Die Kunst der leisen Töne

Paola Sorigas Roman „Wo Rom aufhört“ erzählt von den Ängsten und Hoffnungen im faschistischen Italien während des Zweiten Weltkrieges

Von Christopher HeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Heil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Zweite Weltkrieg und die Shoah sind sicherlich nicht nur in literarischen Texten äußerst heikle und sensible Themen. Wie schwer es ist, den richtigen Ton zu treffen, ja, das zeigt das Scheitern verschiedenster Menschen aus der Politik oder dem Literaturbetrieb – von all den Stammtischhistorikern ganz zu schweigen. Wie man nicht über die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts spricht und damit umgehen sollte, hört und liest man leider oft genug. Glücklicherweise geht es auch anders – und das zeigt Paola Sorigas Debüt „Wo Rom aufhört“.

Der Roman handelt von der 17-jährigen Ida zur Zeit der italienischen Resistenza Ende Mai 1944. Der Leser wird durch den unvermittelten und zunächst enigmatischen Einstieg direkt in die Handlung geworfen: „Seit zwei Tagen kommt niemand. Seit zwei Tagen nur das Geräusch der Mäuse und ihres Atems, das manchmal sehr laut wird wegen der Angst.“ Ida versteckt sich in den Höhlen außerhalb Roms vor den Faschisten, die sie anscheinend verfolgen, weil sie für die Partisanen die „l’Unità“ abtippt und verteilt. Wie eine Gefängnisinsassin ritzt sie Striche für die Anzahl der Tage in den Stein – und sie wartet und erinnert sich. Sie singt gegen die Einsamkeit vor sich hin – um sich selbst und, ohne gehört zu werden, den Partisanen Mut zuzusprechen. Eine beunruhigende und beklemmende Stille umgibt sie: „Das Geräusch, das ihre Gedanken erzeugen, […] kennt sie inzwischen, das der Angst ist stumm und dicht und geht nicht weg, und sie wartet auf den Morgen, so als ob er das Ende von allem brächte.“

Es dauert eine kurze Zeit, bis man sich in dem Text mit all seinen Zeitsprüngen zurechtfindet. Zudem werden viele Figuren in rascher Folge kurz vorgestellt, deren Bedeutung sich dann zusehends erschließt. Nach und nach fügt sich alles wie ein Mosaik zusammen und man erfährt, was zuvor geschah. Langsam führt der Text zu dem Punkt hin, an dem die Vergangenheit in die Zukunft übergeht.

Was war also davor? Als zwölfjähriges Mädchen zog Ida im Jahr 1938 zu ihrer acht Jahre älteren Schwester Agnese und ihrem faschistischen Schwager Francesco nach Rom in den Teil Centocelle. Zu viele Kinder hat die Familie in Sardinien, die Schulbildung musste Ida schon frühzeitig zum Leidwesen ihres Lehrers, der von ihrer Klugheit überzeugt war, zugunsten der Arbeit aufgeben. Mit dem Wegzug nach Rom kann sie nun wieder die Schule besuchen, freundet sich mit Rita und der Jüdin Micol an, die sie mit Rom und der Literatur vertraut macht. Die Spannungen mit Francesco, der im italienischen Innenministerium arbeitet, sind vorprogrammiert: „Flausen“ habe Ida im Kopf – nur weil sie denkt und lebt.

Es verwundert nicht, dass so etwas den Faschisten gar nicht gefallen kann: Denn zu groß ist die Angst vor der Bevölkerung, dass sie das Unrecht und die Verbrechen des totalitären Systems entlarvt und dagegen aufbegehrt. Die Mittel des Terrors und der Unterdrückung sind bekannt: Es folgten Verhaftungen, Deportationen, Hinrichtungen und eine Vergeltungsmaßnahme der Deutschen, bei der 335 Menschen hingerichtet und in einem Graben verscharrt werden. Ida bekommt all das mit, sieht die Toten im Graben und beobachtet aus der Ferne das Verschwinden Micols und ihrer Familie. Die Menschen in der Stadt werden immer weniger und die heimliche und gefährliche Unterstützung der Partisanen erscheint als das einzig Richtige.

„Wo Rom aufhört“ zeigt die Ängste und Hoffnungen in der Resistanza, die schicksalhaften Ereignisse in Idas Leben und in ihrem Umfeld sowie das sehnsüchtige Warten auf die Befreiung durch die Amerikaner. Es ist ein Roman über den Widerstand, über Freundschaft, Trauer, Verlust und die erste Liebe Idas zu Antonio. Die Furcht und beklemmende Unsicherheit vor weiteren Verhaftungen, Morden und dem Misstrauen vor Spionen und deren Verrat begleiten das Leben im faschistischen Italien. Die Tragödie des Alltags und die weltpolitische Katastrophe des Zweiten Weltkrieges sind untrennbar miteinander verwoben. Die Einflechtung von historischen Ereignissen in die Handlung gibt eine gute Orientierung, an welchen Tief- und Wendepunkten der Geschichte man sich befindet.

Die 36 kurzen Kapitel treiben sehr verdichtet und fokussiert die Handlung voran. In einer beeindruckend nüchternen Sprache schreibt die 1979 geborene Soriga über die Geschehnisse in Italien während des Zweiten Weltkrieges. Sie verzichtet auf das große Drama, was dem Text sehr zugute kommt. Die leisen Töne, die Aussparungen und die lakonischen Kommentare bestimmen den Roman. Nicht die großen Beschreibungen und Erklärungen, sondern die Leerstellen, das Unausgesprochene und Nicht-Gesagte verleihen dem Text seine Bedeutungsschwere. Lässt man sich auf diese klare Sprache ein, wird „Wo Rom aufhört“ zu einem bedrückenden Stück Literatur, das die Stimmungen und die Atmosphäre eindrucksvoll einfängt und beschreibt. Die Gedanken und die Rede der Figuren werden unauffällig und ohne gekennzeichnete wörtliche Rede in den Erzählerbericht eingebettet, damit der Text nicht zu laut wird. Selbst wenn die Erzählinstanz die Figuren vereinzelt mit einem „Du“ anspricht, entsteht in den Zeiten des Schreckens keine Nähe.

Am Ende ist der Krieg vorbei und neben der Erleichterung bleiben die gemischten Gefühle bei den Gedanken an die Tage, „die noch bevorstehen, und man muss von vorn anfangen, ohne zu wissen, wo man anfangen soll.“ „Wo Rom aufhört“ ist ein stilles Requiem für die Widerstandskämpfer und die vielen gestorbenen und getöteten unschuldigen Opfer. Der Schrecken ist vergangen, doch die Heimsuchung der Toten beginnt erst.

Titelbild

Paola Soriga: Wo Rom aufhört.
Übersetzt aus dem Italienischen von Antje Peter.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.
156 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132581

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch