarre rührt aus der Zuwendung zu den Figuren, ihrer Sprache, den Begebenheiten, die sie selbst als Anekdoten verkleiden, damit es weniger wehtut. Und es schmerzt auch weniger, weil Langensiepen im Zuge des Falls sich selbst aufklärt und zur gesellschaftskritischen Avantgarde aufschließt.

Was in diesem Erstling noch mit Bravour gelingt, stellt sich 10 Jahre später als wesentlich schwieriger dar: Langensiepen ist nun Ex-Polizist, war nach dem politisch bedingten Scheitern als Beamter Alkoholiker, ist nun trocken, und wohnt auf dem Dach eines Kaufhauses dicht an dem Ort, den der Roman als Titel setzt: „Essen, Viehofer Platz“. Dort soll im Jahr 1984 der unterirdische Knotenpunkt der Glasfaserkabel für das Kabelpilotprojekt in Betrieb genommen werden, als sich unangenehmerweise eine Leiche in der Baugrube findet. Doch noch unangenehmer stellt sich die politische Lage dar: Die Kohl-Jahre haben begonnen. Gesellschaftskritik ist nun komplett demodé, der Konsumismus feiert fröhliche Urständ‘, die ehemals allerorten spürbare Solidarität der unten gegen die oben ist nur noch bei Einzelnen wahrzunehmen und dies bevor mit der Verkabelung die große Gleichschaltung und Ausschaltung der bilderlosen Kritik beginnt. Langensiepen wird durch eine solche Einzelne, die Kommissarin Roswitha, in den Fall eingeschaltet, da sie fürchtet, dass der Mord vertuscht wird, um den Start des privaten Rundfunks nicht zu gefährden. Ihre Sorge ist begründet: Der Mord am illegalen Gastarbeiter wird als Unfall kaschiert und auf der Suche nach der Wahrheit dringt Langensiepen immer tiefer in einen Essener Sumpf aus Korruption, Menschenhandel und Prostitution ein, der zwanglos die kriminelle Geschichte des Krupp-Unternehmens miterzählt. Und auch wie desolat der Widerstand dagegen geworden ist. Die an sich stark idealisierten Frauen sind zwar immerhin libertin, aber weltanschaulich eher auf matriarchale Esoterik gestimmt, ein paar Freaks organisieren Piratensendungen, nur bei den ausgebeuteten Migranten findet sich die alte Haltung der Arbeiterschaft, die in ihrer deutschen Form tendenziell chauvinistisch geworden ist. Fast alle haben sich verkauft und angepasst, nur die Randexistenzen wie Huren und Alkoholiker und Kommunisten sind nicht vereinnahmt. Und das Schreckensbild, gegen das der Roman anschreibt, ist die Gesellschaft verkabelter Wohnzimmer, in der die Menschen nicht mehr aufeinander treffen. Und man muss sagen, gemessen an Lodemanns Prognostik ist sie eher noch schrecklicher geworden, obgleich Langensiepen sich am Ende opfert und den Knotenpunkt sprengt.

Begründete Lodemann mit dem einen Roman den sozialkritischen und sprachkünstlerischen Regionalkrimi, beendet er ihn mit dem zweiten auch schon, denn mit dem Zerfallen einer gesellschaftlichen Opposition ist für diese Art Krimi kein wirklicher Platz mehr vorhanden. Conny Lens wandelte auf Lodemanns Spuren und schuf in den ausgehenden 80er Jahren einen ironischen hard-boiled Detektiv, der nun nicht mehr aufklärt, sondern zur Not auch auf krummen Wegen versucht Gerechtigkeit im jeweiligen Fall herzustellen, vgl. dazu die Serie um die „Steeler Straße“. In einer der Auflagen trug Lodemanns zweiter Krimi den richtungsweisenden Untertitel „Die letzte Revolution“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jürgen Lodemann: Essen, Viehofer Platz oder Langensiepens Ende.
Diogenes Verlag, Zürich 1985.
567 Seiten, 0,00 EUR.
ISBN-10: 3257016816
ISBN-13: 9783257016819

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Titelbild

Jürgen Lodemann: Anita Drögemöller und Die Ruhe an der Ruhr. Roman.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2007.
288 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783898616966

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