„Die Scheiße in Würde hinnehmen.“

Helene Hegemann setzt ihre poetisch intensive Darstellung der Wohlstandsverwahrlosung fort – in ihrem zweiten Roman „Jage zwei Tiger“ ist sie dort am besten, wo sie den ersten weiterschreibt

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man einen Roman angemessen beurteilen, wenn man ihn als Nachfolgeprodukt eines phänomenalen und heftig diskutierten Erstlingswerks wahrnimmt? Die Frage kann im Fall Helene Hegemanns auch umgekehrt formuliert werden: Käme ihrem 2013 erschienenen zweiten Roman „Jage zwei Tiger“ dieselbe Aufmerksamkeit zu, wenn ihm nicht der skandalumwitterte Erfolg ihres Romandebuts „Axolotl Roadkill“ vorausgegangen wäre? Der Adoleszenzroman der damals 17-jährigen war von der Literaturkritik vor vier Jahren zunächst hymnisch gefeiert worden, bevor eine in der Sache weitgehend unbegründete Plagiatsdebatte entbrannte. Der Vorwurf lautete, Hegemann habe ganze Textpassagen den Aufzeichnungen eines Berliner Bloggers entlehnt. In der Diskussion ging teilweise unter, dass es sich nur um marginale Textübernahmen gehandelt hatte und das Strukturprinzip der Zitatcollage im Roman selbst zudem offen reflektiert worden war. In späteren Auflagen wurden die Vorlagen, an denen sich die Autorin orientiert hatte, im Anhang aufgelistet.

In „Jage zwei Tiger“ findet sich erneut ein eineinhalb Seiten langer Quellennachweis, in dem vor allem innerhalb des Romans zitierte oder paraphrasierte Pop-Songs verzeichnet sind. Sollte sich diese Form der Akribie durchsetzen, droht Generationen von Intertextualitäts-Forschern die Arbeit auszugehen. Gut nur, dass sich Hegemanns Schreiben zusätzlich immer noch aus nicht nachgewiesenen intertextuellen Verweisen speist, wie etwa in Reminiszenzen an Textzeilen von Element of Crime. Anders ist Zeitgenossenschaft, ist die Aufladung eines Texts mit ‚kultureller Energie‘ kaum denkbar. Sven Regener wird es gelassen hinnehmen – und die Plagiatsjäger unter den Kritikern hoffentlich auch.

Wie in „Axolotl Roadkill“ gelingt Hegemann auch in „Jage zwei Tiger“ ein intelligentes und poetisch intensives Porträt ihrer Generation. Wieder stehen Jugendliche im Mittelpunkt, die unter den Krankheiten ihrer Zeit leiden – und damit, den im Roman dargestellten Menschen mit einer Behinderung vergleichbar, ganz gut klar kommen. Die Romanfiguren leiden unter Drogensucht, unter Bulimie, Beziehungsproblemen und unter dem peinlich-komischen Verhalten ihrer ‚Szene‘-Eltern, die ihnen erstaunlich ähnlich sind und mit all ihren Makeln oft sympathisch erscheinen. Die Drogenprobleme sind generationsübergreifend, und in ihrer spätpubertären Weigerung, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, übertreffen die Eltern ihre Kinder häufig noch. In einem Traum scheint es dem Protagonisten Kai, dass sein „halbseidener“ Vater „ihn gleichzeitig retten und von ihm gerettet werden“ wolle. Zwischen Erwachsenen und Jugendlichen kommt es notgedrungen zur Komplizenschaft. Vom Verlobten der Frau, mit der sein Vater eine „Fickaffäre“ hat, wird Kai mit den Worten: „wir werden die Scheiße in Würde hinnehmen“ zur Solidarisierung aufgefordert. Dass trotz aller biografischen Katastrophen Vertrauen möglich ist, geht auch aus den Worten hervor, die eine Mutter zum Abschied an ihre Tochter richtet: „Ich erwarte nichts. Zieh deinen Scheiß durch, ich weiß, dass du das hinkriegst, probier alles aus, meld dich nicht zu oft bei mir, und komm zurück, wenn du nicht mehr kannst.“

Hegemann liefert ein Bild, das sich eher durch Abgeklärtheit und Altklugheit als durch Dramatik oder Melancholie auszeichnet. Es handelt sich um die genaue Beschreibung einer späten, aufgeklärten Generation der Postmoderne: „was sie trugen, spielte mit Bezugnahmen. Adrette Seitenscheitel, Bomberjacken, Rock’n Roll zitieren, die chauvinistischen Überbleibsel aus der Hippiezeit verachten. Die Mod-Haltung. Der Skinheadstammbaum. Der Punk. Das mit Sektfrühstück zu assoziierende Yuppietum. Die Statements gingen ineinander über und wurden zu einem Querschnitt aller je dagewesenen Jugendbewegungen.“

Diese Abgeklärtheit ist es, die – bewusst penetrant – Hegemanns Stil prägt. Sie häuft Klischees auf und weiß, dass sie damit recht hat. Zu Höchstform läuft sie auf, wenn sie eine Person mittels einer Suada maliziöser Vorurteile charakterisieren kann. Man ist im Bilde, wenn eine Frau als „eine breithüftige Mittdreißigerin“ vorgestellt wird, „die Silvana hieß und aussah wie eine bourgeoise Nagelstudiobesitzerin, blond, dünn, ein bisschen mit Kunst zu tun und offenbar auf mehreren Edelgestüten aufgewachsen.“

Allerdings wird dieser scharfsichtige Zynismus in Hegemanns neuem Roman nicht mehr wie in „Axolotl Roadkill“ in Form eines radikalen stream of consciousness präsentiert. Vielmehr sind die Schilderungen eingebettet in eine Geschichte um eine jugendliche Zirkusartistin, die Kais Mutter durch einen von einer Autobahnbrücke geworfenen Stein tötet und in die sich Kai verliebt, als er ihr zufällig begegnet. Das wirkt nur halb wie eine reizvolle Versuchsanordnung, halb aber wie ein bewusst romanhaftes Handlungsgerüst. Das Motto „Wenn du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll. Jage zwei Tiger“ kehrt sich in gewissem Sinne gegen den Text. Wo er in der mühsam konstruierten Romanhandlung zwei Tiger jagt, besteht die Gefahr eines glanzlosen Gelingens (oder Misslingens). Glanzvoll ist Hegemann, wenn sie obsessiv einen Tiger jagt.

Titelbild

Helene Hegemann: Jage zwei Tiger. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
315 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243675

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